Die Oma und Herr Boes

Als ich heut morgen nach langer Berliner Nacht in einem Cafe gegenüber dem Steglitzer Kreisel beim Frühstück saβ, sah ich eine Oma bei grün über die Straße gehen. Sie ging langsam, etwas beschwerlich aber ruhig und zielstrebig. Aus der Gegenrichtung kam ein Auto, das abbiegen wollte und also ihren Weg kreuzen musste. Es war ein dicker Schlitten mit sicherlich hunderten Pferden unter der Haube. Er kam ziemlich schnell, drehte flott ein und bremste zugleich geschmeidig. Vor der Oma kam er brav zum Stehen. Diese setzte ihren Weg fort, ohne Zögern, ohne erkennbare Beunruhigung. Dann fuhr das Auto wieder an, beschleunigte lebhaft – hui! auf und davon.

Sie war eine PS-Schwache aber sie kannte die Regeln und vertraute ihnen. Und unbekümmert setzte sie ihren Weg fort. Er war mindestens 1000 mal stärker. Aber auch er kannte die Regeln, die gleichen Regeln. Mit Selbstverständlichkeit befolgte er sie, und dann sauste auch er unbekümmert davon.

Dabei war zumindest die Schwache dem Tode nahe gewesen.

„Straßenverkehr“ nennt man dieses wunderbare System, in dem täglich, ja stündlich, milliardenfach Menschen, zielstrebig unterwegs mit gefährlichen Vehikeln, sich gefährlich nahe kommen und doch fast nie Schaden erleiden. Wie ist das möglich? Die allhelfende Hand des Lieben Gottes dürfte es kaum sein.

Des Rätsels Lösung sind klare Regeln für alle – auch allgemeine Appelle sind darunter: „Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme!“ – die Jede und Jeder ganz bewusst einhalten. Verstöße dagegen gibt es auch, mit oft bösen Folgen. Doch insgesamt gesehen sind das verschwindend wenige.

Auch Herr Boes will bei grün über die Kreuzung, obwohl da etliche dicke Schlitten unterwegs sind. Auch er vertraut auf die allgemeingültigen Regeln. Er führt sogar Artikel des Grundgesetzes an und Rechtsvorschriften  des BGB („Schikaneverbot“). Dort finden sich Sätze, wie: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“

Doch die in den dicken Schlitten, haben sich eigene Gesetze gemacht. Regel 1: Alle sind gleich aber wir sind gleicher! Sie rufen laut: „Herr Boes aus dem Weg! Sie spielen mit ihrem Leben! Noch ein Schritt, und wir müssen sie leider unterpflügen!“

Herr Boes sieht sich in einem bösen Traum: „Soll ich als Baum am Straßenrand stehen?“ fragt er belustigt-verzweifelt. „Gute Idee!“ rufen die Mächtigen ihm zu: „Noch besser aber: Als Maulwurf unterm Straßenpflaster durch!“

„Das soll Würde sein!“, ruft Herr Boes empört und bleibt trotzig bei grün mitten auf der Kreuzung. Allein?

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8 Antworten zu Die Oma und Herr Boes

  1. Christa May schreibt:

    hallo, Herr Kurch,
    ich möchte mich auf diesem Wege noch einmal ganz herzlich bei Ihnen für Ihren Blog hier und Ihre Solidarität für und Ihre Besuche bei Ralph Boes auf dem Pariser Platz bedanken.
    Es ist einfach toll, was Sie hier tun und sehr anrührend.

    Danke
    die Christa aus der BbG um Ralph Boes (die mit den rötlichen Haaren :-))

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  2. Pingback: Die Oma und Herr Boes | Schramme Journal

  3. fritzLetsch schreibt:

    Hat dies auf soziale gestalt rebloggt und kommentierte:
    Dieses leicht verspätete Bremsen der grossen Karossen, als Radfahrender erleb ich es als fast tägliche Bedrohung

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  4. Lutz Lippke schreibt:

    “Vorsicht und gegenseitige Rücksichtnahme!”
    Diese Appell-Regel adressiert den gesunden Menschenverstand, der nicht das Pochen auf vermeintlichen Rechten/Regeln, sondern Maßhalten und Toleranz gegenüber Fehlern Anderer zur Grundlage hat. Nicht die von „Oben“ deklarierten Regeln sorgen allein für Vorsicht und Rücksichtnahme, sondern die Sozialisierung der meisten Menschen und der grundlegende Vorteil für Alle wird durch diese Grundregel als sinnhaft bestätigt. Warum funktioniert das häufig ohne jede Kontrolle und Mahnung, aber auch des Öfteren gerade nicht? Lassen sich die Situationen und Bedingungen z.B. auch aus dem Straßenverkehr verallgemeinern und auf andere gesellschaftliche Prozesse abbilden?
    Die Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom hat sich damit intensiv befasst und für ihre Forschung 2009 den Nobel-Preis für Wirtschaftswissenschaften erhalten. https://de.wikipedia.org/wiki/Elinor_Ostrom
    Ostrom hat sich auch mit dem Modell „Tragik der Allmende“ befasst und nachgewiesen, dass zumindest im lokalen Rahmen Übereinkünfte auf gemeinschaftlicher Basis oft deutlich besser funktionieren als staatliche Restriktionen oder privatwirtschaftliche Lösungen. Die Logik von der „Tragik der Allmende“ gilt seither als verfehlt bzw. zumindest nicht allgemeingültig anwendbar. Also Verstaatlichung oder eben Privatisierung sind nicht die einzigen Alternativen, sondern Übereinkünfte, Absprachen und Regeln von Gleichberechtigten bieten häufig deutlich bessere Lösungen. https://de.wikipedia.org/wiki/Tragik_der_Allmende
    Mehr dazu z.B. unter http://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/33200/gemeingueter
    und beim Max-Planck-Institut http://www.coll.mpg.de/node/8

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  5. Orodara schreibt:

    Erst werden die Leute arbeitslos gemacht und dann „mit der ganzen Härte des „Rechts“staates“ dafür bestraft! Hier sieht man das faschistische System, das 4. Reich.
    Der Umgang mit Ralph Boes und so vielen anderen Menschen entspricht der Wiedereinführung der Todesstrafe in Deutschland:
    http://www.nachrichtenspiegel.de/2015/08/22/eilmeldung-deutschland-hat-todesstrafe-wieder-eingefuehrt/
    Ein Land, dessen Regierung das Volk sinnlos vernichtet, kann nicht bestehen.

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  6. Wolfgang Oedingen schreibt:

    Der Straßenverkehr beruht auf Vorurteil, hier einmal positiv gewendet,deshalb konnte Oma auch so ruhig bleiben.

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  7. Pingback: Soll, kann, darf man Hungeraktionen unterstützen? | Christel T.'s Blog

  8. Alfred schreibt:

    Auf ““http://grundrechte-brandbrief.de/Meldungen/2015-08-18-Lebensmittelgutscheine.htm“ findet sich eine ausführliche, exzellente, detailliert in die einzelnen Punkte einsteigende, Darlegung, weshalb und wodurch alleine schon die Lebensmittelgutscheine von Lügen und Fehlern und fahrlässigen, gröbsten Rechtsverstössen nur so aufgeschwemmt sind.
    Übrigens wird das alles am Beispiel eines extra eingescannten Gutscheines der Jobcenter aufgezeigt – so transparent wie nur möglich…
    Doch Vorsicht: Wer das liest, könnte seine Meinung zu dieser Materie grundlegend ändern und es mit dem Gewissen zu tun bekommen.

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