Die Russische Frage (der Deutschen) – (3) – mit Ergänzung am 2.7.16

Dass Deutschland und Russland als große Mächte in Mitteleuropa und Osteuropa/Asien in geopolitischer Beziehung stehen und das seit langer Zeit, liegt auf der Hand. Zur Charakterisierung dieser Beziehung bleiben hier die Slawenkriege des Früh- und Hochmittelalters außer Betracht, obwohl sie gewiss Spuren (mehrfach wiederbelebte) im kollektiven Unterbewussten der Deutschen und ebenso der Slawen hinterlassen haben. Erwähnenswert ist das besondere Augenmerk, dass Bismarck auf die Beziehungen zu Russland richtete.

Wenn, wie im Teil 2 ausgeführt, die nationale Frage der Russen spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf das Engste mit der Frage der Revolution (in Russland und der Welt) verbunden war, musste das spezifische Verhältnis der Deutschen zur Revolution ein bedeutender Faktor für das deutsch-russische Verhältnis werden.

Diese Zusammenhänge versuche ich im Folgenden aus der Sicht eines Linken illusionslos zu betrachten.

Maßgebend für Bewusstsein und Kultur des deutschen Volkes in Bezug auf Revolution und Gewalt in der Geschichte ist, dass dieses Volk nie eine siegreiche Revolution oder auch nur einen siegreichen Volkskrieg erlebt hat (abgesehen von 1813). Immer aber hat es nach gescheiterten Aufständen und Kriegen das Wüten der Konterrevolution erlitten, ein Wüten, das meist („deutsche Gründlichkeit“) bis ins terroristische Extrem getrieben wurde. Doch auch ohne vorangegangene Erhebungen war das deutsche Volk mehrfach lange andauernden terroristischen Massakern ausgeliefert, etwa im dreißigjährigen Krieg oder mit den sog. Hexenverfolgungen. Psychologisch bedeutsam: Viele dieser Massaker wurden nicht von fremden Eroberern, sondern von den „eigenen Leuten“ begangen.

All das führte meiner Meinung nach zu einer tiefen, im geschichtlichen Bewusstsein der Deutschen verfestigten, Traumatisierung („Nationalcharakter“?). Es gibt so etwas, wie eine erlernte Unfähigkeit und auch Unwilligkeit „der Deutschen“ zur offenen Empörung gegen die Machthaber. Natürlich ist eine derartige Globalaussage fragwürdig, jedoch zeigt sich bei Differenzierung dieselbe Tendenz:

  • Radikale Humanisten („Linke“) sind zahlenmäßig schwach und Außenseiter. Die Besten von ihnen gewinnen aus dieser Situation besonderen Weitblick und sind auch international „auf der Höhe der Zeit“ – Börne, Büchner, Heine, Marx, Engels. Aus dem eigenen Land ausgestoßen, verhelfen sie (und weitere große Geister) ihm zugleich zu der Bezeichnung „Land der Dichter und Denker“. Radikaler politischer Humanismus in Deutschland ist nicht nur selten, oft ist er auch zeitlich begrenzt in dem Sinne, dass seine Vertreter ihm nur in einzelnen Lebensabschnitten anhängen.
  • Die breite Mitte der deutschen Gesellschaft (Arbeiter, Gewerbetreibende, Bauern, Angestellte, Intellektuelle, kleine und mittlere Unternehmer) ist arbeitssam, fachkundig und erfolgsorientiert, insoweit „fortschrittlich“. Sie alle sind anpassungsfähig und weichen politischen Kämpfen tendenziell aus bzw. halten sich an der Seite der stärkeren Bataillone. Zeiten, in denen sie ihre Rechtlosigkeit deutlicher spüren, überbrücken sie mit gesteigertem Gehorsam und gesteigerter Einsatzbereitschaft.
  • Die Oberschicht verkörpert mehr oder weniger radikal Antihumanität und ist sich ihrer unangefochtenen, vielfach abgesicherten Stellung bewusst. Sie stützt sich auf eine stabile, leicht aktivierbare Reserve antihumanistischer Kräfte aus der Volksmitte. Aus inzwischen mehrhundertjähriger Erfahrung verfügt sie über das volle Spektrum aller Herrschaftsmittel, das sie dosiert einsetzt. Mit Carl Schmitt weiss sie, dass sie immer in der Lage sein muss, über den Ausnahmezustand zu entscheiden, und sie ist es. Das Fehlen einer radikalen inneren Opposition von Gewicht „bezahlte“ die Oberschicht bereits mehrmals mit ihrem Abgleiten in Hybris. Sie ließ den „furor teutonicus“ von der Leine, was zu Rückschlägen führte. Hier kommt eine Dialektik zur Geltung, die den Aufstieg Deutschlands zur Weltmacht bisher zuverlässig verhinderte und, so wünsche ich heftig, auch künftig verhindert.

(Ergänzung am 2.7.2016: Fast zur selben Stunden, da ich obigen Satz schrieb, gab es diese Erklärung von Steinmeier und Ayrault, sowie diesen Artikel von Steinmeier an prominenter Stelle. Das sind (in ihrer Einheit) strategische Ansagen. Ihr Gewicht (auch in den vorgenommenen Differenzierungen!) ist schwer zu überschätzen. Ich sehe keine radikale humanistische politische Opposition, die sich, prinzipiell und reflektiert zugleich, mit dieser strategischen Linie auseinandersetzt. Verräterisch ist das weitgehende Stillschweigen der Medien.)

Zu Steinmeier, dem mit allen Wassern gewaschenen Fuchs, dies im Hinterkopf.

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Die imperialistische Herrschaftsclique Deutschlands hatte Russland stets im Visier – das Land schwächen, niederwerfen, ausrauben. Man wähnte sich schlau und ermöglichte Lenins Rückkehr nach Russland. Man zwang der wehrlosen Sowjetmacht den Brester Raubfrieden auf. Doch Lenin hatte den richtigen „Zipfel vom Mantel der Geschichte“ gefasst, und die deutsche Revolution fegte das Diktat vom Tisch.

Mit der Gründung der KPD zur Jahreswende 1918/19 konstituierte sich die radikale deutsche Linke nach Jahrzehnten wieder als politische Partei und erreichte somit wieder die notwendige Höhe des politischen Kampfes. Denn seit der siegreichen Oktoberrevolution hatte sich mit aller Macht „Die Russische Frage“ gestellt. Der Impuls war enorm!

Die Entwicklung der Bolschewiki als Maßstab genommen, bedeutete die deutsche Parteigründung, einen fast zwanzigjährigen Rückstand zu überwinden. Zu diesem Ergebnis brauchte es einen Weltkrieg und drei russische Revolutionen. Die Konstituierung der KPD fiel zeitlich mit der Konterrevolution zusammen, was auf weitere Jahre hinaus die Konsolidierung der Partei und ihre politische Wirksamkeit behinderte. Die Ermordung der erfahrensten Führer der deutschen Linken und das nahende Ende von Lenins Wirken führten dazu, dass sich der Leninismus – verstanden als die Gesamtheit von Lenins theoretischen Erkenntnissen, Erfahrungen, Methoden, Instrumenten, Strategien und Taktiken, bis hin zu seiner politischen Wahrhaftigkeit und Führungskunst – in der KPD nur schwach verankerte bzw. vornehmlich in der stalinistisch/“realsozialistisch“ deformierten Form. In den kommunistischen Parteien der KI, auch in der KPD, bildeten sich allmählich (im Verlauf von Krisen) „kommandokommunistische“ Gepflogenheiten und Strukturen heraus.

„Die Russische Frage“ wirkte in den zwanziger Jahren weit in die deutsche Gesellschaft hinein und führte zu strategischen Ausrichtungen, keineswegs nur bei der radikalen Linken. Diese Frage war damals gleichbedeutend mit Sieg der Oktoberrevolution und mit großer Anziehungskraft auf unterschiedliche aber recht breite gesellschaftliche Kräfte. Bedeutende Vertreter der bürgerlichen humanistischen Intelligenz solidarisieren sich mit Russland und stoßen zur Linken. Deutschland wird von den Unsicherheiten der Nachkriegskrise und den Lasten von Versailles erschüttert, und auch Herrschaftskreise setzen zumindest zeitweilig auf taktische Annäherung an Russland. Die Sozialdemokratie versteift sich auf Antikommunismus und der Bruderkampf zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, deren Masseneinfluss steigt, nimmt großen Raum ein.

„Die Russische Frage“ ist allgegenwärtig, wobei sie zunehmend die Handschrift Stalins zeigt. Unter den Bedingungen der großen Krise ab 1929 trägt sie zur Dynamisierung des Klassenkampfs in Deutschland bei. Der steuert auf eine holzschnittartig verengte Fragestellung: „Wer? Wen?“ zu, also auf die Machtfrage. Mir erscheinen die Kommunisten in dieser Situation sowohl als Getriebene, als auch als Treiber, jedoch ohne ausreichendes Konzept. Die realen Machthaber Deutschlands, genauer die „reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals“ (Dimitroff) lösen die Machtfrage präventiv durch die Errichtung des Faschismus. Dies geschieht lange bevor die KPD und ihre Verbündeten, bevor alle demokratischen Kräfte des Volkes, zu diesem Kampf reif und bereit sind. Ihre Niederlage ist daher unvermeidlich und nachhaltig.

Ich glaube, dass hier „Die Russische Frage“ für die radikale deutsche Linke zum ersten Mal ein Doppelgesicht gezeigt hat: Sie vermochte die deutsche Linke zu historischer Höhe hochzureißen, und zugleich war ihre sozusagen „deutsche Umformulierung“ notwendig. Dass gelang nur ungenügend und hat zu der schlimmen Niederlage 1933 beigetragen. „Die Russische Frage“ musste und muss offensichtlich als DOPPELTE Herausforderung begriffen werden.

Der zivilisatorische Rückschlag, der dem deutschen Volk 1933 bis 1945 zugefügt wurde und den es sich damit auch selbst zugefügt hat, ist unermesslich. Dieser Rückschlag betrifft darüberhinaus ALLE Hauptmächte des zweiten Weltkriegs, an erster Stelle die USA, und er betrifft Israel, und er ist NICHT  überwunden im Sinne von ausgemerzt. Eher trifft es zu, dass er ins Alltagsleben der imperialistisch geprägten Welt diffundiert und täglich wirksam ist.

1945 heißt „Die Russische Frage“ Antifaschismus und Systemalternative „stalinistischer Sozialismus“ bzw. später „Realsozialismus“. Ich übergehe hier den seither vergangenen Zeitraum, verweise auf einige Bemerkungen im Teil 1.

„Die Russische Frage“ heute ergibt sich aus der schieren Macht dieses Riesenlandes, aus seiner einzigartigen geopolitischen Lage und Aktivität und ergibt sich aus seiner dramatischen, revolutionär-konterrevolutionären Geschichte, deren letzte 140 Jahre dort präsent sind und die, wie jede Geschichte, offen ist. Inhalt der russischen Frage heute ist der Weltfrieden, das Überleben der Menschheit und vielleicht auch die allmähliche Herausbildung einer harmonischeren, lebenswerteren, weniger ausbeuterischen Welt.

Deutschland könnte eine hervorragende historische Rolle spielen, wenn es die russische Frage von heute annimmt/aufnimmt und in ganz eigener Weise beantwortet. Die Chancen, dass Deutschland sich aus Eigenem zu einer solchen Politik durchringt, stehen schlecht. Darüber zu jammern, erspare ich mir, halte aber einen Punkt fest: Es gibt radikale deutsche Humanisten/Kommunisten. Ihr politischer Einfluss ist etwas größer als ihre geringe Zahl und Fast-Nicht-Organisiertheit bzw. Unzeitgemäß-Organisiertheit erwarten lässt, trotzdem ist er viel zu gering. Sie verfügen (ähnlich wie 1918) seit mehr als drei Jahrzehnten über keine eigene politische Partei auf der Höhe der Zeit. Ich meine, dass sie sich, wie Lenin 1902 (aber selbstverständlich ohne Lenin zu kopieren), mit aller Konsequenz dieser Frage zuwenden müssten. Es gibt keine wichtigere Aufgabe. Zu dieser ziemlich einsamen Überzeugung bin ich gekommen.

Hat die russische Frage vielleicht auch eine ganz persönliche Seite? Dazu noch ein wenig in einem vierten Teil.

Hier ist Teil 1 zu finden.

Hier ist Teil 2 zu finden.

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