Für Zersetzung? Für Desintegration?

Alle Welt redet von „Integration“. Besonders, wenn es um Migranten geht, scheint Integration die Lösung aller Probleme zu sein. Wenn ein Flüchtling paar Sätze Deutsch radebrecht („zur Pflegekraft reicht’s“), wenn er sechs, sieben oder zehn Stunden arbeitet, für Mindestlohn (oder weniger), dann ist die Welt schon ziemlich in Ordnung. „Gefährder“ ist er hoffentlich nicht, und wenn er demnächst Kirchensteuer zahlt, feiert unsere „christlich-jüdische Leitkultur“ Triumphe.

Bin ich integriert?

Wenn ich in der Sauna mitkriege, wie sich Mitschwitzende über eine Talk Show ereifern, wenn irgend ein Hashtag Tausende bei Twitter elektrisiert, wenn eine „Bild“-Schlagzeile…, kommt mir fröhlich Villon in den Sinn; „beneidenswert, wer frei davon“.

Tatsächlich, ins Universum der MSM bin ich kein bisschen integriert. Desintegration in den riesigen Bereich der „vierten Gewalt“! Darf ich das als verantwortungsbewusster Bürger? Ist das vielleicht sogar geboten, Informationshygiene?

Da kommt mir ein Dichterwort gelegen. Theodor Weißenborn äußert es im „Rotfuchs“ (den Wikipedia einen „schauerlichen Mix – von der Verherrlichung der Staatssicherheit bis zu Hetze gegen den Staat Israel“ nennt). Im Heft August 2017 bricht Weißenborn eine Lanze für – Zersetzung!

„Literatur ereignet sich – anders als viele Studienräte glauben – nicht in der raum- und zeitlosen Sphäre des Idealen. Literatur ereignet sich am genauen historischen Ort. Sie ist bezogen auf gegenwärtige Realität, die gesellschaftliche Realität, in der wir leben, mit der wir es tagtäglich zu tun haben, und kein Bereich dieser bedrücken­den und provozierenden Realität ist der Literatur unwürdig. Literatur ist geistige Aktion in der Zeit, sie spricht hinein in eine konkrete gesellschaftliche Lage und sucht mit den Mitteln der Aufklärung die bestehenden Verhältnisse zu ändern. Ihre Aufgabe ist demnach nicht Verherrlichung, sondern Kritik, Kritik an den offenbaren oder verschleierten gesellschaftlichen Übeln, und das Nahziel dieser Kritik heiße: Zersetzung.

Ich wähle dieses Wort sehr bewußt, und ich meine damit: Zersetzung der Schein-Werte, der Un-Werte, die unsere Gesellschaft in veralteten Institutionen durch reaktio­näre Personen propagiert, also Zersetzung dessen, was der Zersetzung bedarf und was nichts anderes als Zersetzung verdient.“

Und Weißenborn wird konkret. Seine Worte, sagt er, mögen „ätzen wie Salzsäure“:

„Zersetzt werden müssen die autoritären Strukturen dieser Gesellschaft, die Willkür und die Stupidität der Be­hörden, …

Zersetzt werden muß unsere Bereitschaft, persönliche Verantwortung zu delegieren, unsere schweigende Zustimmung, mit der wir die staatlichen Mordmaschinerien ölen, …

Zersetzt werden muß die Flucht in den Rausch, in den Drogenkonsum, die Bewußt­seinstrübung, die uns als Bewußtseinserweiterung verkauft wird. …

Zersetzt werden muß die moralische Korruption jener Militärseelsorger, die als Hand­langer kirchlicher und staatlicher Machtpolitik Gewissensbildung in Richtung auf Kampfbereitschaft und Einsatzfreude manipulieren, …

Zersetzt werden muß die NPD, zersetzt werden muß die AfD – ja, freilich –, aber zer­setzt werden muß vor allem die weniger auffällige und darum gefährlichere antidemo­kratische Gesinnung zahlreicher Mitglieder der im Bundestag etablierten Parteien, …

Und schließlich: Zersetzt werden muß der Zynismus karitativer Hilfe, soweit den für die soziale Not Verantwortlichen die Verantwortung dadurch abgenommen wird, …“

Zersetzung, Desintegration, das erinnert an: „Macht kaputt, was Euch kaputt macht“. Bilder steigen auf von sogenannten „Revolutionären 1. Mai-Demos“, splitterndem Glas, brennenden Autos.

Am Allerwenigsten geht es darum!

Viel mehr geht es um die geschmeidigen, fast gar nicht schneidenden, teils unsichtbaren, teils glänzenden Fesseln, die wir uns selbst täglich schnüren! Fesseln der „sensationellen Information“, des „süßen Konsums“, des „ultimativen start ups“, des scheinpolitischen Aktivismus, des Lebens als „Thrill“.

Aufklärung über das Herrschafts- und Ausbeutungssystem, das uns einsaugt – seine modische Bezeichnung ist „Matrix“ – und Zerreißen der uns fixierenden Verbindungen – darum geht es! Heute greifen diese Bindungen – anders als im klassischen Faschismus – NICHT OHNE UNSER ZUTUN. Und durch UNSERE BEWUSSTE ENTSCHEIDUNG werden sie gekappt.

Kann ich das allein? Kann ich mich von ALLEM losreißen? Viele Fragen, tausend Implikationen. Die Zeitung kann ich bestellen oder abbestellen. Den Fernseher kann ich einschalten oder in den Sperrmüll geben. Die Partei, der ich nur halb vertraue, kann ich wählen oder ich wähle sie nicht. Ich „ziehe mir Pornos rein“ oder ich spreche mit einem Menschen.

Ich kann anfangen. Schritt für Schritt erproben, tausend kleine Entscheidungen kann ich treffen; anfangen.

Reiße ich mich los von den Bindungen an’s System, verliere ich mit der Fessel zugleich jeden Halt. Als isoliertes Individuum, Monade, Staubkorn bin ich hilfloser, denn je. Meine bewusste Desintegration verlangt zugleich die bewusste Integration in eine Gemeinschaft. Ich nenne sie Gemeinschaft revolutionärer Sozialisten Solche Gemeinschaften könnten die Macht erlangen, die gesamte, komplexe, widersprüchliche Gesellschaft zu gestalten. Revolutionären Sozialismus hat es wirklich gegeben, und es gab ihn nur als UNMITTELBAR BASISGESTÜTZTEN SOZIALISMUS. So und nur so, als UNMITTELBARE BASISVERKÖRPERUNG, hat er die Zukunft für sich.

Dieses kleine Posting korrespondiert mit der Reihe „Nachdenken mit Lenin“, die andernorts beginnt.

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3 Antworten zu Für Zersetzung? Für Desintegration?

  1. sabinescheffer schreibt:

    Super, toller Text mit intelligenten gedanklichen Anregungungen zur geistigen Beweglichkeit.

    Da ich aus dem Westen komme, muss ich das, gemäß meiner westlichen Erziehung prinzipiell trotzdem Scheisse finden – von den Rotfuchs Leuten lernte ich einige persönlich kennen und muss sie trotzdem – gemäß meiner westlichen Sozialisation, selbstverständlich Scheisse finden, weil ich sonst bedauerlicherweise NICHT MEHR auf dem Boden der westlichen Werte stehen kann , ich bin durch irgendwas verdorben und habe den Boden der westlichen Wertvorstellungen verlassen – soviel dazu …..

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  2. Bernhard Meyer schreibt:

    „Zersetzt werden muß die NPD, zersetzt werden muß die AfD – ja, freilich –, aber zer­setzt werden muß vor allem die weniger auffällige und darum gefährlichere antidemo­kratische Gesinnung zahlreicher Mitglieder der im Bundestag etablierten Parteien, …“

    Dem möchte ich hinzufügen oder entgegenhalten diesen Satz aus einem Artikel von Peds Ansichten:
    „Wenn wir schon in rechts-links-Schablonen denken wollen, dann sehe ich die AfD stramm rechts und die deutsche Regierung rechtsextrem, …“
    Der Satz ist hier zu finden: https://peds-ansichten.de/2017/05/ungarische-sichten/

    Da habe ich gestutzt, da habe ich nachgedacht, da habe ich begriffen: Seither ist mir die AfD eher egal und „Kampf gegen Rechts“ heißt für mich nun Kampf gegen die NATO-Politik, gegen die Sozialstaatszerstörung, gegen die Entmachtung der Gewerkschaften und gegen Gewerkschaften, die sich das gefallen lassen, gegen Privatisierung öffentlichen Eigentums, gegen die schleichende Machtübernahme der Konzerne, gegen den tiefen Staat usw. Die AfD sehe ich als den Popanz, der mich von den eigentlich Rechtsradikalen ablenken soll.

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