Friedensbewegung: Die Orientierung erneuern

Hier hatte ich geschrieben und zu begründen versucht, dass die traditionelle deutsche Friedensbewegung neoliberal „gefangen“ ist. Wesenszüge und erst recht etwaige Krisenmomente des Neoliberalismus führen daher zu „Merkwürdigkeiten“ oder auch Krisenmomenten dieser Friedensbewegung. (Ich lasse zunächst beiseite, dass es immer Aktivisten und Gruppen der Friedensbewegung gab und gibt, die sich dieser Anpassung verweigert haben und verweigern. Mensch betrachte nur diese Liste der Unterzeichnerpersonen und -gruppen des Appells von Freidenker/Arbeiterfotografie „Sagt NEIN, ächtet Aggressionen, bannt die Weltkriegsgefahr!“)

Neoliberalismus und amerikanischer Neokonservatismus sind seit Jahrzehnten eng verbunden. Und gerade aus aktuellem Anlass ist es dringend, die Dialektik dieser beiden Gesellschafts-, Politik- und Strategiesysteme gründlich zu erforschen. Das kann nicht beiläufig erledigt werden. Trotz des augenblicklichen Mangels entscheide ich mich für bestimmte Grundeinschätzungen, weil ich sie für eine bessere Orientierung der Friedensbewegung und die Eröffnung neuer Aufbruchsperspektiven notwendig finde:

  • Der Neoliberalismus verlangt in seiner Konsequenz notwendig die Neocon-Politik (nicht nur in den USA), also eine maximal aggressive, letztlich extremistische Politik. Damit gehört, obwohl weiter repräsentativ-demokratisch, „medial-demokratisch“ verfasst, die Nutzung faschistischer Potentiale grundsätzlich zu seinem Arsenal.
  • Das Selbstverständnis neoliberaler Hauptländer/Herrschaftssysteme, etwa USA und Israel, basiert auf der Überzeugung ihrer gottgegebenen Überlegenheit („Exzeptionalität“ der USA, „erwähltes Volk“ der Juden.) Das ist zumindest der Embryonalzustand einer Herrenmenschen-/Untermenschenideologie. Jede Herrenmenschen-/Untermenschenideologie ist, wenn nicht selbst faschistisch, so doch faschismuskompatibel.
  • Neoliberalismus erzwingt die warenförmige Verfügbarkeit ALLER Werte, um sie sich auf dem Wege des postmodernen Konkurrenzkampfes (der mit „freier Konkurrenz“ nichts zu tun hat) einzuverleiben. Der Neoliberalist kennt nur Fressfreunde. Er unterwirft sie seiner finanziellen, juristischen, medialen, politischen, militärischen, tendenziell also totalen Macht.

An dieser Stelle zwei Äußerungen „der Klassiker“:

„Je ein Kapitalist schlägt viele tot.“ (Marx)

„Es ist nicht Sache der Sozialisten, dem jüngeren und kräftigeren Räuber… zu helfen, die älteren, sattgefressenen Räuber auszuplündern. Die Sozialisten haben den Kampf zwischen den Räubern auszunutzen, um sie allesamt zu beseitigen.“ (Lenin)

Ich fürchte, wer an solchen Worten klebt, d .h. sie nicht in ihrer Abstraktheit, wie auch ihrem historischen Bezug begreift, verfehlt unsere Wirklichkeit. Marx bezieht sich auf den Kapitalismus von vor 200 Jahren, Lenin auf den vor 100 Jahren. Beide haben Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung unter den damaligen Bedingungen erfasst. Aber Geschichtsautomatismus und gar für alle Zeit haben sie nicht behauptet.

Marx spricht aus großer theoretischer Höhe. Mit dem durchdringenden Interesse des Wissenschaftlers verfolgt er die antifeudale, antiständische, gegen die Grenzen der Vergangenheit gerichtete Dynamik des aufstrebenden Industriekapitalismus. Der Imperialismus heute in seiner aggressivsten Ausprägung hat alle diese Grenzen längst überschritten (z. T. auch konserviert, gar reanimiert, wenn es in seinem Geschäftsinteresse lag). JETZT stößt er an die Grenzen des Lebens überhaupt – an die physischen Grenzen der Natur des Menschen und der den Menschen umgebenden Natur, an die elementaren sozialen Eingrenzungen des Lebens der Individuen und Menschengruppen (Paarbeziehung, Familie, ethnische oder/und nationale Zugehörigkeit, Regionales, historische Erfahrung/Kultur). UND er kollidiert mit den Interessen jener Kapitalisten, die ihre Profite INNERHALB der genannten Grenzen machen. Plötzlich dürfen wir nah vor Augen erleben, wie Kapitalist A („Opfer“) gegen Kapitalis B („Totschläger“) ums Überleben kämpft.

Lenin analysiert den Kampf jüngerer und älterer imperialistischer Räuber zur Neuaufteilung der Welt, gegen die gleichermaßen die revolutionäre Kraft des Proletariats zu richten ist. Wir heute erleben den Kampf des um totale Macht (totale Aneignung der Welt, unbedingt auch mittels Krieg) ringenden extremen imperialistischen Räubers gegen nichtimperialistische Mächte, die ihre Existenz und ihre Interessen verteidigen; auch sie kapitalistische ausbeuterische Mächte, sie aber bereit zur Respektierung von Grenzen, die eine friedliches/kooperatives Zusammenleben der Menschen ermöglichen. In diesen Kampf tritt derzeit keine revolutionäre, zielklar für eine Systemalternative kämpfende, Kraft auf. Sie ist als Idee der menschlichen Emanzipation nicht tot, sie wird zunehmend vermisst, existiert aber zur Zeit weder als stimmige Theorie, noch Ideologie, noch Organisation.

Noch einmal zugespitzt: Die vor hundert Jahren real existierende Grundstruktur des gesellschaftlichen Antagonismus – Bourgeoisie und Proletariat im existentiellen Konflikt, der in Russland mit Hilfe des Wirkens der leninistischen Partei zur sozialistischen Revolution geführt hat, ist heute verschwunden oder mindestens bis zur Unkenntlichkeit überformt. Der Inhaltskern dieses Antagonismus war die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen.

Auch heute existiert ein antagonistische Grundstruktur der menschlichen Gesellschaft, und es stehen Klassenkräfte im existentiellen Konflikt: Einerseits die extremistische, die Kriegsfraktion der Bourgeoisie mit dem Ziel der totalen weltweiten, militärgegründeten Herrschaft („Unipolare Welt“), andererseits die auf Begrenzung, Kooperation, Interessenvielfalt und -ausgleich  orientierte Fraktion der Bourgeoisie („Multipolare Welt“). Die Gegensätzlichkeit beider Pole ist nicht ausschließlich ökonomisch (also ökonomistisch) zu erklären. Sie kann nur im komplexen historischen Gewordensein (also historisch materialistisch) begriffen werden. Und es gereicht den deutschen Freidenkern zu Ehre, frühzeitig und wohlbegründet genau diesen Standpunkt vertreten zu haben, hier und besonders hierIm Schlepptau beider Pole befindet sich relativ passiv der potentiell größte Machtfaktor – das Volk, die Masse der Ausgebeuteten. Als Inhaltskern des heutigen Antagonismus möchte ich die Frage nach Krieg oder Frieden, nach der Rolle der Gewalt und letztlich nach der menschlichen Existenz bezeichnen. Die Frage nach der Ausbeutung ist nicht erledigt aber sie ist heute ein weites offenes Feld, und ich sehe derzeit keine geschichtliche Kraft, die es intensiv beackert.

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Das Vorstehende mag etwas weitschweifig sein und nicht bequem zu lesen. Doch bitte ich es als Anregung zu verstehen, unsere tagtäglich erlebte Bedrängung in eine Epochenperspektive zu stellen. Zum ganzen Zusammenhang äußert sich, ideenreich, detailreich und gründlicher argumentierend als mir möglich, Hauke Ritz in seiner siebenteiligen Artikelfolge „Die Logik des neuen Kalten Krieges“. Die Epochenperspektive ist eine Voraussetzung für Bewusstwerdung, auch und nicht zuletzt für Bewusstwerdung in der Friedensbewegung. Dazu versuche ich im dritten Teil etwas konkreter zu werden.

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2 Antworten zu Friedensbewegung: Die Orientierung erneuern

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