MEIN TAGEBUCH 2. Tag: Stettin-Kaliningrad

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8. August 2016

Wieder ist die Geisterstunde überschritten. Gegenwärtig ist es 0.49 Uhr, bereits der 9. 8.

Es gelingt nicht, am Abend des jeweiligen Tages pünktlich die Beiträge des Tages zu schreiben. Es wird einfach immer zu spät.

Ich werde mich so behelfen: Pünktlich am Morgen poste ich immer nur den Tagesplan, also jetzt für den dritten Tag den dazugehörigen dritten Tagesplan. Was mir an Ereignissen berichtenswert erscheint, werde ich möglichst schon offline aufschreiben (solange mein Akku durchhält, denn im Bus gibt’s keine Steckdose). Mit diesen Texten wird dann später der noch nicht „komplette“ Tageseintrag vervollständigt.

Das ist der Tagesplan für den 2. Tag:

Plan 8.8.

Nach Mitternacht:

Ein Tag, der die längste Zeit aus Anreise bestand. Enge Straßen, Staus, Baustellen, auch der Grenzübertritt brauchte seine Zeit.

Wir hatten mehr als zwei Stunden Verspätung, doch die „Nachtwölfe“ von Kaliningrad hatten ausgehalten. Sie erwarteten uns hinter der Grenze des Gebietes Kaliningrad und begleiteten unseren fahnengeschmückten Konvoi in die Stadt. Kurz entschlossen wurde der Programmablauf umgestülpt – Einchecken irgendwann vor Mitternacht. Abendessen? Mal sehen. (Wenn ich den gertenschlanken Rainer Rothfuß sehe, weiß ich, dass opulente Mahlzeiten nicht zu den Eckpunkten des Programms gehören.) Und auf geht’s zum Begrüßungskonzert, das eigentlich seit 20 Uhr stattfinden sollte, in einem der größten Säle/Festschuppen der Stadt.

Viele russische Gäste warten seit bald einer Stunde. Noch bevor wir den Raum betreten, sehen wir durch die Glastüren über die ganze Bühnenwand, von gleißenden Lichtern angestrahlt, die riesige Projektion einer Geografik unserer Friedensfahrtroute. Die sind tatsächlich wegen unserer Aktion gekommen! Schlagartig ist mir klar, dass wir umdenken müssen: Zu Hause versucht man uns möglichst totzuschweigen, hier sind wir offensichtlich umso populärer.

Der Saal will „losbrodeln“, und kaum haben wir unsere Plätze eingenommen, legen „die Russen“ los. Die heißen wirklich so und sind eine Gruppe von vier oder fünf Frauen und drei Männern, die schwungvoll russische Volkslieder vortragen. Beim abschließenden „Kalinka“ sind unsere Kühlsten aufgetaut. Auf der Tanzfläche wogt’s.

Wir erfahren, dass in Kaliningrad jährlich ein Rockfestival stattfindet und prompt entern nun Rockbands und Rapper „unser“ Friedensfahrtbühne-Farbenmeer. Die Musik ist sehr laut. An Gespräch ist nicht zu denken. Beeindruckt bin ich von einem Duo, Gitarre und Schlagzeug, beide singend, die mit unerhörter Lautstärke eine schier brutale Musik machen. Ob das gut oder nicht gut war, kann ich nicht wirklich beurteilen, jedenfalls faszinierte mich die außerordentliche Präzision bei vorhandener aber sparsamer Variabilität. Da wurde nicht einfach losgedroschen.

Dieses Konzert war auch deshalb der Gegenpol zu „dröge“, weil unseren ausgedörrten Kehlen große, große Biere und den ausgehungerten Mägen ausgezeichnetes Essen serviert wurde. Wir haben das alles hingekriegt; bei gefühlt 130 Dezibel (Formel I), russischen Spezialitäten auf ausschließlich russischsprachigem Speisekartenzettel, hinreißenden Mädels als Bedienung, durch und durch russisch – nicht nur vom Scheitel bis zur Sohle, sondern auch vom ersten Vokal bis zum letzten Zischlaut, schließlich wir Friedensfahrer, deren Russischkenntnisse im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Sympathie für Russland stehen. Ja, auch Russischsprachler sind dabei aber die sind übersetzend gerade woanders von einer Menschentraube umgeben.

Bei solchem „Freundschaftstreffen“ (Ich kenne genau solche Treffen aus DDR-Zeiten – mit dem einen Unterschied – damals brauchtest Du Dein Essen nicht selbst zu bezahlen. Das müssen wir hier, und es gefällt mir ausnehmend, beweist es doch, dass wir ganz und gar aus Eigenem hier sind und nicht, weil uns irgendeine Lobby bezahlt.) kann es passieren, dass sich alle, Russen und Deutsche bunt gemischt, wie Bolle amüsieren (oder gar euphorisieren) und doch keine zwei vernünftigen Sätze wechseln – wegen der dreifachen „Mauer“ aus Musikgetöse, Spracharmut und Tanzeifer.

Ich vergaß zu erwähnen, dass ALLE auftretenden Musiker uns in ihren einleitenden Worten auf das Herzlichste begrüßten. Ja, ich weiß, Worte lassen sich finden, und zum Aussprechen brauchst du nur die Lippen zu bewegen. Doch ich glaube es, weil ich es gespürt habe, dass diese Russen wirklich aus tiefem Bedürfnis gesprochen haben. Sie haben sich, glaube ich, nach Deutschen, die so zu ihnen sprechen, wie wir es tun, gesehnt.

Über das, was hier durch ihr eigenes Tun zwischen den einander unbekannten Menschen stattfindet (den „sozial Fernstehenden“, wie Lenin sagte), wird noch viel zu beobachten, zu erleben und zu berichten sein.

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Einige meiner Bilder vom Tage hier:

https://goo.gl/photos/dPPbxZp4in9DCjj87 und hier:

https://goo.gl/photos/bUyuW8Wfebt8SjNt6

Bilder anderer FriedensfahrerInnen vom Tage hier:

https://www.dropbox.com/home/Friedensfahrt%20Moskau/16-08-08-09%20Kaliningrad

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