„Schließ Aug und Ohr für eine Weil“ (3)

Gedanken in einer verdrehten und gefährlichen Welt
von Mrs. Tapir

I – Wer sagt mir, was ich zu denken habe?
IIDer Faschismus 33 kam auf leisen Sohlen und mit angezogener Handbremse


III Eine erschütternde Entdeckung

Die Frage danach, wie es damals war, als sich in Deutschland der Nationalsozialismus etablierte, lässt mich nicht los. Meine beiden Eltern waren in dieser Zeit Jugendliche und engagierten sich beide in der katholischen Jugend ihrer Heimatstädte Gelsenkirchen und Dresden. Sie waren in diesem Kontext bis zum Kriegsende mehr oder weniger aktiv im Widerstand. Davon haben sie mir viel erzählt.

Ein Lied war mir eingefallen, das meine Mutter oft gesungen hat und das in ihrer Jugend eine große Rolle gespielt haben muss: „Strom der Schwere“, hieß dieses Lied, eine Hymne an den Fluss Elbe.

Ich fand das immer merkwürdig, denn sonst wurde doch immer nur der Vater Rhein besungen. Niemand außer mir kannte es in meinen Kreisen und ihm haftete für mich immer der Geruch von etwas Verbotenem oder Geheimnisvollen an. War das ein Lied der widerständigen Jugend in der Hitlerzeit, fragte ich mich jetzt. Haben meine Eltern dieses Lied deshalb geliebt? Mir selbst kam es – wegen des, wie ich es empfand schwülstigen Textes – eher ein wenig kitschig vor.

Google klärte mich auf:

Das Elbelied „Strom der Schwere“ galt tatsächlich als Erkennungszeichen verfolgter bündischer Gruppen im Dritten Reich, z. B. der sogenannten Südlegion. Dieser Jungenbund Südlegion war damals vor allem in Berlin aktiv ein kleiner, kulturell einflussreicher Verband der Bündischen Jugend. Die Südlegion entstand 1932 durch den Austritt des „Tahoe-Rings“ aus der Ringgemeinschaft Deutscher Pfadfinder. 1934 löste sich die Südlegion offiziell auf, um der Eingliederung in die Hitler-Jugend zu entgehen. Dennoch wurden unter Leitung ihres Bundesführers Rudi Pallas weitere Großfahrten durchgeführt. Der Gruppenstil von Tahoe-Ring und Südlegion unterschied sich stark von dem anderer bündischer Gruppen der 1930er Jahre, die häufig nur die Pädagogik der „Härte“ kannten. Der Wahlspruch des Tahoe-Rings war: „Birg in kälte silberner lilie der rose rote glut“.

Mein Gott, dachte ich, kitschiger geht’s wirklich nicht. Aber immerhin nicht Blut und Boden! Ich las weiter:

Vor diesem Hintergrund beschäftigte sich die Südlegion intensiv mit Literatur, Kunst und Philosophie. Enge Kontakte bestanden zum Beispiel zu den Schriftstellern Jean Giono, Ernst Wiechert, Hans Carossa und André Gide. Eines der Ideale der Südlegion war der Hellenismus. Sie öffnete sich dem Liedgut anderer Völker, das sie auf Fahrten in den Süden Europas kennengelernt hatte. Ganz dem bündischen Denken mit seinen Vorstellungen eines Lebens- und Männerbundes verpflichtet, basieren viele der in der Südlegion entstandenen Lieder auf Texten, die aus dem Kreis um den Schriftsteller Stefan George stammen (unter anderem das auch als „Lied der Weißen Rose“ bekannt gewordene Lied „Schließ Aug und Ohr für eine Weil‘“ von Friedrich Gundolf).“

Aha, dachte ich, also ist das Lied „Strom der Schwere“ wirklich ein Lied aus dem damaligen Widerstandskreisen.

Der Dichter dieses Liedes, so las ich weiter, war ein Friedrich Schnack, „ein deutscher Dichter, Schriftsteller und Journalist, geboren 1888 und gestorben 6. März 1977 in Westdeutschland. Schnack war 1941 Teilnehmer am Weimarer Dichtertreffen, bei dem die Europäische Schriftsteller-Vereinigung gegründet wurde.
Erfolgreicher als mit seiner Lyrik war Schnack mit seinen zahlreichen Erzählungen und Romanen (Romantrilogie der drei Lebens-Alter: Sebastian im Wald, 1926; Beatus und Sabine, 1927; Die Orgel des Himmels, 1927; überarbeitet und zusammengefasst unter dem Titel: Die brennende Liebe, 1935) und – nach dem Zweiten Weltkrieg – mit naturkundlich-poetischen Sachbüchern.
Schnack war nach dem Krieg Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und Mitbegründer der Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Folgende Auszeichnungen erhielt er: 1965 Bayerischer Verdienstorden, 1968 Bayerischer Poetentaler, 1974 Großes Bundesverdienstkreuz.“

Aha, dachte ich. Aber was war mit Schnack zwischen 1929 und dem Ende des 2. Weltkrieges? War er denn tatsächlich mit den Widerstandsgruppen im sogenannten 3. Reich vernetzt?

Bei der weiteren Recherche zum Namen Schnack bin ich im Internet auf den Text eines Treueversprechens (Gelöbnis treuester Gefolgschaft) gestoßen, dass 1933 von 88 deutschen Schriftstellern und Dichtern gegenüber Adolf Hitler abgegeben wurde und dessen Wortlaut zusammen mit der Unterzeichnerliste am 26. Oktober 1933 deutschlandweit in der Presse verbreitet wurde.
„Die Initiative für das „Gelöbnis“ ging von der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste in Berlin aus, nachdem diese im Frühjahr und Frühsommer 1933 handstreichartig umgebaut und mit Anhängern des Nationalsozialismus besetzt worden war und sich kurz darauf in Deutsche Akademie der Dichtung umbenannt hatte. Kurz davor hatten im Frühjahr 1933 in Deutschland Bücherverbrennungen stattgefunden, denen auch die Werke ausgeschlossener Akademiemitglieder zum Opfer gefallen waren.
Am 4. Oktober 1933 hatte die Regierung Hitler zudem das Schriftleitergesetz erlassen, das zum 1. Januar 1934 in Kraft treten sollte und den Weg für die Gleichschaltung der gesamten deutschen Presse frei machte.

In dieser Situation diente der Aufruf dazu, die vorbehaltlose Unterstützung der deutschen Literaten und Geistesgrößen für die äußerst radikale und nach innen wie nach außen einschneidende Politik des Reichskanzlers Adolf Hitler und seiner Regierung öffentlichkeitswirksam zu bekräftigen und dem erwartbaren „Wahlerfolg“ der Nationalsozialisten, die bereits alle anderen Parteien ausgeschaltet hatten und auf einer Einheitsliste antraten, auf diese Weise das Feld zu ebnen.“

Die 88 Unterzeichner erklärten:

Friede, Arbeit, Ehre und Freiheit sind die heiligsten Güter jeder Nation und die Voraussetzung eines aufrichtigen Zusammenlebens der Völker untereinander. Das Bewusstsein der Kraft und der wiedergewonnenen Einigkeit, unser aufrichtiger Wille, dem inneren und äußeren Frieden vorbehaltlos zu dienen, die tiefe Überzeugung von unseren Aufgaben zum Wiederaufbau des Reiches und unsere Entschlossenheit, nichts zu tun, was nicht mit unserer und des Vaterlandes Ehre vereinbar ist, veranlassen uns, in dieser ernsten Stunde vor Ihnen, Herr Reichskanzler, das Gelöbnis treuester Gefolgschaft feierlichst abzulegen.“

Der Text klingt im ersten Moment harmlos. Aber immerhin hatten kurz davor die Bücherverbrennungen stattgefunden und Leute wie Ina Seidel, Agnes Miegel, Oskar Loerke, Gottfried Benn mussten zumindest geahnt haben, was da auf die deutsche Kultur und das deutsche Volk hereinbrechen würde. Ich kann es nicht glauben! Was ist da passiert? Wie ist es möglich, dass 88 deutsche Schriftsteller sich zu diesem Gelöbnis bereitfinden? Wie konnte es in so kurzer Zeit dazu kommen, dass denkende, intelligente Menschen sich damit arrangieren konnten, dass geistiges Eigentum von Kollegen öffentlich verbrannt und geschändet wurde? Oder hatte solches Gedankengut schon vor 1933 Wurzeln in vielen Hirnen geschlagen? Die NSDAP hatte sich von einer kleinen Splitterpartei mit 2,6% Wählern innerhalb von wenigen Jahren zur stärksten Partei mit 36% der Wähler entwickeln können.

Oder war es schon so weit, dass es vor allem Angst war, die sie dazu bewegte, vielleicht nicht Angst vor Verfolgung, aber Angst davor, ihren Ruf einzubüßen, von den staatstragenden Behörden missachtet und nicht gefördert zu werden? Denn so fängt es an.

Wie man weiß, gab es auch Schriftsteller, die diesen Weg nicht gegen sind. Viele wie Brecht, Feuchtwanger, Mann sind emigriert. Andere haben versucht, die Luft anzuhalten und nicht anzuecken, sich aber auch nicht hineinziehen zu lassen wie z. B. Hans Fallada, der sich in der Zeit des Nationalsozialismus versuchte, auf Kinderbücher zu beschränken.

Warum waren die anderen so leicht zu kriegen?

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IV – Der nächste Schreck: Die WissenschaftlerInnen ließen sich genauso einfangen

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