MEIN TAGEBUCH 12. Tag: Moskau-Smolensk

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18. August 2016

Plan des Tages:plan18

22.00 Uhr:

Wir FriedensfahrerInnen…a2

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fuhren von Moskau nach Smolensk und nichts kündigte an, dass wir, inzwischen „freundschaftsgewohnt“, besondere Höhepunkte zu erwarten hätten. Doch „greif‘ hinein ins volle Menschenleben“…

Und wahrlich: Jede Stunde im Bus mit 40 Passagieren, die seit zwei Wochen viele Stunden täglich zusammen sind + einem Unikum von Fahrer, der mal  begeistert (alle), mal nervt (fast niemanden aber mich!) das ist reichlich Menschenleben.

Plötzlich sitzt Einer neben mir, Bernd, der gestern auch auf einem Friedhof war, dem Wagankaer. Er hatte ebenfalls eine spannende Grabsuche hinter sich, langwieriger als meine….

Ich erinnerte mich meiner Gefühle, nachdem ich gestern bei Platonow gewesen war. Soviel heitere Gelassenheit! Plötzlich fühlte ich mich in dem dortigen Moskauer Wohngebiet ganz und gar zu Hause. Ich schlenderte einen Gitterzaun entlang, hinter dem eine alte Frau Unkraut jätete. Bei ihr war ein possierliches Kätzchen, dem ich mit Vergnügen zusah. Die Frau sah es und rief fröhlich: „Sie hilft mir bei der Arbeit!“ Ich ging zurück und sagte, dass ich auch eine Katze habe, und die heiße „Blaubär“, Sie sagte, dass ihre „Mesunge“ heiße oder „Meschunge“. Ich verstand es nicht genau, weil der Frau ein paar Zähne fehlten.a3

Doch nun hatten mich die Zügea4und der Bus und die Zeit schon wieder in eine ganz andere Welt gebracht, eine Welt, in der Bernd neben mir saß und nicht nur froh verkündete, das Grab von Prof. Daschitschew schließlich doch gefunden zu haben, sondern mir auch die friedenspolitischen Arbeiten des Professors ans Herz legte.

Ich wundere mich ein wenig, dass Bernd so vehement auf D. verwies, von dem ich seit Jahren nichts gehört habe. Wikipedia erklärt, dass er Nähe zu Rechtsextremen habe. In seinem Text fand ich keine Hinweise darauf.

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Daschitschew ist mir aus Gorbatschows Zeiten nicht unbekannt. er galt als ein Inspirator von dessen Deutschlandpolitik, die zwar weite Räume eröffnete aber die notwendige Balance und Nachhaltigkeit vermissen ließ.

Bernd verwies besonders auf diesen Vortrag des Professors:

„Immanuel Kant und internationale Beziehungen der Neuzeit“

Der Beitrag ist zumindest insofern nützlich, als er die Kantsche  Position genauer darstellt, differenziert mit den folgenden Hauptelementen und -bestandteilen:

– „Kein Staat darf sich in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates gewaltsam einmischen“.

– „Kein einziger Staat, ob klein oder groß – das hat keine Bedeutung – darf von einem anderen Staat erobert werden“.

– „Kein einziger Staat darf sich im Krieg gegen einen anderen Staat solche Handlungen erlauben, die nach dem Eintreten des Friedens das gegenseitige Vertrauen unmöglich machen“.

– „Die Regierungen müssen für die Reduzierung der Militärausgaben und Rüstungen sorgen. Die stehenden Heere sind allmählich zu liquidieren“.

– „Eine richtige Friedensregelung kann nur eine solche sein, die in sich die Samen eines neuen Krieges nicht enthält“.

Daschitschew diskutiert jeweils, wie in der aktuellen Politik der USA und des Westens überhaupt, die Kantschen Friedensprinzipien verletzt werden. Er spart auch nicht mit Kritik an der sowjetischen Politik, die insbesondere die „Gesetzmäßigkeit der negativen Rückwirkung“ verletzt habe.

Einen Höhepunkt der Friedensdiplomatie sieht D. in der Pariser Charta von 1990:

Nur die Pariser Charta, die von allen europäischen Staaten, den USA und Kanada im November 1990 unterzeichnet wurde und unter den Kalten Krieg einen Schlussstrich zog, konnte eine Friedensordnung in Europa ohne Trennungslinien, ohne Blockstrukturen, ohne fremde Dominanz schaffen. Sie hatte einen völkerrechtlich verbindlichen Charakter und enthielt vorzügliche Prinzipien (Überwindung der Spaltung Europas, gleiche Sicherheit für alle europäischen Staaten, Abrüstung, Förderung der Demokratie in Europa, kein Staat darf sich über das Völkerrecht stellen, von Europa darf kein Krieg mehr ausgehen usw.)

Hier ein Link zur Pariser Charta.

Auf der letzten Seite seines Traktats räumt D. das Scheitern von Gorbatschows (und damit auch seiner, Daschitschews) Deutschlandpolitik ein. Ich kann nicht erkennen, dass er mit diesem Ergebnis ähnlich demonstrativ kritisch umgeht, wie mit den Missetaten früherer Sowjetführer.  Das schränkt den politisch-praktischen Wert seiner Wortmeldung erheblich ein.

Bernd hatte Ausdrucke von D.s Vortrag mitgebracht. Hier ist die komplette Arbeit im Original zu finden. Sie ist lesenswert.

Geschrieben im Bus am Folgetag:

In Smolensk angekommen, melden wir uns im Hotel an. Es trägt den Namen „Touristischer Komplex ‚Rosssia‘ oder so ähnlich und sieht noch schlimmer aus.b3

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Es sieht aus (und duftet, wie ich beim Betreten des Zimmers feststelle) als sei es aus Sowjetzeit übrig geblieben. Auf jeder Etage eine Verantwortliche und Helferin, die ich auch sofort benötige, weil Schlüssel und Schloss meines Zimmers mir absolut nicht gehorchen wollen. (Unverzeihlich, diese eigenwillige Schlüsselversion nicht fotografiert zu haben.) Die Zimmerausstattung ist einfach (was ich manchmal, nämlich dann, wenn nix Entscheidendes fehlt, erfreulich finde). Das Internet ist schnell.

Das Restaurant im Erdgeschoss (das um 22 Uhr schließt) ist ein großer, altmodisch-festlich ausgestatteter Saal. Neben Wandmalerei und durchaus gut ausgewählten Gemälden (russische Landschaftsmalerei) in einigen intimen Nischen seitwärts für kleinere Gesellschaften, entdecke ich mit wachsender Begeisterung immer mehr Holzstelen an den Wänden. Sie sind etwa drei Meter hoch und 30cm breit und über und über mit Schnitzerei bedeckt bzw. sie bestehen aus Schnitzerei– abstrakte Zeichen und Ornamente, jedoch auch stilisierte Köpfe und weitere stilisierte Formen. Es gibt, grob gezählt, 45 solche Stelen und jede ist ein Original. Spontan sage ich: „Diese Schnitzereien sind mehr Wert als das ganze Hotel.“ Ein unerwartetes und weitgehend unbeachtetes künstlerisches Gut. Ich bin begeistert. Allein wegen dieses Schmuckes gehört der Speisesaal unter Denkmalschutz. Dazu passt, wie wir später erleben, dass es in diesem Hotel kein Frühstücksbuffet gibt, sondern das Frühstück vom Ober serviert wird.

Nun einige (schlechte) Fotografien von diesem Ereignis. Ich hatte leider nicht die Zeit, nach dem Künstler zu fragen.

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In unserer geräumigen Hotelanlage befand sich auch ein Kinosaal, in dem eine weitere Pressekonferenz der Friedensfahrer abgehalten wurde. Es redeten wie immer und wie immer gut die „Gesichter der Fahrt“ Rainer und Owe. Eine russische Journalistin bat darum, dass sich auch andere Teilnehmer der Fahrt vorstellen. Gleich ergriffen Einige gern diese Gelegenheit. Diejenigen, die hier mitfahren, wissen, warum sie mitfahren, und sie können es erklären! Ich denke gerade, dass wir dazu viel zu selten Gelegenheit hatten….

(Und – liebe Leserinnen und Leser – erst jetzt, in dieser Minute, fällt mir ein, dass ich als Blogger ja selber „Medium“ bin. Ich selbst hätte jederzeit Kurzinterviews meiner MitfahrerInnen machen und sie posten können. Einfach nicht daran gedacht! Ich ergreife sofort die Gelegenheit, Teilnehmer Prof Meinhard Berger, der gerade vorbeikommt (Ich sitze im haltenden Bus.), um genau solches Kurzinterview zu bitten. Er stimmt zu, und hoffentlich bald werde ich wohl dieses erste etwas chaotische Interview ins Blog stellen.) Da isses.

 

In Smolensk haben wir ebenfalls Blumen an einer Gedenkstätte niedergelegt.b2

Dieses Ritual hat sich nun schon oft wiederholt. Trotzdem ist es immer wieder voller Ernst. Das liegt zum Einen wohl daran, dass Rainer Rothfuß immer wieder unverbrauchte Worte findet, immer wieder neue Nuancierungen ausdrückt und zum Anderen an der tiefen Bedeutung dieser Rituale für unsere Gastgeber, die sich zu Recht auf uns überträgt.

Die Gedenkstätte in Smolensk liegt in einem öffentlichen Park, an dessen Eingang sich ein beeindruckendes Standbild befindet.b1

Es stellt Fjodor Kon dar. Ich bin, wie es sich für den Westeuropäer geziemt, ein weiteres Mal ahnungslos. Aber Google/Wikipedia klären mich auf.

Weitere, jetzt etwas bearbeitete Bilder hier (zahlreiche Doppelungen).

 

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2 Antworten zu MEIN TAGEBUCH 12. Tag: Moskau-Smolensk

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