Eine bemerkenswerte Mail von Herrn Keiner

Herr Keiner schreibt Geschichten. Manchmal kommt eine Mail und kündigt eine neue an. Herr Keiner bevorzugt es, selbst zu denken. Er tut das mit Sorgfalt. So war es auch heute. Die neue Geschichte ist überschrieben mit:

Über die Berliner Demonstration: „EUROPA.ANDERS.MACHEN.“

Und sie geht so:

„Bei einem Gang durch die Stadt traf Herr K. auf eine alte Bekannte, mit der er schon des Öfteren gut und ausgiebig diskutiert hatte. Diese holte einen Flyer aus ihrer Tasche und sagte: „Dies ist der Aufruf zu einer Demonstration in Berlin gegen die europäische Flüchtlingspolitik und den verordneten Sparkurs gegenüber Griechenland. Eigentlich wollte ich an dieser Demo teilnehmen, doch nach genauerem Lesen des Aufrufs bin ich zu der Auffassung gelangt, dass die vorgetragene Kritik an der europäischen Politik nicht in die richtige Richtung geht. Sie befasst sich gar nicht mit den Gründen für den menschenverachtenden Umgang mit den Flüchtlingen, die Europa zu Tausenden im Mittelmeer verrecken lässt. Und auch der verordneten Verarmung der griechischen Bevölkerung wird jede politische Logik bestritten. Es wird ganz einfach behauptet, dass dies nicht im Interesse Europas sein könne. Und schon ist man fertig mit der Sache, um sich dann selbst auf der Demo als die Vertreter eines ‚solidarischen Europa‘ in Szene zu setzen und einem ‚anderen Bild von Europa‘ Raum zu geben. Das finde ich ärgerlich.“

Dazu sagte Herr K., nachdem er den einseitigen Demonstrations-Aufruf gelesen hatte: „Sie haben Recht, die Organisatoren dieser Veranstaltung verwenden keine Mühe darauf zu ermitteln, welche Gründe das europäische Staatenbündnis dafür hat, so rabiat mit asylsuchenden Ausländern und der Mehrheit der griechischen Bevölkerung umzuspringen. Es fällt auf, dass die Verfasser des Aufrufs immer nur das, was Europa tut, mit demvergleichen, was es nach ihrer Meinung eigentlichtun sollte. Und schon ist die ganze Analyse fertig. So wie in diesem Satz aus dem Aufruf: ‚Statt der einst gepriesenen Werte von Vernunft, Gerechtigkeit, Freiheit und Demokratie herrscht der technokratische Wahnsinn.‘

Diese Aussage ist Unsinn. Denn da muss man in diese von Europa ‚gepriesenen Werte‘ schon etwas Menschenfreundliches hineinlesen wollen, um der aktuell betriebenen europäischen Politik den Vorwurf zu machen, sie vergehe sich an den eigenen, von ihr propagierten Werten. Doch in Wahrheit hat die Politik Europas nie einen Zweifel daran gelassen, dass es nicht die Bedürfnisse der Menschen nach Arbeit und Lebensunterhalt sind, nach denen sie sich richtet. Sondern diese Bedürfnisse haben sich nach den wirtschaftlichen Erfordernissen zu richten. Was im Klartext bedeutet: Dem Interesse am erfolgreichen Geschäftemachen hat sich alles unterzuordnen. Für die Mehrheit der Menschen in Griechenland heißt das: Die Ausgaben für ihren Lebensunterhalt müssen drastisch gesenkt werden, um dem Land so unmissverständlich klar zu machen, dass der Euro-Kredit nicht dafür da ist, den Verlierern der europäischen Konkurrenz nach deren Vorstellungen aus der Patsche zu helfen. Also womöglich noch der linken Syriza-Partei dabei zu helfen, das gegebene Wahlversprechen einzuhalten, die Sparmaßnahmen auf Kosten der Bevölkerung zu beenden.

Und für die Flüchtlinge aus Afrika oder sonst woher heißt das: Euer Interesse am Überleben zählt für uns nicht, für eure Arbeitskraft haben wir keine geschäftsdienliche Verwendung. Ihr habt da zu bleiben, wo ihr herkommt. Egal, was das für euer zukünftiges Leben bedeutet.“

„Tja“, meinte die Bekannte darauf nachdenklich, „ich kann schon nachvollziehen, dass es den kritischen Anhängern der ‚europäischen Idee‘ nicht leicht fällt, diese kompromisslose Härte der realen europäischen Politik in einer Weise zur Kenntnis zu nehmen, dass Europa eben so und nicht anders funktioniert. Ich selbst habe mich damit in der Vergangenheit auch nicht leicht getan. Doch am Fall Griechenland lässt sich klar ermitteln, dass Europa mit aller Entschlossenheit das Ziel verfolgt, das Vertrauen der Finanzmärkte in ihr Gemeinschaftsgeld, den Euro, zu sichern und weiter auszubauen. Denn mit der ökonomischen Potenz dieses Geldes steht und fällt nun mal die ganze Macht, die dieses Bündnis der europäischen Staaten seit seiner Gründung aufgebaut hat. Deshalb ist es auch so fatal, diese Zwecksetzung der europäischen Politik – wie es in dem Demonstrations-Aufruf geschieht – als Ausdruck eines ‚technokratischen Wahnsinns‘ darzustellen, um auf diese Weise der bemerkten Härte der politischen Maßnahmen jede polit-ökonomische Rationalität abzusprechen.“

„Das sehe ich auch so“, sagte Herr K., der Aufruf trägt leider nichts bei zur Aufklärung über die politischen Zustände, die zu Recht als ‚erschreckend‘ angeprangert werden. Aufklärung ist aber dringend notwendig, um sich begründet Klarheit darüber zu verschaffen, dass man es in der europäischen Politik nicht mit verrückt gewordenen Abweichlern von der europäischen ‚Idee‘, sondern mit deren konsequenten Vollstreckern zu tun hat.“

„Da fällt mir in diesem Zusammenhang ein“, sagte daraufhin die Bekannte, „dass es in der neuen Ausgabe der Zeitschrift ‚GegenStandpunkt‘ einen Artikel gibt, der genau und ausführlich erklärt, warum von der Union der Europäer dieses harte Exempel an Griechenland statuiert wird. Und warum das nach wie vor propagierte Ziel der ‚Sanierung‘ des Landes mittlerweile einer anderen inhaltlichen Zielsetzung folgt als der, Griechenland im eigenen nationalen Interesse wieder ‚wettbewerbsfähig‘, also kapitalistisch ‚gesund‘ zu machen.“

„Dieser Empfehlung kann ich mich nur anschließen“, meinte Herr K. Die vorliegenden Argumente müssen vermehrt unter die Leute kommen. Denn über die Ziele der Europäischen Union wird in der demokratischen Öffentlichkeit nur Gutes und Schönes vermeldet.“

© HerrKeiner.com  15. Juni 2015

Opa ergänzt: Der erwähnte Artikel von „Gegenstandpunkt“ ist hier zu finden.

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2 Antworten zu Eine bemerkenswerte Mail von Herrn Keiner

  1. Vernon schreibt:

    Da wurde unserem NSA-Untersuchungsausschuss im Bundestag ein kleiner Denkzettel verpasst!
    Aber unsere Presse sucht die Hacker in Moskau! Dümmer gehts nimmer! Man müsste 1 und 1 zusammenzählen können!

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