Aus alten Tagebüchern: Eintrag vom 9.12.1965

Der folgende Text wurde wortgetreu aus dem alten Tagebuch übernommen. Offensichtliche Schreibfehler habe ich stillschweigend korrigiert. Unterstreichungen im Originaltext gebe ich hier als Fettdruck wieder.
Links, die ich mitunter zur Erläuterung setze, sind natürlich heute neu hinzugefügt. Zu erläuternde Begriffe, Abkürzungen usw. werden mit einer hochgestellten Zahl nummeriert, die am Ende des Textes zur Erläuterung führt

„Wir brauchen eine neue Stufe der Bündnispolitik, der sozialistischen Demokratie. Welches sollte das Hauptkettenglied sein, um dieses Ziel zu erreichen? Die Partei !!!
Ich komme zu der These, daß ein (der?) politische Knotenpunkt unserer Fehler beim sozialistischen Aufbau ist – Unterschätzung der Rolle der Partei (seit Mitte der 20er Jahre).

Kürzlich war Parteiversammlung mit dem Genossen Markowski, Mitarbeiter beim ZK, zu Fragen der Außenpolitik.
Er hält ein informatives Referat (aber auch nicht mit zu viel Information). Danach „Diskussion“. Unser Institut1 ist eines der drei führenden Philosophischen Institute in der DDR, es ist das größte. Auf die GO2 trifft das Gleiche zu. Das muß man beachten, und dann kann man nur sagen: Welche Schande!
Es wurde eine einfache blöde Fragestunde. Anfragen wurden gerichtet, und der Strahl geheimnisvoller Weisheit ergoß sich schwächer oder stärker, mehr schwächer, in den großen Topf – GO. Pfui Teufel! Deckel drauf.

Es ergibt sich die immerhin bemerkenswerte Tatsache, dass der aufgeschlossene, interessierte, durchschnittlich informierte Genosse (Nein! der schon oder bald mehr oder weniger führende Ideologe) mit seinen Kenntnissen aus dem ND3 zwar über ein prinzipiell richtiges Bild vieler Fragen verfügt aber keine Ahnung von der konkreten realen Widersprüchlichkeit der Erscheinungen hat, nicht diskutieren, sachkundig mitentscheiden kann. Aber wer entscheidet dann?
Und das Problem, das allen auf der Zunge brannte, Apel4, Handelsabkommen SU. Es wurde am Schluß und indirekt danach gefragt. Jeder wußte es wird nach einem Tabu gefragt. Die Antwort war : „tabu“.

Wir brauchen objektiv die Wahrheit. Die Wahrheit ist konkret. Was gewinnen wir durch Unwahrheit? Unsere konkrete Bestimmung der Wahrheit enthält ein Element des Unwahren. Es geht meist nicht allein um die konkrete Fassung des Wahren, sondern zugleich um seine Beschneidung!
Ansonsten einige Gedanken zum Problem Individuum/Gesellschaft, Mensch. Zeichnet sich die Konzeption einer Dissertation ab?“

———————————

1 „Unser Institut“ – Institut für Philosophie der Humboldt Universität zu Berlin, wo ich damals wissenschaftlicher Assistent war.

2 „GO“ – Grundorganisation der Partei SED“ Hierzu erläutert Wikipedia: „Die Parteigruppe bildete die kleinste Organisationszelle der Partei. In ihr wählten die Mitglieder den Parteigruppenorganisator (PGO) als Verantwortlichen für die Parteiarbeit, einen Kassierer, Agitator und, je nach Größe, noch beigeordnete Mitglieder in die Leitung. Waren mehrere Parteigruppen vorhanden, so wurden sie in der Abteilungsparteiorganisation (APO) zusammengefasst, die wiederum eine gesonderte Leitung um den Abteilungsparteisekretär bildete. … Mehrere APOs oder, in kleineren Einrichtungen, oftmals nur eine Parteigruppe bildeten die Grundorganisation (GO), die von einem Parteisekretär geleitet wurden.“

3 „ND“ – „Neues Deutschland“, Parteizeitung der SED, führende Zeitung der DDR.

4 „Apel“ – Erich Apel, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission, hatte sich wenige Tage zuvor erschossen.