Gilad Atzmon? War da ‚was?

* Gilad Atzmon, ein, zwei Tage vor der Karlspreisverleihung, rückte an. Ken Jebsen rückte ab. Ein Zufall? Danach wurde viel geredet, auch von Ken Jebsen. Drumherum.

* Gilad Atzmon erschien in Berlins Mitte und sprach. Niemand hat Skandalöses gehört. Paar Stunden später schnellte ein Sperrwall empor, eine rhetorische „West Bank Barrier“. Rechter Flügel Dershowits, linker Flügel Davidsson, in der Mitte Watzal, Melzer, Verleger – und auch Du, mein Sohn „Rubikon“. Der 2. Zufall oder hatte jemand „die Notbremse gezogen“?

* „Rubikon“ bemerkte Gewitterstimmung und erließ einen wolkigen Appell zur Behutsamkeit. Clara S. fühlte sich zu einem ausführlichen, behutsamen, doch keineswegs wolkigen Diskussionsbeitrag veranlasst. Sie stellte auch einige Fragen. Doch eine Barriere antwortet nicht.

So plötzlich, wie sie entstanden waren, haben sich seitdem die Stürme über allen Wipfeln in ihren Wassergläsern zur Ruhe gelegt.

* Noch etwas? Ja: Die Freidenker, einer der Mitveranstalter des ganzen Unternehmens, entdeckten einen „innerjüdischen Krieg“, aus dem mensch sich besser heraushält. Die meisten verschluckten ihre Zungen, andere fielen in Schockstarre – gemäß ihrer Hymne: „Ich denke, was ich will… Doch alles in der still.“ (Die Macher der NRhZ nehme ich von dieser Beobachtung aus.)

* Mir brachte das alles Erfreuliches, nämlich den Anstoß, Atzmons berühmtes Provokationsbüchlein „Der wandernde Wer?“ kennen zu lernen. Inzwischen habe ich mehrere Passagen mit Gewinn und Vergnügen ein zweites Mal gelesen.

***

In Atzmons Büchlein, schreibt Prof. Mazin Qumsiyeh (S. 242f), sehe er eine Reihe von Memen, von überzeugungskräftigen Ideen, die sich im Denken der Menschen verbreiten, wie nützliche Gene in einer Population. Ich kann ihm nur beipflichten:

  1. Der Begriff „Jüdischkeit“; die Juden seien nicht rassische Gruppe, sondern eine tribalistisch-idologisch-religiöse Gemeinschaft (S. 38, 106, 181f).
  2. Zionismus ist keine koloniale Bewegung mit Zielrichtung Palästina, sondern ein globaler Organismus ohne führendes Zentrum (S. 41ff, 103f, 117, 205ff).
  3. Die unaufgelöste Dualität von Tribalismus und Universalismus bildet das Herzstück der kollektiven säkularen jüdischen Identität (S. 83, 98ff).
  4. Die Coens („a serious man“) würden die der „jüdischen Ghetto“-Geisteshaltung inhärente abnormale Kultur als die Wurzel jüdischen Leidens betrachten (S. 113).
  5. Die säkulare jüdische Interpretation der Auserwähltheit ist auf einen groben, ethnozentrischen, blutorientierten Chauvinismus reduziert (S. 131).
  6. Milton Friedmann und Werner Sombart über die Schlüsselrolle der Juden in der Entwicklung des Kapitalismus (Marx‘ „Zur Judenfrage“ nicht zu vergessen) (S. 142ff).
  7. Rekrutierung der Leidens-Ideologie als eine quasi-religiösen Glaubens, der normale historische Untersuchungen durch gesetzliche Festlegungen ersetzt (S. 182ff, 243).
  8. Israel, die Bibel und Archäologie. Zeitlichkeit (S. 173ff, 215ff).

Diese Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

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Atzmons Werk schreit nach Diskussion. Nach gründlicher wägender Diskussion, nach der Anstrengung des Begriffs, wie des Gewissens – aber nicht nach den ideologischen Veitstänzen der letzten Wochen.

Obwohl Atzmon Marx und Lenin je einmal treffend zitiert, sind ihm Inhalt und Methodik des Historischen Materialismus fremd. Das hindert ihn nicht nur, so meine ich, seine kühnen Gedanken noch zwingender durchzuführen. Vor allem wird so die Suche nach Lösungsrichtungen für die von ihm analysierten Widersprüche und Gefahren eingeengt.

Vielleicht schützt sich Atzmon nicht genügend dagegen, von falschen Freunden vereinnahmt zu werden. Zweifellos stehen Teutonen bereit, das nächste auserwählte Volk auszurufen.

Atzmon wagt es unerschrocken, das Dasein der Judenheit in der Menschheit in all seiner Widersprüchlichkeit kritisch zu prüfen. Ich meine, dass ein vergleichbar radikaler geistiger Zugriff auf das Dasein der Deutschen in der Menschheit überfällig ist. Wir alle spüren, dass die Menschheit in diesen Jahrzehnten irgendwohin geht, irgendwohin muss. Die Leistungen und Traumata aller Klassen und Völker müssen neu begriffen werden, damit ein Weg in die Zukunft deutlicher wird. (Und ja: Ich meine ausdrücklich auch die Traumata der Deutschen, die keinesfalls den herrschenden Gewalten von A (wie AfD) über A (wie Allparteienblock) bis A (wie Antifa) überlassen werden dürfen.)

Ich glaube, dass Atzmon ein „Türöffner“ für geistigen Fortschritt ist. Aber es scheint aktuell, dass „alternative“ Medien, wie „Nachdenkseiten“, „Rubikon“ oder „KenFM“, in dieser Frage Vorbehalte haben. Doch die „Hauptverwaltung für ewige Wahrheiten“ (wie Havemann einst sagte), ist abgeschafft. Wir brauchen kein Zentralorgan, und wenn sich „kleine Zentralorgane“ etablieren und uns enttäuschen, dann, in Gottes Namen, hindert uns nichts, ohne ihren Segen zu diskutieren.

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9 Antworten zu Gilad Atzmon? War da ‚was?

  1. Clara S. schreibt:

    Apropos ‚Geisteshaltung‘: Ich selbst habe zeitlebens „die Verachtung für die Protestantin in mir sorgfältig herausgearbeitet“ (das sagte Atzmon angeblich über den ‚Juden in sich‘), z.B. in Bezug auf die Ablehnung von Lebensfreude (weiß mein protestantisches Erbe gleichwohl zu schätzen und kann es ja auch gar nicht ablegen, unabhängig vom ‚verlorenen Glauben‘).
    Apropos ‚normale historische Untersuchungen‘: Mit Abhandlungen über ‚was ist es am Deutschtum, das die Deutschen in zwei Katastrophen geführt hat?‘ kann man Regale füllen, die Info-Kanäle senden gnadenlos tagelang Filme über die Themen ‚deutsche Mentalität‘ und ‚Hitlers Persönlichkeit‘. Da gab es auch von außen keine vornehme Zurückhaltung und etwa den Verweis auf einen ‚innerdeutschen Dialog‘. Mit Recht, schließlich war ja fast die ganze Welt betroffen. Wer wie Gilad Atzmon ähnliche Fragen jedoch für das Judentum stellt, auch wenn von der Politik Israels durchaus nicht nur Juden betroffen sind, gilt heute als Anti-Semit. Dabei befindet er sich in bester Gesellschaft: Albert Einstein schrieb 1929 an Chaim Weitzmann, den ersten israelischen Staatspräsidenten, dass wenn Juden nicht mit Arabern friedlich zusammenleben könnten, „dann haben wir aus den 2000 Jahren unserer Leidensgeschichte nichts gelernt“. https://forward.com/news/325189/what-was-einsteins-relationship-to-judaism-and-zionism/

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  2. Theresa Bruckmann schreibt:

    Alle Beiträge hier um Gilad Atzmon habe ich mit großem Interesse gelesen und gehört.
    Eine klare Meinung dazu habe ich bisher noch nicht gewonnen. Dazu müsste ich sein
    Provokationsbüchlein „Der wandernde Wer?“ einmal selbst lesen.
    Hier liegen 5 Bücher, die ich unbedingt lesen will, Gilad Atzmon ist (noch) nicht dabei.
    Gleichzeitig passieren so viele Dinge, wie die Rhetorik im Vorfeld der Münchner Sicherheitskonferenz, die ja schon im Februar ‚droht‘ und bisher hat es immer unmittelbar
    davor eine Schippe mehr an Eskalation gegeben. Das Thema Rüstungsexporte in Krisengebiete. Dazu Gabriels Ankündigung einer europäischen eigenständigen Außenpolitik,
    die ja so wie er sie andeutet, höchstens offiziell neu ist. Dann die Verunsicherung um die ‚Sozialunion‘ – gestern sah ich Bilder aus Rumänien und solche von den Kanarischen Inseln, dann noch aus Griechenland – alles Dinge, die dringlich sind. Dann natürlich die Diskussion um die Zukunft der Arbeit (Arbeitszeitverkürzung – Prof. Bontrup, Grundeinkommen auf der anderen Seite). Als Ökonomin spricht mich das ganz besonders an. Das so ungefähr sind auch die Themen der neuesten Ausgabe ‚Videos der Woche‘ hier:

    Videohinweise der Woche


    Muss ich mich jetzt entschuldigen, weil ich mir noch nicht die Zeit für Gilad Atzmon nahm?
    und muss Ken Jebsen sich entschuldigen, weil er – keine Ahnung, vielleicht nur momentan –
    (noch) nicht bereit ist, sich mit Atzmon so ausführlich auseinander zu setzen, wie die Diskutanten auf dem Blog hier meinen, dass er das tun müsste?
    Übrigens vom ersten Gespräch KenFM mit Petra Wild dauerte es mehr als ein Jahr und einige
    ‚vertrauensbildende‘ Aufsätze von ihr, bis ich sie schätzen gelernt habe.

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    • Clara S. schreibt:

      Warum sollte sich jemand entschuldigen, wenn ein Thema nicht ihr / sein Thema ist?
      Da gibt es noch viele andere Menschen, die das Thema Atzmon im Vergleich zu anderen Themen unwichtig finden. Ich bin schon lange vor der Debatte um die Preisverleihung auf seine Bücher gestoßen. Für mich waren und sind das wichtige Denkanstöße zu Themen, die mich schon lange bewegt haben. Deswegen habe ich so empfindlich auf die m.E. unfairen Anschuldigungen gegen ihn reagiert, ohne zu wissen, dass das so ein vermintes Gebiet ist, und ich dadurch Reaktionen hervorrief, die ich gar nicht erwartet hatte, schon gar nicht von den Leuten, die so reagierten. Das hat bei mir großen Widerstand hervorgerufen. Schon seit frühester Jugend bin ich empfindlich, wenn mir jemand verbieten möchte, mit den „Schmuddelkindern“ zu spielen. Ich bleibe weiterhin an dem Thema, und es ist an denen, die die Debatte wichtig finden, diese auch so fortzuführen, dass andere diese Beurteilung teilen.
      Franz-Josef Degenhardt: Spiel nicht mit den Schmuddelkindern

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  3. Theresa Bruckmann schreibt:

    Die Beurteilung wichtig / unwichtig ist mir noch nicht einmal möglich, solange ich
    mich nicht auf ein Thema eingelassen habe. Es ist aber doch wunderbar eingerichtet,
    dass ein jedes Thema auf Menschen trifft, die sagen, „das interessiert mich schon
    lange“ oder „das traf einen Nerv bei mir und ich musste sofort handeln.“.

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  4. Schlüter schreibt:

    Mir bleibt nur ein Hinweis hierauf:
    “Botschaft für das Neue Jahr: Hütet Euch vor Fragmentierung!”: https://wipokuli.wordpress.com/2017/12/31/botschaft-fuer-das-neue-jahr-huetet-euch-vor-fragmentierung/
    Neujahrsgrüße

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  5. Neo L. schreibt:

    clickbait-Überschrift. – schwach, wenn man sich Traffic über den „großen Namen“ eines anderen zu generieren versucht…

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