In meinen Auseinandersetzungen mit neustalinistischen Auffassungen sind mir immer wieder zwei Argumentationsmuster begegnet. Beide sind sehr, sehr einfach (um nicht „primitiv“ zu sagen), und beide werden auch von akademisch gebildeten Menschen verwendet. Es sind extrem schwache Argumentationstechniken, auf die aber unerbittlich zurückgegriffen wird. Das verdient festgehalten zu werden.
1A – Es wird die NEUARTIGKEIT des vertretenen Stalinismus behauptet. Es wird von bisher geheimen, jetzt zugänglichen Dokumenten gesprochen, die der betreffende Forscher ausgewertet habe. Dabei sei er zu neuen Erkenntnissen gekommen, die bisherige „Etikettierungen“ (sic!) über den Haufen würfen.
Solchen Behauptungen bin ich am Beispiel des neustalinistischen Machwerks „Die Sowjetdemokratie und Stalin. Theorie und Praxis in der Sowjetunion 1917 – 1953“ im Einzelnen nachgegangen.
Ergebnis: Der Kaiser – Kubi ist sein Name – ist nackt. Aber er wurde und wird in die Arena geschickt. So wird am 4.11.2017 erneut eine wissenschaftliche Konferenz („Der Zukunft wegen“, in Heidenau bei Dresden) dem Tausendsassa lauschen, diesmal zu: „Aufbau der Planwirtschaft, Kollektivierung der Landwirtschaft, Industrialisierung, Klassenkampf“. Eine Phalanx von Organisationen lädt ein: KPD, GRH, RFB, offen-siv, Deutscher Freidenker Verband, Kommunistisches Aktionsbündnis Dresden.
1B – Eine abgewandelte Version der unterbliebenen Auswertung neuer Dokumente ist der Rückgriff auf „aller-, allerneueste Dokumente“, die freilich auch sieben Jahre nach ihrer erstmaligen Präsentation durch Duma-Abgeordnete der KPRF (S.N. Reschulskij W.I. Iljuchin) den Status wahrscheinlicher stalinistischer Fake-News nicht losgeworden sind.
Was wir hier – 1A und 1B – erleben, ist im Grunde eine ideologische Position der Faktenlosigkeit, eine Position der MISSACHTUNG SOZIALER TATSACHEN. Das ist das Gegenteil von dialektischem bzw. historischem Materialismus. Es ist Glaubenslehre in weltlichem Gewand.
2 – Das zweite erwähnenswerte Argumentationsmuster ist etwas anspruchsvoller. Es besteht grob gesagt darin, ausführlichst auf Fragen zu antworten, die gar nicht gestellt sind und dadurch die eigentlichen Fragen, wenn nicht positiv zu beantworten, dann wenigstens vergessen zu machen. Klassiker dieser Technik ist Grover Furrs „Chruschtschows Lügen“.
Mir ist kein ernsthafter Stalinismuskritiker bekannt, der nicht die Begrenztheit und Halbherzigkeit der Stalinkritik des XX. Parteitags festgestellt hätte. Buchstäblich schon „am Tag danach“ fragten die wachen Leute: „Personenkult – das soll es gewesen sein?“. Nun aber, 50 Jahre später, kommt ein Drachentöter daher und lässt keinen Satz Chruschtschows auf dem anderen und … putzt so das Stalinbild. Welch eine Farce!*** Und wie sie die nach Bestätigung Lechzenden befriedigt!
Kubi klagt in ähnlicher Weise bürgerliche Stalinkritik an, die von mehr oder weniger hohen zweistelligen Opferzahlen Stalins ausgeht. Er setzt dagegen, dass sich die Opferzahlen nicht in den Reproduktionszahlen der sowjetischen Gesamtbevölkerung widerspiegeln würden, dass viele Todesurteile nicht vollstreckt worden seien, dass es viele Kulaken, Kriminelle und Arbeitsscheue getroffen hat (als ob diese kein Recht auf Leben hätten). Am Ende denkt der gutwillige unbedarfte Zuhörer, dass da eine zwar schmerzhafte aber letztlich gesunde Massenreinigung stattgefunden hat.
Die wissenschaftliche Analyse des stalinistischen Terrorsystems, zu der nicht nur Marxisten Leninisten, sondern auch bürgerliche Wissenschaftler solide Beiträge geleistet haben, kommt bei solchen neustalinistischen Apologeten nicht vor. Nicht nur die Kubis, auch Großwissenschaftler üben sich in dieser Ignoranz. Losurdo bringt es in seinem Stalin-Buch fertig, Rogowins Standardwerk „Gab es eine Alternative“ ganze zweimal zu erwähnen (davon einmal verfälschend). Der Historiker Rogowin, so die gleich zweimal mitgeteilte Erkenntnis, sei ein „begeisterter Anhänger Trotzkis“ gewesen. Anscheinend legt der in Sowjetgeschichte agierende Philosoph Losurdo Wert darauf, dass das erste Wort des sich damals, 1923, herausbildenden Stalinismus zugleich der letzte Schrei des Neustalinismus ist.
*** Nicht unerwähnt sei, dass es in der Furr-Farce zumindest EINEN bemerkenswerten Satz gibt. Da geht es plötzlich um nicht weniger als das gesamte Werk von Marx, Engels und Lenin. Allzu leicht könnte er überlesen werden, denn es ist der vorletzte Satz des ganzen Opus:
„Demzufolge muss irgendetwas in Lenins Werken und in den Werken der großen Lehrer Lenins, Marx und Engels, die Fehler gefördert haben, die Lenins ehrlicher Nachfolger Stalin in aller Ehrlichkeit beging und die wiederum Stalins unehrlichen Nachfolger Chruschtschow in die Lage versetzten, seine Betrügereien und seinen Verrat zu verdecken.“
(„Nicht gewusst!“, liebe Alt- und NeustalinistInnen, gilt also nicht.)
Während man sich hier an Stalin abarbeitet – oder auch nicht -, tobt der „Kulturkampf“ in der Berliner Schaubühne: „Lenin“ hatte am Freitag dort Weltpremiere.
Lesenswert zwei Rezensionen aus ganz unterschiedlichen Richtungen, jedoch beide kritisch:
https://de.sputniknews.com/kultur/20171021317960166-lenin-inszenierung-schaubuehne/
http://www.wsws.org/de/articles/2017/10/21/leni-s21.html
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Ich hatte gelesen, was Sputnik schrieb.
Denn alles über Lenin, was Substanz hat, interessiert mich.
Vom sog. Regietheater halte ich wenig.
Das Wirken große Regisseure habe ich geschätzt. „Ritter Blaubart“ von Felsenstein, Inszenierungen im BE, Christoph Schroth
und einige mehr.
Castorf, in seinen besten Zeiten, war nur selten gut.
Fast alles, was ich vom „Regietheater“ mitkriege, ist albern und überflüssig.
Kein Grund, diesem „Lenin“ auch nur eine Sekunde Beachtung zu schenken.
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Jetzt gibt’s auch noch ’ne lahme Besprechung in der „jungen Welt“.
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