MEIN TAGEBUCH 11. Tag: Moskau

kopf tagebuch opablog17. August 2016

Der Tagesplan:

Diesmal ist er etwas geschönt, denn er verschweigt die 1 1/2 Stunden Anfahrt zum ersten Termin und ebenso die zwei Stunden Rückfahrt von den Nachtwölfen. Es ist ein extrem anstrengendes Programm. Ich werde morgen an keinem Programmpunkt teilnehmen, warum wird beim Tagebuch vom 10. Tag erläutert und morgen einen freien Tag, einen „Moskaunostalgietag“, einlegen.plan17

Dass ich mir in Moskau einen Tag frei nehmen würde, war halb geplant, halb wollte ich es dem Zufall überlassen. Wie gestern geschildert, entschloss ich mich nun ernsthaft zu diesem freien Tag.

Ich bin in meinem Leben vielleicht 10x in Moskau gewesen, seit 30 Jahren aber nicht mehr. Natürlich wollte ich sehen, wie Moskau heute ist und das nicht nur aus dem Busfenster. Ich wollte aber auch noch einmal meinem Moskau meiner jungen Jahre in der DDR nachfühlen:

Dem Jahr 1958 als ich Walja Kirjuschkina im „Klub Stroiteli“, dem „Klub der Bauarbeiter“, kennenlernte und sofort verschossen war,

dem Jahr 1963 als ich einmal kühn entschlossen war und „wie die Jungfrau zum Kind“ von einer Minute zur anderen zu einem Besuch von „Schwanensee“ mit der schönen Axinia im Nemirowitsch-Dantschenkow-Theater kam (und einem unvergesslichen „Moskauer Abend“ danach).

Oder 1971 als wir auf dem Roten Platz standen und ich Bärbel Hunold (mit ihren rotlackierten Fußnägeln) neckte, dass wir auf dem Roten Platz seien, der rote Platz aber auch auf ihr.

Ich nehm‘ es vorweg:

Die Gegenwart war stärker als die Vergangenheit.

Der Rote Platz war anders, Manege war anders. Voller Verkaufsbuden und in Bau riesiger Tribünen in Vorbereitung auf ein großes Event der internationalen Militärmusik. Im schönen GUM war ich nicht. Dem Lenin-Mausoleum sieht man an, dass Russland eine Entscheidung dazu dem Zahn der Zeit überlassen will. Im Metropol habe ich gespeist, vorzüglich, wie damals, obwohl ich den Haupteingang gemieden habe, vor dem BMW und Mercedesse, einer dicker als der andere, parkten. Ich ging in ein seitlich gelegenes Restaurant, von dem ich erst später bemerkte, dass es ebenfalls zum Metropol gehörte. Mein damaliges Hotel „Ewropa“, schräg gegenüber dem Metropol, habe ich nicht mehr gefunden. Nur die Metro, die doch für enorme Massenmobilität steht, scheint ein Sinnbild absoluter Stabilität abgeben zu wollen. Das Bolschoi wird gerade rekonstruiert. So machte es kein besonderes Vergnügen, in den dort befindlichen Grünanlagen spazieren zu gehen. Dort hat vor mir, dem Deutschen, damals 1958, ein junger Bursche (etwa in meinem Alter), Zigarette schräg im Maul, ausgespuckt, heftig ermahnt von einigen Blumenfrauen, die es gesehen hatten.

Die Gegenwart war stärker.

Damals hatte ich keinen Schimmer von der „Lubjanka“.

Lubjanka

Wann habe ich zum ersten Mal davon etwas, nein, nicht gehört, sondern begriffen? Ich glaube durch Ehrenburgs „Menschen, Jahre, Leben“. Das kann (für mich in der DDR) nicht vor 1978 gewesen sein. Erscheinung des Werks in der BRD bereits 1962-65. Erst heute, während ich Rogowin lese, beginne ich wirklich zu begreifen.

Genug der versuchten Nostalgie.

Mein Tag gestern stand unter einem ganz anderen Stern:

Ich hatte mir vorgenommen, das Grab von Andrej Platonow zu besuchen. Aus der Absicht wurde ein fester Entschluss. Das Grab befindet sich auf dem armenischen Friedhof. Der armenische ist klein, befindet sich aber direkt beim großen Waganker Friedhof. Ungeachtet meiner negativen Erfahrungen von St. Petersburg, ließ ich mich von Google-Maps beraten und suchte mir einen komplizierten aber genau beschriebenen Weg heraus. Beim Versuch, am Belorusski Woksal in einen Nahverkehrszug zu steigen, musste ich fragen, und freundliche Russinnen wiesen mir eine ganz anderen Weg. Google Maps in Russland taugt nichts.

Bald hatte ich den armenischen gefunden. Ja, klein, 2 ha, aber Gräber dicht an dicht. Finde einer die Nadel im Heuhaufen. Ich machte einen langen, ruhigen aber ergebnislosen Suchspaziergang durch die Gräberfelder mit den Lebendigkeit vermittelnden Gedenksteinen. Nun kann ich mich zwar orientieren aber nicht finden.

Zwei Musikanten sitzen da und warten auf trauernde Kundschaft. Sie geben mir den Rat, zur Registratur auf den Waganker Friedhof zu gehen. Und ich habe Glück. Es ist Jemand da, und er kennt sofort Platonow, und er zeichnet mir eine kleine Lageskizze. Zurück im armenischen bedanke ich mich bei den Musikanten. Ich bitte sie, und sie spielen für mich. Mit 100 Rubel für jeden, sind sie unzufrieden, 200 ist besser.

Nun gehe ich meiner Skizze nach. So kurz vorm Ziel steigt meine Spannung. „Wenn jetzt noch etwas schief ginge.“ Dann lese ich tatsächlich „Platonow“. Es ist als hätte ich das jahrelang gesuchte Grab eines großen, geliebten Bruders gefunden. (So war es auch, als ich Hölderlins Grab in Tübingen besuchte.) Immer wenn ich an Grabstätten stehe, die mir viel bedeuten, ist schönes Wetter. Ich verspüre etwas, wie ein Lächeln über der Welt.

 

Viele weitere Bilder hier.

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3 Antworten zu MEIN TAGEBUCH 11. Tag: Moskau

  1. Joachim Bode schreibt:

    Lieber Opa,
    ja, „die Gegenwart war/ist stärker als die Vergangenheit.“
    Ohne Vergangenheit – sprich: Verstehen der Vergangenheit – keine Zukunft.
    Und das wird bestätigt und macht Hoffnung, wenn ich die aufschlussreichen Tagebuch-Berichte lese.
    Alles Gute,
    Joachim Bode

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