Pragmatisches zum bürgerrechtlichen Handeln im Justizbereich.
Aspekte einer bürgernahen Justiz.
Der Begriff „Remonstration“ war mir bisher unbekannt. Im Laufe meiner Beschäftigung mit dem Mollathskandal bin ich aber mit Sachverhalten konfrontiert worden, auf die dieser Begriff genau zutrifft. Ich spreche von dem hessischen Steuerfahnderskandal (hier im opablog) und von den Ereignissen um die Steuerfahnderin Ingrid Meier im Zusammenhang mit einem Diehl-Steuerverfahren (hier im opablog). Beides Ereignisse, deren Verwandtschaft mit dem Mollathskandal auf der Hand liegt, was bisher jedoch kaum dazu führt, alle drei (und weitere) in einer gesellschaftlichen Gesamtperspektive zu betrachten. (Hier freilich liegt eine interessante aktuelle Wortmeldung vor.) Vor diesem Hintergrund ergreife ich gern die Gelegenheit, einen weiteren Gastbeitrag von Richard Albrecht zu veröffentlichen.
Richard Albrecht ist unabhängiger Sozialwissenschaftler und hier im Internet zu finden:
„Wer in Ratgebern und Handbüchern nachschaut, um zu erfahren, was Remonstration ist, wird keine Einträge finden[1]. In diesem Fall aber in der deutschsprachigen wikipedia[2]:
„Eine Remonstration (von lateinisch remonstrare „wieder zeigen“) ist eine Gegenvorstellung oder eine Einwendung, die ein Beamter gegen eine Weisung erhebt, die er von seinem Vorgesetzten erhalten hat (§ 36 BeamtStG, ehemals § 38 BRRG und § 63 BBG (bis 2009 § 56 BBG).“
Und weiter (aus beamtenrechtlicher Sicht): „Nach den Vorschriften des Beamtenrechts muss der Beamte seine dienstlichen Handlungen auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen. Hat er Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit einer Weisung, so muss er seinem unmittelbaren Vorgesetzten gegenüber remonstrieren, d. h. gegen die Ausführung der Weisung Einwände erheben. Bestätigt der unmittelbare Vorgesetzte die Anweisung und sind die Bedenken des Beamten nicht ausgeräumt, so muss sich der Beamte an den nächsthöheren Vorgesetzten wenden. Der Beamte hat hier keinen Ermessensspielraum. Bestätigt auch der nächsthöhere Vorgesetzte (der Vorgesetzte des Vorgesetzten des remonstrierenden Beamten) die Anordnung, so muss der Beamte sie ausführen. Diese Gehorsamspflicht trifft den Beamten allerdings dann nicht, wenn er durch die Befolgung der Weisung eine Straftat oder Ordnungswidrigkeit begehen würde. Der Beamte kann sich durch dieses Vorgehen vor Disziplinarverfahren schützen, wenn später die Rechtswidrigkeit der Anordnung festgestellt wird. Das gleiche gilt für den Schutz vor Schadensersatzforderungen nach § 839 BGB (Amtshaftung) i.V.m. dem jeweiligen Beamtengesetz (§ 48 BeamtStG, § 75 BBG).“
Zitiert wird zur Remonstration auch die gegenwärtig amtierende Bundesregierung (2011): „Die Remonstration bedarf keiner besonderen Form, kann also mündlich oder schriftlich erfolgen. Die Personalreferate oder eine zentrale Stelle erhalten keine Kenntnis von Remonstrationen und deren Ergebnis auf der Fachebene. Sie dürften auch nicht in die Personalakte aufgenommen werden. Zur Personalakte gehören nur die Unterlagen, die die Beamten betreffen, soweit sie mit ihrem oder seinem Dienstverhältnis in einem unmittelbaren inneren Zusammenhang stehen (Personalaktendaten). Andere Unterlagen dürfen nicht in die Personalakte aufgenommen werden (§ 106 Absatz 1 Satz 4 und 5 BBG). Remonstrationen richten sich gegen fachliche Entscheidungen, entsprechend wären Vermerke über Remonstrationen in der Personalakte unzulässig. Mündliche Remonstrationen müssen auch im Fachvorgang keinen Niederschlag finden. Entsprechend gibt es keine Angaben zu der Zahl der Remonstrationen.“
Die abschließende wikipedianische Wertung lautet: „Die Remonstrationspflicht ist im Beamtenalltag ein nur selten genutztes Recht, da ein Remonstrant häufig befürchtet, als Querulant abgestempelt zu werden. Trotzdem oder gerade deshalb wird die Remonstration in neueren Beiträgen zur Verwaltungsethik sowie zum Whistleblowing (Aufdeckung von Skandalen) thematisiert.“[3]
Der Bundesgerichtshof erklärte 1986 grundlegend zu rechtswidrigen Verwaltungsakten[4]:
„Insbesondere besteht im Rahmen rechtmäßiger Amtsausübung für die insoweit tätigen Amtsträger in der Regel die Pflicht, als rechtswidrig erkannte oder erkennbare Verwaltungsakte zurückzunehmen.“
Deutlich wird, daß es bei Remonstration im juristischen Zusammenhang auch um die Verhinderung der (möglichen oder wirklichen) „Verfolgung Unschuldiger“ geht. Der entsprechende Paragraph des deutschen Strafgesetzes (§ 344 StGB) lautet:[5]
„(1) Wer als Amtsträger, der zur Mitwirkung an einem Strafverfahren, abgesehen von dem Verfahren zur Anordnung einer nicht freiheitsentziehenden Maßnahme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8), berufen ist, absichtlich oder wissentlich einen Unschuldigen oder jemanden, der sonst nach dem Gesetz nicht strafrechtlich verfolgt werden darf, strafrechtlich verfolgt oder auf eine solche Verfolgung hinwirkt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Satz 1 gilt sinngemäß für einen Amtsträger, der zur Mitwirkung an einem Verfahren zur Anordnung einer behördlichen Verwahrung berufen ist. (2) Wer als Amtsträger, der zur Mitwirkung an einem Verfahren zur Anordnung einer nicht freiheitsentziehenden Maßnahme (§ 11 Abs. 1 Nr. 8) berufen ist, absichtlich oder wissentlich jemanden, der nach dem Gesetz nicht strafrechtlich verfolgt werden darf, strafrechtlich verfolgt oder auf eine solche Verfolgung hinwirkt, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft. Satz 1 gilt sinngemäß für einen Amtsträger, der zur Mitwirkung an 1. einem Bußgeldverfahren oder 2. einem Disziplinarverfahren oder einem ehrengerichtlichen oder berufsgerichtlichen Verfahren berufen ist. Der Versuch ist strafbar.“
Soweit die Sicht von oben nach unten. Im Gegensatz zu dieser kataskopischen Sicht steht die anaskopische als Sicht von unten nach oben. Diese bürgerrechtliche Perspektive überläßt den bekannten Staatsdienerspruch („Beschwerden sind kostenlos, formlos und sinnlos“) gern allen Beamten-, Behörden- und Justizfunktionären und verzichtet nicht grundsätzlich auf das Rechtsmittel gegen Justiz-, Behörden- und Beamtenwillkür, um immer dann, wenn´s objektiv zu dicke kam und subjektiv für wichtig gehalten wird, Remonstration einzufordern: etwa dann, wenn aus Sicht betroffener und/oder geschädigter Bürger/innen vorliegende Beweise, was (zu) oft vorkommt, entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder falsch bewertet wurden.
Ein Fallbeispiel: ein erweislich in der Geschäftsstelle des Frankfurter Landgerichts per Fax am 1.2.2012 um 6:48 Uhr eingegangenes Dokument wurde überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Stattdessen beschloß eine Strafkammer des Gerichts drei „Tagessätze“ à jeweils 100 €, also 300 € Geldstrafe plus Gerichtskosten wegen „unentschuldigem“ Nichterscheinen als Zeuge. Gegen diesen Beschluß, so ein mich damals (falsch) beratender Rechtsadvokat, gäbe es k e i n Rechtsmittel. So daß ich, falls mein dem Gericht seit 7.2.2012 14:05 Uhr vorliegender Antrag auf Aufhebung des Beschlusses [vom 1.2.2012] abgelehnt würde, alles nach diversen Netzrecherchen und Telefonaten so vorbereitete, daß nächstentags dem Bezirksrevisor u n d dem zuständigen Beschwerdesenat des Oberlandesgerichts per Fax (m)ein Antrag auf Devolution vorliegen sollte. Als ich schon vermutete, die Sache hätte sich (wie so manche andere) wegen Nichtbearbeitung gleichsam behördisch „erledigt“ – erhielt ich am letzten Ostersamstag von einem anderen „Vors. Richter am Landgericht“ [den am 7.2.2012 beantragten] Aufhebungs-„Beschluß“ vom 25.3.2013. Auch dieser nahm zwar das dem Gericht [seit 1.2.2012] vorliegende Dokument nicht zur Kenntnis – hob aber den schikanösen Erstbeschluß „der Kammer“ vom 1.2.2012 auf.
Das kleine Fallbeispiel ist individuell. Und gewiß nicht verallgemeinerbar. Aber vielleicht doch als kleines Fallbeispiel anregend. Wichtiger freilich sind überindividuelle oder sogenannte institutionelle Regelungen. Diese sollen wirksam verhindern: daß Dokumente ignoriert werden und/oder verschwinden können; die dafür sorgen, daß Justizangehörige von Kopf bis Fuß sowohl auf Beherrschung elementarer Lese- und Textverstehenskompetenzen als auch der vier Grundrechenarten und ihre alltägliche Anwendung eingestellt sind (dem Tagessatz von 100 € entspricht ein monatliches Nettoeinkommen 3.000 €); die veranlassen, daß sich beschwerende Bürger/innen, die nicht innerhalb von sechs Wochen „beschieden“ werden, automatisch den „Devolutionseffekt“ erfahren, das heißt: ihre „Eingabe“ wird von der nächstübergeordneten Behörde oder der vorgesetzten Dienststelle bearbeitet; daß, wenn diese nicht innerhalb weiterer sechs Wochen entschieden hat, die Beschwerde automatisch anerkannt wird; daß dies alles für Beschwerdeführende gebührenfrei abläuft, daß sie ihre belegbaren Auslagen und Kosten bei allen „erfolgreichen“ Beschwerden sowie ihre beschwerdebezogenen (Arbeits-) Zeiten zu angemessenen Stundensätzen … und daß sie in jedem Fall einen Pauschalbetrag in Höhe von 150 € unbürokratisch erstattet erhalten.
[1] Hermann Avenarius, Kleines Rechtswörterbuch (71992); Ekkehard Götze, Rechtslexikon (²1996); Matthias Hollhusen, Recht im Alltag (2004).
[3] Ebenda; kritisch zu Querulanten(wahn) – inzwischen nach ICD 10 als paranoia querulans eine anerkannte psychiatrische Diagnose – vom Autor: http://ricalb.files.wordpress.com/2010/06/querulanten.pdf
[4] BGH (1986); zitiert nach Gerhard Strate (2013: 40): http://www.strate.net/de/dokumentation/Mollath-Wiederaufnahmeantrag-2013-02-19.pdf
Als Ergänzung zum trefflichen Vorschlag der Remonstration:
Pfingstsamstag: Millionen Kerzen gegen staatliches Unrecht – Zeit zum Street-Branding: Free G.M. – Bayern – ein Volk sagt: Es reicht
Der unsägliche, ja: dreiste Auftritt der bayerischen Justizministerin Merk beim sonntäglichen BR-Stammtisch zum Nachteil des Gustl Mollath lässt bei mir die Überlegung reifen:
Es ist Zeit, vom Digitalen ins Analoge zu kommen.
Will sagen:
Es ist Zeit für „immerwährende“ Demonstrationen dezentraler Art, indem alle involvierten Gerichtsgebäude nach guter italienischer Art friedlich „umarmt“ und durch Abertausende Kerzen zum Leuchten gebracht werden. Umarmende Lichterketten in München, Augsburg, Nürnberg, Bayreuth und Regensburg. Beginn Pfingstsamstag (18. Mai 2013) bei einbrechender Dunkelheit. Dauer: ein Umrundung des jeweiligen Gerichtsgebäudes, bei Kerzen „bewehrtem“ Schweigegang mit abschließendem „We Shall Overcome“ und passenden auf die Freilassung von Gustl Mollath gemünzten Texten. Jede dieser Demonstrationen versteht sich als friedliche Kundgabe des bürgerlichen Unverständnisses darüber, dass Gustl Mollath noch immer nicht in Freiheit ist; jede Stadt organisiert ALLES selbst; auf einer Plattform mag übergreifend digital informiert und über die sozialen Netzwerke multipliziert werden.
Wer fühlt sich berufen, mit der Einrichtung dieser Plattform den ersten Schritt zu tun, durchzustarten? Weiters wären Satelliten-Aufnahmen (und dergl.) der kerzen-umleuchtenden Justizgebäude ein weltweites Zeichen des bürgerschaftlichen Kampfes um die Freiheit Gustl Mollaths, für die Sicherung der freiheitlichen demokratischen Grundordnung.
Let´s Walk HAND IN HAND!
mkv
Joan Baez, Woodstock, 1969
Bruce Springsteen
A song that changed the world
Infos zur Lichterkette unter
http://www.lichterkette.de
http://www.sueddeutsche.de/muenchen/jahre-lichterkette-in-muenchen-kerzen-gegen-rechte-gewalt-1.1543012
1992 war di Lorenzo (heute: Chefredakteur der ZEIT) Mitorganisator der ersten deutschen Lichterketten gg. Fremdenfeindlichkeit unter dem Motto München – eine Stadt sagt Nein.
http://de.wikipedia.org/wiki/Giovanni_di_Lorenzo
Beispiel Italien
06.03.2011 08:14
Symbolische Umarmung für das Kolosseum
Mit einer symbolischen Umarmung für das Kolosseum in Rom haben dutzende Italiener gegen Einsparungen im Kulturhaushalt demonstriert.
LikeLike
Vorsicht, wenn Obama changed the world!
LikeLike
Ach und Weh, der Herr Roth …
»Es sind immer die Interessen der neoliberalen Ideologie die […] in praktische Politik umgesetzt werden, beziehungsweise werden sollen.« Was meint er mit Ideologie? Eine tendenziöse Lüge? Nein, denn eine Lüge kann nicht in Praxis umgesetzt werden. Dann aber meint er, quasi wertfrei, die entsprechende Einstellung; sprich: es sind die neoliberalen Interessen, die in Politik umgesetzt werden. Reingefallen, armer Leser, der du von Herrn Roth eine Analyse erwartet hattest – es ist doch wieder das alte Lied bzw. die gängige Ideologie …
»… wobei wir trotzdem immer noch besser aufgestellt sind als die meisten europäischen demokratischen Länder« – na also, worüber beklagt ihr euch überhaupt: die andern sind ja auch nicht besser; nein, noch schlimmer, in der Bundesrepublik Deutschland geht’s noch. Und wir gehören zu den demokratischen Ländern, na bitte. No problem and shut up! (Gibt’s auch undemokratische europäische Länder?)
… »Das Rechtsstaatsprinzip ist […] in bestimmten Teilen Deutschlands noch existent […]. In einem Bundesland, in Sachsen, scheint es wirklich nur noch ein Schattendasein zu führen.« Es scheint also. Aber spielte sich der Nicht-Einzelfall M. etwa in Sachsen ab? – Ich denke, wir sollten dem wünschenswerten, aber durchlöcherten, um nicht zu sagen: verwesenden oder sogar gewesenen Prinzip seine Differenzierungen nach Bundesländern aufkündigen. Immerhin heißt es ja: Rechts s t a a t!
… »Die Justiz leidet …« – notleidend ist sie, wie Banken offenbar. Daß Gerichte »überhaupt nicht mehr die notwendige Zeit haben«: das entschuldigt sie natürlich und erklärt so ziemlich alles … Ja, so ein Richterleben muß wohl hart sein, man kommt kaum noch zu regelmäßigen Mahlzeiten geschweige zum Golfspielen oder zum gemeinnützigen Engagement, etwa in Patentrechtsfragen oder so, wie es scheint.
… »Re-Feudalisierung«: darunter versteht Herr Roth die fehlende Bürgerbeteiligung (»Partizipation«) usw. Ich dagegen vermisse weniger die Beteiligung der »Bürger« als vielmehr ihren P r o t e s t gegen Rechtswillkür, oder wenigstens ihre Aufmerksamkeit und Ansprechbarkeit auf dieses Phänomen. Zu Refeudalisierung fällt mir wesentlich anderes ein als Herrn Roth: die Bindung an die Scholle oder Hand- und Spanndienste etwa. Auch das durchschnittliche Denkniveau im mittelalterlichen Original, das »Hexen«»proben« und unter Folter erpreßten »Geständnissen« doch sehr entgegenkam.
… »Ethischer Nihilismus«, dieser Vorwurf könnte gut aus Pfaffenmund hervorquallen. Gibt es nicht auch bei uns so etwas wie eine »moral majority« (zumindest alle 4 Jahre wieder)?
… Müßte man wirklich neue Gefängnisse bauen, wenn man Konzernbosse, Lobbyisten und Politiker wegen Korruption belangen wollte? Und baut man die nicht permanent? Wäre d a s das Problem?
… Und »Transparenz«, fordert die, z. B. via NGOs – besser GOs, nicht auch verstärkt der sternbebannerte oberste Lehnsherr von seinen europäischen Satrapen (damit ihm nur ja kein überflüssiger Cent durch die Lappen gehe)?
LikeLike
@ sehr gut Breitenbach.
Ich schäme mich meines schnellen, oberflächlichen Links.
LikeLike
http://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fe_Remonstranz
LikeLike
@Breitenbach @Kranich05 @mkveits
Da möcht ich mal zentristisch vermitteln: Herr Kollege Jürgen Roth hat 1.) als Journalist den Skandal-„Fall Mollath“ mit Stand Mitte Dez. 2012 in seinem neuen Spinnennetzbuch informativ, lesbar und verständlich aufgearbeitet (Seiten ) und hat auch 2.) im Telepolis-Interview heute klar gesagt: „Fall Mollath“ ist kein bayrischer Einzelfall und damit auf harte bundesweite Strukturen verwiesen; 3.) hat Roth in seiner 1:2-These (im ganzdt. Justizapparat gibt´s ´n Drittel gute und ´n Drittel Sch[…]) klar gesagt, was Sache ist: empirisch wird Rechtstaatlichkeit zunehmend fiktiv; 4.) darf ich Roth mal „theoretisch“ fundieren mithilfe der an Freuds „Unbehagen i n der Kultur“ (1930) geschulten Verkehrungsthese: Karneval kann´s nicht mal in Kölle ganzjährig geben. Damit 5.) angesprochen das Problemfeld der Typik: ganzdeutsche Justizpraxis ist eben nicht typischerweise Recht. Sondern typischerweise Unrecht. Insofern „Wie im Fall Mollath“. Oder auch: Mollath als Symptom; und 6.) abschließend, was den Anschein des Rechts(staats) betrifft, Wolfgang Koeppen („Das Treibhaus“. 1953) zitieren, weil´s meiner Erfahrung nach das gegenwärtig-ganzdeutsche Rechtsstaatssydrom treffend beschreibt: „Er sah die Menschen und er sah, daß sie sich an Illusionen festklammerten, an die sie schon lange nicht mehr glaubten.“ –
Richard Albrecht, 080413, http://eingreifendes-denken.net
LikeLike
@richard albrecht
In Ihrer auch an mich gerichteten Wortmeldung steckt viel Wahrheit, doch kann ich sie nicht als Einwand gegen das von mir Gesagte gelten lassen: denn dabei handelt es sich ausschließlich um wörtliche Zitate sowie aus diesen deutlich werdende Einstellungen des Zitierten zu dem von ihm dargestellten Geschehen. Mag jemand einwenden, die Zitate seien von mir willkürlich aus dem Zusammenhang gerissen, antworte ich, erst dieses »Herausreißen« stellt den unterschwellig vorhandenen Zusammenhang angemessen heraus.
Es ging mir dabei gar nicht so sehr um die Person des Herrn R. (jeder Mensch hat schließlich seine Stärken und seine Schwächen, doch ist dies nicht der Punkt), auch will ich den Wert seiner Arbeit, die ich kaum kenne, durchaus nicht in Abrede stellen. Worauf wollte und – ich bleibe dabei – will ich dann hinaus?
In Wirklichkeit geht es um Menschenleben, das sollte man nicht unterschätzen; um ein menschenwürdiges Dasein, das für die größte Zahl zugunsten einer verschwindend kleinen Minderheit zunehmend versaut wird. Darum geht es. Und dann ist es eben doppelt enttäuschend, wenn irgendjemand den Finger in eine der zahlreichen Wunden legt, was überaus löblich ist, und dabei ohne Not, denn dazu zwingt ihn niemand, die Sprache der Menschheitsfeinde übernimmt oder, um mit Brecht zu sprechen, die »Sklavensprache« beibehält. Denn wozu dann der ganze Aufwand? Dann kann man’s auch sein lassen und versuchen, von etwas anderem zu leben: man demoralisiert auf diese Weise bloß und transferiert das Hoffnungsprinzip in den ungesunden Zustand frustraner Erregung. Und genau deswegen muß es nicht nur erlaubt sein, sondern ist es sogar vordringlich, die Schwachstellen eines sich fortschrittlich gerierenden Autors zu benennen, sobald es sich dabei um Grundsätzliches handelt.
Sie selbst, und dafür danke ich Ihnen ausdrücklich, weisen auf den Schlüssel hin, der die empirisch von Fall zu Fall zu beobachtenden Unterschiede in der Rechtspflege erklärt. Die Reste an Rechtsstaatlichkeit benennen Sie metaphorisch als »Karneval«, und das trifft es genau. Denn damit der schöne Schein nicht verloren geht, dürfen bestimmte und vermutlich von eigens hierzu angestellten Psychologen errechnete Prozentsätze aller Justizurteile n i c h t falsch sein. Dies folgt aus der lerntheoretischen Erkenntnis, daß die beste Verstärkung eines »Verhaltens« – hier: der öffentlichen Meinung, die in ihren individuellen Trägern ja auch als aktiver Prozeß wirksam ist und in diesem Sinne »operant konditioniert« werden kann – in »unregelmäßig intermittierender Belohnung« besteht. Ab und zu – jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, ab dem eine Medianverschiebung dieser Meinung in den Köpfen hin zu dem erwünschten neuen »Verhalten« zu verzeichnen ist (auf teure Kostümierung oder »Karneval«, um im Bild zu bleiben, also ohne Schaden für das angestrebte neue System verzichtet werden kann, weil die Mehrzahl sich schon mit dem Unrecht abfindet) -, stimmt deshalb ein Urteil sogar in einem Unrechtsstaat und m u ß dies daher auch.
LikeLike
Was der (Polizei-) Beamte in den ersten Unterrichtseinheiten über seine Rechte und Pflichten „hört“, wird fallbezogen durch Straf- und Strafprozeßrecht und (Polizei-)Verwaltungsrecht vertieft: Er muß die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung „verinnerlicht“ haben, muß sich seiner Garantenstelllung (Handeln durch Unterlassen!) stets bewußt sein und hat in der oft schwierigen rechtlichen und taktischen Lage das o.a. Recht/die Pflicht zur Remonstration! Dabei darf die Beratungs- und Unterstützungspflicht seiner Vorgesetzten nicht vergessen werden: Sie erkennen das Problem? Den Mut, die eigene Meinung – trotz zu erwartender Nachteile – vorzutragen, kollidiert
mit Karrierestreben und Kameraderie, vorauseilender Gehorsam schlägt Rechtstreue! Auch hier finden wir den unmündigen Staatsbürger, ob mit oder ohne Uniform: Der Untertanengeist ist nicht totzukriegen. „Eines Tages holt ein Polizist einen zweiten ab, der dritte steht dabei und sagt, „es wird schon was gewesen sein“ – wie war das wohl bei Gustl Mollath, und was ist aus den Beamten geworden?
LikeLike
Ja, die Illusionen, die wir schon lange nicht mehr glauben …
Der Ständestaat, der uns die Hierarchien der Beamten bescherte, die neben Kirchen, Justiz und Staatsverwaltung auch in den alten Firmen weiterwirken, beruhte auf dem verteidigten Gymnasium, das die obere Klasse der Verwaltung hervorbrachte, die Doktortitelsucht ist eines der alten Zeichen.
Jura hat, neben Medizin und Theologie, die alten lateinischen Umgangsformen, Hierarchie-intern in Latein über Dinge zu reden, die das Volk / der Patient / der Laie nicht verstehen soll.
Ich lernte die Remonstration bei Schlötterer in „Macht und Mißbrauch, von Stauß bis Seehofer … kennen, und auch die Funktion der Handakten, die (für immer geheim) am Arbeitsplatz bleiben.
Demokratisch (früher sagte man auch: Republikanisch) müsste eine Justiz erst wieder neu erfunden werden, die ohne Stände-Talar, Bibel und Kreuz nach den Formen sucht, die Gerechtigkeit wieder herstellen können. Die Kelten waren da schon mal weiter, und der Rache- und Straf-Aspekt der CSU ist ein Wiedergänger aus dem 3. Reich, das darauf spezialisiert war.
In anderen Kulturen wird schon länger nach Ausgleichs-, Mediations- und Versöhnungsprozessen gesucht, bei uns wird nach nord-amerikanischen Konzepten die Gewinnsucht zu Gefängnis und Psychiatrie ausgeweitet.
Nun hat uns das Parteien-Konzept leider so politisch hoffnungslos gemacht, dass wir uns eine selbst bestimmte demokratische Justiz und Verwaltung gar nicht mehr vorstellen können …
LikeLike
Lieber Herr @Breitenbach,
da kann ich Ihnen im Grunde weder groß widersprechen noch klein in die Parade fahren;-): ich meint/e freilich, als „Sozialwissenschaftsjournalist“ (Lars Clausen) und unter Verweis auf die Buchseiten 207-217 im SPINNENNETZ DER MACHT, Jürgen Roth (2013) als gediegen arbeitender Aufklärungsjournalisten, der den „Fall“ Stand Mitte Dezember 2012 (wie ich meine: fast schon mustergültig) aufgearbeitet hat, bezeichnen zu dürfen: Sie beschimpften Roth. Das empfand/empfinde ich als nicht richtig.
Zum „Stand der Dinge“ sag ich als jemand, der auch nicht erst seit vorvorgesternmorgen diesen ganzdeutschen Justizapparat als Teil des repressiven „Staatsapparats“ (Louis Althusser) linkswissenschaftlich kritisiert http://www.duckhome.de/tb/plugin/tag/Richard+Albrechts+JustizKritik , nur noch klipp+klar:
Der Skandal-„Fall Mollath“ nebst den von Dr. K. P. Kirch hier in seinem Blog verdienstvoll dokumentierten und an Peinlichkeit kaum noch zu übertreffenden „Fall“-Äußerungen wichtiger ganzdeutsch-staatsgebundener „Menschenrecht“sorganisationen war und ist k e i n bayrischer Einzelfall. (Insofern halte ich auch gegen jedes populistisch-folkloristisch-antibavarisches Gedödel).
Der Skandal-„Fall Kollath“ verweist auf harte bundesweite Strukturen im Justiz-, Repressions- und Herrschaftsbereich und zeigt/e, wie aktuell Justizkritik ist und wie wichtig bürgerrechtliche Kritiker sind. Jürgen Roth hat zuletzt im „Telepolis“-Interview in seiner 1:2-These (im ganzdt. Justizapparat gibt´s ´n Drittel gute und zwei Drittel Sch[…]) klar gesagt, was Sache ist („Das Rechtsstaatsprinzip bröckelt gewaltig“ http://www.heise.de/tp/artikel/38/38830/1.html ): Rechtstaatlichkeit wird in Ganzdeutschland empirisch zunehmend fiktiv. Und bloße Ideologie.
Das seh auch ich ähnlich. Und das hab ich auch „theoretisch“ fundiert mithilfe der an Freuds „Unbehagen i n der Kultur“ (1930) geschulten Verkehrungsthese: Karneval kann´s nicht mal in Kölle ganzjährig geben. Damit ist das Problemfeld der Typik angesprochen: ganzdeutsche Justizpraxis ist nicht typischerweise Recht und Gesetz. Sondern typischerweise Willkür und Unrecht: „Wie im Fall Mollath“ oder „Mollath als Symptom“.
Was schließlich den Anschein des bürgerlichen Rechts und des ganzdeutschen Rechts(staats) http://duckhome.de/tb/archives/9235-DER-ANSCHEIN-DES-RECHTS.html betrifft, zitier ich gern nochmal aus Wolfgang Koeppen „Das Treibhaus“ (1953), weil dort m.E. das Dilemma der vielen da unten, die von denen da oben seit Jahrzenten mit dieser Rechtsstaatsideologie nachhaltig vollgemüllt werden, m.E. treffend formuliert wurde:
„Er sah die Menschen und er sah, daß sie sich an Illusionen festklammerten, an die sie schon lange nicht mehr glaubten.“
Mit freundlichem Gruß
Richard Albrecht, 13. 04. 2013
http://eingreifendes-denken.net
LikeLike
P.S.
3-sat-Link (Sendung mit/über Jürgen Roth). RA, 140413
LikeLike
PPS.
http://www.3sat.de/mediathek/index.php?display=1&mode=play&obj=35843
LikeLike