ABGRÜNDE oder Der autoritäre Ordnungsstaat, der noch kein faschistischer ist.

Anlass meiner Bemerkungen sind die jüngsten Maßnahmen des Polizeistaats
– gegen eine Gymnasiastin aus Ribnitz-Damgarten (präzisierter Bericht der „Jungen Freiheit“ vom 15.3.24 hier, Pressemitteilung der Polizei vom 14.3.24 hier) und
– gegen den politischen Sänger für Frieden und Freiheit Malte Griesse (Statement im Video ab 8:45):

Die 16-jährige Gymnasiastin wurde „staatsschutzrelevanter Aktionen“ (Tik Tok-Postings) verdächtigt.
Die Verdächtigungen wurden begründet mit diesem Video, sowie damit, dass die Schülerin Deutschland als „Heimat“, nicht nur als „Ort“ bezeichnet habe.
Diese „Tatsachengrundlage“ des folgenden Skandals – mit anderen Worten: die völlige Grundlosigkeit der Vorwürfe – wird von keiner Seite bestritten!

Momente des Skandals:
– eine anonyme Denunziation der Schülerin (E-Mail einer Hinweisgeberin (ohne Tatsachengrundlage))
– die Übernahme der Denunziation durch den Schuldirektor. Der Direktor hat entweder nicht geprüft, ob die Denunziation eine Tatsachengrundlage hat oder er hat sich mit der Denunziation identifiziert.
– Der Direktor verzichtet offenbar auf jede Beratung des (Nonsens-) Problems mit Kollegen, Elternvertretern oder Eltern
– Der Direktor schaltet zur Klärung einer Frage seiner pädagogischen Praxis die Polizei ein. Dabei wird für die Monate zurückliegenden „Ereignisse“ jetzt (am 27.2.) erhebliche Dringlichkeit entfaltet.
– Der Direktor ruft, und die Polizei marschiert an. Ohne Informationen, welcher (Nonsens-) Einsatz sie erwartet? Oder mit der Absicht unbedingt eine „polizeiliche Maßnahme“ durchzuführen, unabhängig davon, ob etwas vorliegt oder nicht? Bewaffnet oder unbewaffnet? Warum mit drei Beamten? In der Schule stellen die Beamten fest, was sie offenbar im Polizeirevier nicht interessierte, dass nichts vorliegt.
– Daraufhin! ermächtigen sich Direktor und Polizei eine Person als Gefährderin zu behandeln, deren nicht gefährdendes Verhalten sie soeben festgestellt haben. Sie maßen sich an, ein „normenverdeutlichendes Gespräch“ mit einer Person zu führen, die bis dahin die demokratischen Normen deutlicher und bewusster eingehalten hat als die vier beteiligten Ordnungshüter!
– Die Ordnungshüter behaupten und bestätigen sich, dass sowohl die behandelte Schülerin, als auch die nachträglich telefonisch informierte Mutter sich verständnisvoll zum dem Skandal geäußert hätten, dem sie unterworfen wurden.

Weitere Momente des Skandals:
– Das Bildungsministerium von MV verlangt nach unwidersprochener Darstellung des Direktors, dass unbewältigte pädagogische Prozesse umgehend der Polizei zu übergeben sind.
– Das Bildungsministerium von MV sieht keinen Anlass, die Kompetenz des Direktors zu überprüfen und Entscheidungen zu treffen, die weiteren Schaden abwenden.
– Der Polizeiminister von MV spricht der Polizei das Recht zu, den Bürgern vorzugeben, wie sie ihre demokratischen Rechte auszuüben haben. Er hält den übergriffigen Polizeieinsatz für vorbildlich.
– Die Presse des Systems braucht genau 1 Tag, um aus empörten Leserreaktionen auf den Skandal (darunter auch unqualifizierte und einzelne demokratiefeindliche) eine Hetzkampagne rechtspopulistischer Medien und der AfD zu machen.

Und zuletzt:
Wirklich demokratische und aufklärende Medien sparen sich bisher – soweit ich sehen kann – die Auseinandersetzung mit dem Skandal von Ribnitz-Damgarten. Das BSW hat dazu natürlich auch nichts zu sagen. Leistet man sich hier vornehme Zurückhaltung, weil dort die Schmuddel-AfD im Fokus steht?

Ich verweise nachdrücklich auf das polizeiliche Vorgehen am 10.3.24 gegen Malte Griesse (s.o.), Heiko Schöning und Captain Future, gegen die dieselben Polizeistaatsmethoden angewandt wurden.
Natürlich hat der Friedensprotest am 10.3. vor dem sowjetischen Ehrenmal ein ganz anderes politisches Kaliber als die Ribnitz-Damgartener AfD-Scharade. Doch im Ribnitzer Skandal werden die Instrumente erprobt und der Öffentlichkeit vorgeführt und eingeübt, um sie dann gegen wirklich zählende Proteste widerstandslos einsetzen zu können. In diesem Sinne halte ich es für einen elementaren Fehler, wenn echte Linke und Demokraten es versäumen, sich für die demokratischen Rechte auch der AfD einzusetzen.

NOCH drangsaliert der Staat mit „Samthandschuhen“. Wenn er konsequent diktiert und das mit terroristischen Mitteln, dann überschreitet er eine andere, wohldefinierte Grenze.
Mehr dazu hier.

*****

Heute früh hörte ich im Rundfunk mit halbem Ohr, dass der Fortbestand der Tucholsky-Gedenkstätte in Rheinsberg gefährdet sei.
Tucholsky hat 1929 zur deutschen Heimat geschrieben:

Heimat

Aber einen Trost hast du immer, eine Zuflucht, ein Wegschweifen. Selbst auf Umgebungsflachheiten stehen Bäume, Wasseraugen schimmern dich an, Horizonte sind weit, und auch durch düstere Verhängung kommt noch Feldatem.

Alfons Goldschmidt: ›Deutschland heute‹

Nun haben wir auf vielen Seiten Nein gesagt, Nein aus Mitleid und Nein aus Liebe, Nein aus Haß und Nein aus Leidenschaft – und nun wollen wir auch einmal Ja sagen. Ja –: zu der Landschaft und zu dem Land Deutschland.

Dem Land, in dem wir geboren sind und dessen Sprache wir sprechen.

Der Staat schere sich fort, wenn wir unsere Heimat lieben. Warum grade sie – warum nicht eins von den andern Ländern –? Es gibt so schöne.

Ja, aber unser Herz spricht dort nicht. Und wenn es spricht, dann in einer andern Sprache – wir sagen ›Sie‹ zum Boden; wir bewundern ihn, wir schätzen ihn – aber es ist nicht das.

Es besteht kein Grund, vor jedem Fleck Deutschlands in die Knie zu sinken und zu lügen: wie schön! Aber es ist da etwas allen Gegenden Gemeinsames – und für jeden von uns ist es anders. Dem einen geht das Herz auf in den Bergen, wo Feld und Wiese in die kleinen Straßen sehen, am Rand der Gebirgsseen, wo es nach Wasser und Holz und Felsen riecht, und wo man einsam sein kann; wenn da einer seine Heimat hat, dann hört er dort ihr Herz klopfen. Das ist in schlechten Büchern, in noch dümmeren Versen und in Filmen schon so verfälscht, dass man sich beinah schämt, zu sagen: man liebe seine Heimat. Wer aber weiß, was die Musik der Berge ist, wer die tönen hören kann, wer den Rhythmus einer Landschaft spürt … nein, wer gar nichts andres spürt, als dass er zu Hause ist; dass das da sein Land ist, sein Berg, sein See, auch wenn er nicht einen Fuß des Bodens besitzt … es gibt ein Gefühl jenseits aller Politik, und aus diesem Gefühl heraus lieben wir dieses Land. Wir lieben es, weil die Luft so durch die Gassen fließt und nicht anders, der uns gewohnten Lichtwirkung wegen – aus tausend Gründen, die man nicht aufzählen kann, die uns nicht einmal bewußt sind und die doch tief im Blut sitzen.

Wir lieben es, trotz der schrecklichen Fehler in der verlogenen und anachronistischen Architektur, um die man einen weiten Bogen schlagen muß; wir versuchen, an solchen Monstrositäten vorbeizusehen; wir lieben das Land, obgleich in den Wäldern und auf den öffentlichen Plätzen manch Konditortortenbild eines Ferschten dräut – laß ihn dräuen, denken wir und wandern fort über die Wege der Heide, die schön ist, trotz alledem.

Manchmal ist diese Schönheit aristokratisch und nicht minder deutsch; ich vergesse nicht, dass um so ein Schloß hundert Bauern im Notstand gelebt haben, damit dieses hier gebaut werden konnte – aber es ist dennoch, dennoch schön. Dies soll hier kein Album werden, das man auf den Geburtstagstisch legt; es gibt so viele. Auch sind sie stets unvollständig – es gibt immer noch einen Fleck Deutschland, immer noch eine Ecke, noch eine Landschaft, die der Fotograf nicht mitgenommen hat … außerdem hat jeder sein Privat-Deutschland. Meines liegt im Norden. Es fängt in Mitteldeutschland an, wo die Luft so klar über den Dächern steht, und je weiter nordwärts man kommt, desto lauter schlägt das Herz, bis man die See wittert. Die See – Wie schon Kilometer vorher jeder Pfahl, jedes Strohdach plötzlich eine tiefere Bedeutung haben … wir stehen nur hier, sagen sie, weil gleich hinter uns das Meer liegt – für das Meer sind wir da. Windumweht steht der Busch, feiner Sand knirscht dir zwischen den Zähnen …

Die See. Unvergeßlich die Kindheitseindrücke; unverwischbar jede Stunde, die du dort verbracht hast – und jedes Jahr wieder die Freude und das »Guten Tag!« und wenn das Mittelländische Meer noch so blau ist … die deutsche See. Und der Buchenwald; und das Moos, auf dem es sich weich geht, dass der Schritt nicht zu hören ist; und der kleine Weiher, mitten im Wald, auf dem die Mücken tanzen – man kann die Bäume anfassen, und wenn der Wind in ihnen saust, verstehen wir seine Sprache. Aus Scherz hat dieses Buch den Titel ›Deutschland, Deutschland über alles‹ bekommen, jenen törichten Vers eines großmäuligen Gedichts. Nein, Deutschland steht nicht über allem und ist nicht über allem – niemals. Aber mit allen soll es sein, unser Land. Und hier stehe das Bekenntnis, in das dieses Buch münden soll:

Ja, wir lieben dieses Land.

Und nun will ich euch mal etwas sagen:

Es ist ja nicht wahr, dass jene, die sich ›national‹ nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. Weder der Regierungsvertreter im Gehrock, noch der Oberstudienrat, noch die Herren und Damen des Stahlhelms allein sind Deutschland. Wir sind auch noch da.

Sie reißen den Mund auf und rufen: »Im Namen Deutschlands … !« Sie rufen: »Wir lieben dieses Land, nur wir lieben es.« Es ist nicht wahr.

Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen – wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand – nicht einmal von jenen, auf deren Namen das Land grundbuchlich eingetragen ist. Unser ist es.

Und so widerwärtig mir jene sind, die – umgekehrte Nationalisten – nun überhaupt nichts mehr Gutes an diesem Lande lassen, kein gutes Haar, keinen Wald, keinen Himmel, keine Welle – so scharf verwahren wir uns dagegen, nun etwa ins Vaterländische umzufallen. Wir pfeifen auf die Fahnen – aber wir lieben dieses Land. Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln – mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel – mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese: es ist unser Land. Wir haben das Recht, Deutschland zu hassen – weil wir es lieben. Man hat uns zu berücksichtigen, wenn man von Deutschland spricht, uns: Kommunisten, junge Sozialisten, Pazifisten, Freiheitliebende aller Grade; man hat uns mitzudenken, wenn ›Deutschland‹ gedacht wird … wie einfach, so zu tun, als bestehe Deutschland nur aus den nationalen Verbänden.

Deutschland ist ein gespaltenes Land. Ein Teil von ihm sind wir.

Und in allen Gegensätzen steht – unerschütterlich, ohne Fahne, ohne Leierkasten, ohne Sentimentalität und ohne gezücktes Schwert – die stille Liebe zu unserer Heimat.

Kurt Tucholsky
Aus: Deutschland, Deutschland.

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6 Antworten zu ABGRÜNDE oder Der autoritäre Ordnungsstaat, der noch kein faschistischer ist.

  1. MSC schreibt:

    Wie immer ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

    Alexander Wallasch.de: „Eine vollkommene Übergriffigkeit seitens der Polizei, der Schulbehörden“

    Ansage.org: „Schülerin vor der Klasse von Polizei abgeführt – wegen Bekenntnis zu Deutschland“

    Danisch.de: “Ich halte es für äußerst gefährlich, was für eine Entwicklung hier gerade abläuft. Und dafür zu sensibilisieren für dringend notwendig und geboten.”

    Junge Freiheit (bereits zitiert)

    Reitschuster.de: “Nach Meinungsterror an Schule: Massive Täter-Opfer-Umkehr Öffentlich-Rechtliche berichten wie aus dem Handbuch von KGB und Stasi “

    RT DE: “Das im Polizeibericht erwähnte ‘Aufklärungsgespräch’ nennt [Pegel, Innenminister MeckPomm] ’Gefährderansprache.
    Die ‘Gefährderansprache’ ist dem mecklenburgischen Recht unbekannt.”

    ARD ist mit dem Thema durch; DLF stellt sich taub, ZDF sowas von witzig:

    „Meinten Sie ‚wossidlo gymnasium ribnitz dachgarten‘?

    Kein Ergebnis zu ‚wossidlo gymnasium ribnitz damgarten‘.
    Stattdessen suchen nach ‚wossidlo gymnasium ribnitz dachgarten‘ „; garniert mit einer Pumucklgrafik (erlaubt, weil rothaarig!)

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  2. MSC schreibt:

    Noch ein Abgrund, andere Bühne.

    Neulich bei RT DE: Oma Courtage zeigt wieder an.

    ”Informationen aus einer geheimen Ausschusssitzung zu verraten, ist kein Kavaliersdelikt. Die Anzeige läuft. Wer Geheimnisverrat begeht, um seine eigene Agenda durchzusetzen, hat in einem Parlament nichts zu suchen. https://t.co/sECjDthU4O — Marie-Agnes Strack-Zimmermann (@MAStrackZi) March 15, 2024"

    Ebenfalls am 15. März zitieren die Nachdenkseiten t-online wie folgt:

    “… soll Breuer auch über besondere Risiken einer Lieferung für die Sicherheitsinteressen Deutschlands gesprochen haben.
    Eine mit dem Vorgang vertraute Person berichtet t-online, dass manchen Abgeordneten dabei ‘die Kinnladen heruntergeklappt’ sei. ‘Nach Breuers Vortrag war erst mal Stille im Raum. Selbst diejenigen, die sonst laut Forderungen stellen, hatten keine Fragen mehr.’ Ein Ausschussmitglied und Taurus-Befürworter sagte nach der Sitzung zu t-online, dass er ‘zum ersten Mal Zweifel bekommen’ habe und seine Position zu einer Lieferung überdenken wolle.”

    https://www.nachdenkseiten.de/?p=112493#h08

    Man könnte vermuten, dass es zwischen beidem einen Zusammenhang gibt. Weiß jemand mehr?

    Mich bestärkt das in meiner früher geäußerten Annahme, dass die Russische Föderation den BRD-Funktionseliten über inoffizielle Kanäle zu verstehen gegeben hat, was passiert, falls sie an ihren Wahnvorstellungen festhalten. Ebenso könnte das die These stützen, dass das Taurus-Leak so gewollt war, um sehr viel Schlimmeres zu verhindern.

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  3. kranich05 schreibt:

    Ich fürchte der Herr Direktor und die drei Polizeibeamten UND NOCH MEHR der Herr Innenminister und die Damen und Herren vom Bildungsministerium sind alle überzeugt, das sie AKTIVISTEN DER DEMOKRATIEFÖRDERUNG sind.

    Demokratieförderung im Sinne der Ministerinnen Paus und Faeser.

    Paus: „Wir wollen dem Umstand Rechnung tragen, dass Hass im Netz auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze vorkommt.“ Und damit man sie nicht missversteht, fügt sie hinzu: „Viele Feinde der Demokratie wissen ganz genau, was gerade noch so unter Meinungsfreiheit fällt.“

    Faeser: „Diejenigen, die den Staat verhöhnen, müssen es mit einem starken Staat zu tun bekommen.“ (Majestätsbeleidigung darf es nicht geben.)

    Mehr dazu hier:

    https://www.zeit.de/2024/09/demokratiefoerdergesetz-nancy-faeser-lisa-paus-rechtsextremismus/seite-2

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  4. Karl schreibt:

    Natürlich muß man sich wehren, auch gegen entsprechende Urteile.

    Aber schaut euch mal das Transparent an.

    https://www.hintergrund.de/politik/inland/deutschland-atomwaffengegner-auf-der-anklagebank/

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