Martemjan N. Rjutin – „Nicht auf den Knien!“

 „Stalin und die Krise der proletarischen Diktatur“ („Rjutin-Plattform“)

Das antistalinistische Programm russischer Bolschewiki von 1932

erstmals auf deutsch

Über Martemjan Nikititsch Rjutin, den großen bolschewistischen Revolutionär, habe ich im Blog wiederholt geschrieben, u. a. hier und hier. Erst spät, nämlich erst im Juli 2016, habe ich von ihm erfahren. (Ein Zufall war diese Verspätung nicht.)

Erste Information und weiteren Zugang zu Rjutin fand ich durch das Studium des sechsbändigen Geschichtswerks von Wadim S. Rogowin „Gab es eine Alternative?“. Rogowin, der immer noch ungenügend rezipiert wird (bei Kosing z. B., der verdienstvoll über Stalinismus und Aufstieg und Untergang des Realsozialismus schreibt, spielt Rogowin keine Rolle), hat Rjutins Wirken vor allem im Band II („Stalins Kriegskommunismus“, Moskau 1993, Seite 296ff) ausführlich dargestellt und zwar so gründlich, dass, nach meinem Erkenntnisstand, bis heute keine wesentlich darüber hinausführenden Erkenntnisse publiziert wurden. Zur Bedeutung Rogowins gibt es auf WSWS sachkundige Beiträge hier und hier.

Doch zurück zu Rjutin.

Lenin hob in seiner letzten Arbeit „Lieber weniger, aber besser“ (Werke Band 33) hervor, was der weitere Fortschritt der Revolution unbedingt erfordere (Seite 476):

„Dazu ist notwendig, daß die besten Elemente, die es in unserer sozialen Ordnung gibt—nämlich: erstens die fortschrittlichsten Arbeiter und zweitens die wirklich aufgeklärten Elemente, für die man bürgen kann, daß sie kein Wort auf Treu und Glauben hinnehmen, kein Wort gegen ihr Gewissen sagen werden —, sich nicht scheuen, jede Schwierigkeit einzugestehen, und vor keinem Kampf zur Erreichung des Zieles zurückschrecken, das sie sich ernsthaft gesteckt haben.“ 

Es erscheint so, als habe Lenin Rjutin direkt vor Augen gehabt. Doch beide kannten sich nicht persönlich. Rjutin, Jahrgang 1890, war zwar alt genug sofort 1917 aktiver Bolschewik in Führungsfunktionen zu sein (in seiner Irkutsker Heimatregion), jedoch war er zu jung, um direkt im Zentrum der Sowjetmacht zu agieren. Er war Delegierter des X. Parteitags, 1921 (Sturm auf Kronstadt) und arbeitete von 1924 bis 1928 als Parteisekretär eines Moskauer Stadtbezirks. In den Fraktionskämpfen jener Jahre stand er entschieden und tatkräftig auf Stalins Seite – aus Überzeugung, wie sich zeigen sollte, nicht aus Opportunismus.

In seiner Funktion begegnete er Stalin mehrfach persönlich. 1928 fiel er dadurch auf, dass er sich gegen Stalins Unfehlbarkeitsgebaren und die Aushebelung der Parteidemokratie wandte und dabei aus Lenins „Brief an den Parteitag“ die dort gegebene Charakterisierung Stalins zitierte (Lenin, Werke Band 36, Seite 577 ff). Er wurde gemaßregelt.

Zur Durchsetzung von Stalins abenteuerlicher Zwangskollektivierung wurde Rjutin 1929 mit Parteiauftrag nach Ostsibirien geschickt. Zurückgekehrt löste sein Bericht Stalins Empörung aus (was diesen aber nicht hinderte, Einschätzungen Rjutins für taktische Zwecke zu nutzen). Im ersten Halbjahr 1930 kam es auf Stalins Veranlassung zu intensiven Begegnungen Stalin-Rjutin, in deren Ergebnis Stalin an Molotow schrieb: „Dieses konterrevolutionäre Gesindel muß man bis zum Ende entwaffnen.“

Rjutin schlug den Weg des entschiedensten Kampfes gegen Stalin und seine verräterische Politik ein. Im September 1930 wurde er aus der Partei ausgeschlossen, wurde im November 1930 verhaftet, kam im Januar 1931 wieder frei. Er konzentrierte fortan seine ganze Kraft auf den theoretischen und praktischen Kampf gegen Stalin, für die Überwindung der Krise der proletarischen Diktatur. Dies ist auch der Titel des von ihm ab März 1931 erarbeiteten programmatischen Dokuments „Stalin und die Krise der proletarischen Diktatur“ (bekannt als „Rjutin-Plattform“), das zur geistigen Grundlage der antistalinistischen Untergrundorganisation „Bund der Marxisten-Leninisten“ wurde.

Dieser Bund wurde 1932 konspirativ gegründet (unter den Gründungsmitgliedern drei Mitglieder der Petrograder Proletarierfamilie Kajurow, die Lenin persönlich kannte und außerordentlich schätzte). Ein Appell an alle Mitglieder der KPR wurde beschlossen. Bereits 1932 wurde der Bund zerschlagen, Rjutin (entgegen Stalins Forderung auf Todesstrafe) „nur“ zu 10 Jahren verurteilt, 1937 aus dem Gefängnis heraus erneut angeklagt und hingerichtet. Auch Rjutins Frau, zwei Söhne, sein Bruder überlebten Stalins Lager nicht. Einzige Überlebende war die Tochter Ljuba, die bis 1990 vergeblich um die Rehabilitierung ihres Vaters kämpfte.

Ich bewundere den Mut, die revolutionäre Tatkraft und Standhaftigkeit bis zur Selbstaufopferung dieses großen Menschen, seine unerschütterlicher Treue zu den humanistischen Idealen der Revolution, seine Souveränität gegenüber allen Korrumpierungsversuchen. Bewundernswert sind aber auch seine theoretische Gewissenhaftigkeit und Weitsicht, die ihn, der keine akademische Bildung besaß, bereits 1930 bis 1932 zu der (neben Trotzkis Arbeiten) kühnsten und gründlichsten marxistisch-leninistischen Stalinismuskritik befähigte.

Der erwähnte „Aufruf an die Mitglieder der KPR“ vom 21.8.1931 („Brief Rjutins“) liegt in deutscher Übersetzung vor (9 Seiten). Die Arbeit „Stalin und die Krise der proletarischen Diktatur“ („Rjutin-Plattform“) hat einen Umfang von etwa 140 Druckseiten. Bis heute ist sie nur in Form einer Kopie zugänglich, die die stalinistischen Untersuchungsorgane benutzt haben (dies, nebenbei gesagt, wirft ein Licht auf die bis heute bestehenden Grenzen der Öffnung der sowjetischen Geheimarchive). Erstmals wurde die „Rjutin-Plattform“ 1992 in Moskau in diesem Sammelband veröffentlicht:

Inzwischen ist dieser Sammelband „Auf den Knien werde ich nicht stehen“ online verfügbar. 

Seit Langem ist es mein Wunsch, wenn nicht den ganzen Sammelband, dann doch zumindest Rjutins Studie „Stalin und die Krise der proletarischen Diktatur“ den deutschen Leserinnen und Lesern zugänglich zu machen. Mein schulrussisch setzt mir aber arge Grenzen. Mit Unterstützung von Dr. Doris Rentzsch wird hier im Blog nach und nach in loser Folge die  „Rjutin Plattform“ in autodidaktischer Übersetzung deutsch erscheinen.

Unser Vorhaben soll dazu beitragen, den großen Revolutionär dem von Stalin und seinen Helfern verfügten absoluten Vergessen zu entreißen und für ihn einen Gedächtnis- und Denkraum zu öffnen. Vielleicht gelingt es mir darüber hinaus, die einzelnen Postings mit einigen kommentierenden und reflektierenden Überlegungen zu begleiten, die Rjutins Kampf in Beziehung setzen zu ungelösten Fragen unseres Menschseins, die uns bis auf den heutigen Tag bedrängen.

Fundstück – 4.1.2018 – Stalinscher Terror: ein Mikrobild

Das Heft 83 der „Pankower Vorträge“ (Berlin 2006) trägt den Titel „Zwangsarbeit in Workuta“ und ist von Wilfriede Otto verfasst (mit Vorbemerkungen von Wladislaw Hedeler). Darin wird u. a. das Schicksal des KPD-Funktionärs Max Menzel (1903-1996) geschildert, der seit 1931 im Auftrag der Partei in der Sowjetunion lebte und in der Industrie, in einer Versuchswerkstatt, arbeitete. Er war gelernter Werkzeugmacher, wurde Obermeister einer Arbeitsgruppe von 20 Deutschen und fünf Russen, nahm 1935 die sowjetische Staatsbürgerschaft an und wurde Mitglied der KPdSU.

Seine deutschen Kollegen, die nicht Mitglieder der KPdSU und sowjetische Staatsbürger geworden waren, wurden im Januar 1937 nach Deutschland ausgewiesen. Am 20.7.1937 wurde Max Menzel im Rahmen der „deutschen Operation“ verhaftet. Damit begann sein Leidensweg durch viele Stationen stalinistischer Repression, der erst im Juni 1955 mit seiner Ankunft in der DDR endete.

Was geschah mit den Genossen seines unmittelbaren Umfelds zum Zeitpunkt seiner Verhaftung? Wilfriede Otto schreibt (Seite 19):

„Aus seinem unmittelbaren Umfeld von neun Genossen im Werk 3 wurden am 3.11.1937 zwei erschossen, vier wurden ausgeliefert, von zwei Deportierten starb einer während der Fahrt, einer fiel 1938 in Spanien.“