Wir Schlafwandler

BildungsbürgerInnen von heute verteidigen mit Zähnen und Klauen ihr mediales Menschenrecht auf „Schumi“ und „Hitzl“ (ein Beispiel hier). Soll ich mich darüber freuen? Weil es ihnen nun vielleicht an Energie fehlt, die Ideologie dickerer Bildungssuppen zu löffeln (und als Armenspeisung zu preisen); etwa die Studie von Christopher Clark, „Die Schlafwandler“.  Ach, die Hoffnung ist schwach. „Qualitätsmedien“ haben das Schaffen des Historikers längst mit den Begriffen „fulminant“, „bahnbrechend“, „begeisternd“ belegt; Bestsellerstatus allerorten.

Ich werde leider kaum in den Genuss des 900-Seiten Wälzers kommen. Einerseits, weil sich der Rentner, der es knapp über die Armutslatte schafft, die 40 €-Investition dreimal überlegen muß. Vor allem aber, weil mich ein Verständnis historischer Wissenschaft eher abtörnt, dem es vor allem um das „Wie“ geht, dass die Frage nach dem „Warum“ als einengend empfindet. Soll, statt die Frage nach den Ursachen zu beantworten, die „Königsfrage“ der Erkenntnis, jetzt nur noch das „Design der Ereignisse“ geliefert werden? Wie hat sich Politiker x am Tage y im Entscheidungsprozess platziert und war er am Tage y+1 bereits weg vom Fenster? Und das x 500, und wir staunen vor einer „faszinierenden Komplexität“. Alle diese Personen hatten ihre Ängste, ihren Stolz, ihren Papst. Und alle, alle wollten Frieden…

Was da auf dem blauen Sofa des ZDF (Buchmesse 2013) abgesondert wurde, war empörend. Möchte mich nicht dafür entschuldigen, dass ich Karl Kraus gelesen habe (auch hier). Mehr Substanz erwarte ich bei der Diskussion mit Prof. Kurt Pätzold in der „jW“-Ladengalerie am 23.1.2014: „Der Erste Weltkrieg und die Wiedererweckung einer Propagandaleiche“.

Dennoch: Man könnte den ideologischen Historiker auch „gegen den Strich“ lesen. Wer es unternimmt, seit hundert Jahren differenziert herausgearbeitete imperialistische Interessen und darauf fußende Strategien und herbeigeführte Kollisionen unter einem Berg des Zweitrangigen, Zufälligen und Beliebigen zu begraben, dem sollte man genau auf die Finger schauen. Was da für den Ersten Weltkrieg unternommen wird, ist dasselbe, was moderne HandlangerInnen für den Kriegszustand der Gegenwart leisten – nicht nur aber auch die peinliche Frau Sagenschneider auf ihrem Sofa.

Die Menschen, so heißt es, sind gierig und rücksichtslos und chaotisch. Und Verteidigung muß sein. Und Deutschland braucht Rohstoffe. Und 60%, 70% sind gegen den Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan. Und Deutschland darf sich nicht wegducken. Und deutsche Raketen stehen im Osten der Türkei. Und wieder sind 60, 70% dagegen. Wie die internationale Sozialdemokratie (mit Ausnahme der Bolschewiki), die 1912 gegen den drohenden Krieg war und 1914 begeistert ins Feld zog? Wer schlafwandelte vor dem Ersten Weltkrieg und wer nicht?

Und heute?

Befinden wir uns etwa mitten in einem längst geplanten und inszenierten Krieg; schlafwandelnd? Wer beantwortet die Frage?

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15.1., kleines Update zu meiner Frage:

Louise Arbour, Chefin der International Crisis Group, einer der sattsam bekannten von westlichen Regierungen finanzierten NRO (korrekter „RHO“ = „Regierungshilfsorganisationen“),  hat über potentielle Kriege des Jahres 2014 geschrieben. gfp (von keiner Regierung finanziert) hat dazu einige kritische Bemerkungen gemacht.

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4 Antworten zu Wir Schlafwandler

  1. Pingback: Die Schlafwandler und die Anderen | opablog

  2. susanne willers schreibt:

    Mit „social bias“ wird in der modernen Anthropologie die „ultrasoziale“ (Richerson & Boyd 1998) Grundvoreinstellung des modernen Menschen (H. sapiens sapiens) bezeichnet, genauer: dessen extreme soziale Intelligenz und deren Folgeerscheinungen (s. Herrmann et al. 2007).

    Nur die sozial intelligentesten Tiere sind zu kognitiven Höchstleistungen fähig wie Empathie, Theory of Mind, Liebe, Mobbing, Eifersucht, Neid, Hass, etc.

    Kennzeichnend für den social bias sind unhinterfragte Voraussetzungen in Aussagen wie „unser Volk“, „wir Juden“, „die Deutschen wollen…“, „Rothemden vs. Gelbhemden“, „FC-Bayern Fans“, etc. etc.

    Dieser social bias dürfte spätestens mit der Sesshaftwerdung genetisch verankert worden sein (vgl. Blut-und-Boden-Ideologien, Nationalismus, Chauvinismus, Kriege).

    Auch das heutige (2014) mediale Jubelgeschrei (!) anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums (!) des Ausbruchs des 1. Weltkrieges dürfte ein Anzeichen für einen zunehmenden „deutschen“ bzw. „gesamteuropäischen“ social bias sein.

    Literatur

    HERRMANN, Esther et al. (2007): Humans Have Evolved Specialized Skills of Social Cognition: The Cultural Intelligence Hypothesis. Science 317 : 1360-6

    RICHERSON, PJ, BOYD, R. (1998): The evolution of human ultrasociality. In: Ethnic conflict and indoctrination (edited by I. Eibl-Eibesfeldt & F.K. Salter), pp. 71-95, Oxford.

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  3. Krysztof Daletski schreibt:

    Lieber „Opa“,

    die Frage „Und heute? Befinden wir uns etwa mitten in einem längst geplanten und inszenierten Krieg; schlafwandelnd?“ treibt mich auch um, und so habe ich dazu ein Lied verfasst:

    Viele Grüße, Krysztof

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  4. Pingback: “Schlafwandler 2014″ – ein Lied von Krysztof Daletski | opablog

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