Die russische Frage (der Russen) – (2)

Mit seinem epochalen Werk „Was tun?“ (1863) hatte Tschernyschewski sich der nationalen Frage seines Heimatlandes gestellt, seiner „russischen Frage“, und er hat seine Antwort gegeben. Der Inhalt der Frage war, mit einem Wort gesagt: die soziale Revolution, und Tschernyschewskis Antwort war im Grunde: der Berufsrevolutionär.

Der Russe Tschernyschewski gehörte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neben Marx und Engels zur geistigen Elite Europas (bis heute haben Viele in Mittel- und Westeuropa das nicht bemerkt), einer Elite, die das Denken der menschlichen Emanzipation vorantrieb. Karl Marx schätzte Tschernyschewski hoch. Marx, Engels, die Internationale Arbeiterassoziation (IAA, 1864), die französischen Kommunarden begriffen die Notwendigkeit der sozialen Revolution. Die soziale Revolution als Inhalt der „deutschen“, der „französischen“, der „britischen“ usw. Frage. Damals gab es keine exklusive „russische Frage“.

Bitte die gelegentlichen Töne leiser Ironie in den folgenden Absätzen nicht überhören.

Alle Mittel- und Westeuropäer wissen, wie zurückgeblieben, finster, barbarisch es im Reich des russischen Selbstherrschers zuging. Erst 1861 wurde die Leibeigenschaft aufgehoben, Verhältnisse, an das sich „in deutschen Landen“ kaum noch jemand erinnerte. Zu allem Unglück gerieten viele ehemalige Leibeigene Russlands in Schuldknechtschaft, ihre Lage verschlechterte sich immer weiter bis ins 20. Jahrhundert hinein. Und politische Rechte, Demokratie in Russland, Republik? Fehlanzeige. Zugleich aber feierte in Deutschland die Sozialdemokratie trotz der Sozialistengesetze Wahlerfolge, um schließlich 1890 sogar über diese Gesetze zu triumphieren. In Russland knüpfte Lenin 1902 an Marx und Engels aber auch direkt an Tschernyschewski an. Die russische Gesellschaft war von Klassenwidersprüchen zerrissener, denn je. Die soziale Revolution wurde zur Tagesaufgabe, und dieser wurde Lenin mit seinem Konzept der Avantgardepartei gerecht. Dagegen im „zivilisierten Westen“ fast schon Idylle. Gewiss gab es viel zu Verbessern. Es war um Reformschritte und-schrittchen zu streiten, unablässig, von Wahl zu Wahl; mit begeisternden Parlamentsreden der Führer und mit dem sprichwörtlichen Bildungsstreben („Wissen ist Macht!“) in den Vereinen an der Basis. Was sollte da noch das Fernziel der sozialen Revolution, das irgendwo im jakobinischen Blutnebel lag?

Auf breiter Front wandte sich das emanzipatorische Streben im Westen von der Perspektive der sozialen Revolution ab, während in Russland maßgebliche Kräfte darauf beharrten – das war der „Zeugungsvorgang“ der späteren „Russischen Frage“ in Deutschland.

Wie konnte es zu dieser Abwendung kommen? War der Kapitalismus im Westen denn so viel menschenfreundlicher, dass sein friedliche „Transformation“ nur noch eine Frage der Zeit sein würde?

Ich sehe die Erklärung darin, dass die volle Wucht der kapitalistischen, zunehmend imperialistischen, Widersprüche aus den Gesellschaften der westliche Industrieländer weitgehend „hinaustransportiert“ wurde, exportiert vor allem in die Kolonien. (Engels stellte schon frühzeitig (wann?) leicht ironisch fest, dass das bürgerlichste Land, England, wohl auch eine bürgerliche Arbeiterklasse hervorbringen wolle.) Selbst die größten Verbrechen wurden abgespalten in fremde, auch räumlich entfernte Welten des Kolonialen, des Zivilisationsfernen, der Sklaverei. Aus ihnen drangen höchstens einige pittoreske Signale nach Deutschland, in die „gute Stube“, die sich auch der Sozialdemokrat inzwischen eingerichtet hatte.

Ausrottung der „roten Teufel“ in Nordamerika (Wounded Knee 1890). Abschaffung der Sklaverei in den USA 1865 (Beendigung der Rassengesetzgebung in den 1960er Jahren!). Völkermord im Kongo (nach der Berliner! Kongokonferenz 1885) durch König Leopold II von Belgien zwischen 1888 und 1908 (dessen Reiterstandbild noch heute in Brüssel zu bestaunen ist). Deutscher Völkermord an den Herero und Nama (1904-1908), bis heute nicht gesühnt. Kolonialgräuel in Britisch-Indien, in China, in Afghanistan, in Arabien… eine Liste, die kein Ende findet.

Immerhin veröffentlichte Joseph Conrad bereits 1899 seine „Reise ins Herz der Finsternis“. Auch ohne Internet – wer wissen wollte, konnte wissen. Es darf gefragt werden, ob und wie die Bebel, Liebknecht, Luxemburg, Kautsky, der alte Friedrich Engels auf diese Ereignisse reagierten.

Wer nicht wusste, konnte gut leben, lange Zeit. Wer nicht wissen wollte, auch; geriet dann aber („schlafwandelnd“) ins Elend des ersten Weltkriegs… und stand 1917 betäubt vor den Revolutionen der Russen. Die holten dafür keinerlei westeuropäische Genehmigung ein.

Die Große Sozialistische Oktoberrevolution löste die nationale Frage der Russen. Die Novemberrevolution löste die nationale Frage der Deutschen nicht. ABER: Die Oktoberrevolution zielte von Anfang an konsequent auf die Weltrevolution. Geführt von Lenin, der nicht nur fest in der revolutionären Tradition von Marx und Engels wurzelte, sondern auch Hegels Dialektik  studiert hatte, zudem ein politisches Genie war, stellten sich die Bolschewiki der einzigartigen widersprüchlichen Aufgabe, in EINEM Land zu siegen und zugleich die Revolution AUF DER GANZEN Welt voranzubringen.

Diese Situation wurde in den Ländern außerhalb Russlands, namentlich in Deutschland, dem Hoffnungsträger der Bolschewiki (und ewigen Hoffnungsträger der Russen ;-)), als „Die Russische Frage“ wahrgenommen. Dazu später mehr. Zunächst bleibe ich bei der „russischen Frage“ aus Sicht der Russen.

Die Führungsarbeit Lenins, auch im turbulenten Tageskampf immer theoriegegründet und theoriebildend, bis hin zu seinen letzten Einschätzungen und Vorschlägen 1923, überzeugen mich, dass ein Weg zur Meisterung der genannten „einzigartigen widersprüchlichen Aufgabe“ zu finden war. Tatsächlich haben die russischen Revolutionäre im Ganzen gesehen diesen Weg nicht gefunden und am Ende die Potentiale aus Lenins Erbe verspielt. Die Antwort auf die „russische Frage“ unter Stalin war: Bewahrung einiger wesentlicher Errungenschaften der ökonomischen/sozialen Revolution, Beschränkung und schließlich Liquidierung der politischen und geistigen/kulturellen Revolution und all das unter gewaltigen Opfern. Das führte zu vielen „realsozialistischen Erfahrungen“, zeitweilig zu einer bedeutenden Stärkung des Landes, und es erlaubte die unvergleichliche zivilisatorische Leistung der Zerschlagung des deutschen Faschismus als Hauptkraft der Anti-Hitler-Koalition (vom Anteil des Sowjetunion an der weltweiten Überwindung des alten Kolonialismus zu schweigen). Dennoch behinderte die Stalinsche Antwort die schöpferischen Entwicklung des Sozialismus fundamental (IMMER unter den Bedingungen eines scharfen Klassenkampfs), verstopfte zunehmend und am Ende vollständig alle seine Möglichkeiten bis hin zur totalen Zerstörung, die primär eine Selbstzerstörung war. Lenins Satz, dass der Kommunismus nur von den Kommunisten beseitigt werden könne, haben wir Nachfahren alle leider restlos verwirklicht.

Beginnend mit dem Delirium der Jahre 1991/93 wurde „die russische Frage“ künftig mit Hilfe des russischen Roulettes beantwortet (nur echt mit amerikanischen Sekundanten). Jahrelang waren nur besoffene Spieler zugelassen, deren Schüsse wunderbarerweise stets das eigene Volk trafen. Als Chodorkowski 2003 zum Schuss auf’s Herz ansetzte, entschied man sich, das Spiel abzubrechen. Seitdem ist das Bild vom russischen Bären, der Unglaubliches aushält, aber zuletzt doch zurückschlägt, und dann „Gnade Dir Gott!“, wieder geläufig geworden. – Russland stellte sich seiner endgültigen Kolonialisierung durch die designierten WeltherrscherInnen entgegen und entschied sich für Souveränität. Das ist ein Kurs, der sich entwickelt, allmählich klarer ausprägt und „Die Russische Frage“ heute mit neuem Inhalt, mit zwei Seiten, wieder auf die Tagesordnung gebracht hat:

Russland verteidigt erfolgreich seine Souveränität gegen USA/NATO/EU und vertritt zugleich die Vision einer multipolaren Welt friedlich kooperierender Nationalstaaten. Das ist der zivilisatorische Gehalt der ersten Hauptseite „der russischen Frage“, der sich mit dem Lebensinteresse ALLER Menschen (minus Kriegstreiber und -profiteure) deckt. Zugleich verlangt die dauerhafte Lösung der nationalen Frage der Russen eine hohe emanzipatorische Dynamik der gesamten russischen Gesellschaft – ökonomischen, sozialen, politischen, geistigen, kulturellen Fortschritt auf breiter Front. Das ist ihre zweite Seite. Gutes Gelingen! (Ob sich hinter dieser komplexen Aufgabenstellung nicht die gute alte Frage nach der sozialen Revolution verbirgt? Die GANZE Revolution, als ökonomisch-soziale, politisch-republikanische und geistig-kulturelle! Nun in zeitgemäßer Form, die heut‘ noch keiner kennt?)

Auch diese Seite der „russischen Frage“ hält große Möglichkeiten der wechselseitigen Anregung und direkten Anknüpfung für die Gesellschaften anderer Länder bereit. Vor allem wir Deutschen sollten das wahrnehmen und darauf mit Tatkraft reagieren, anstatt uns ins Bockshorn der Dämonisierung Russlands jagen zu lassen. Damit stehen nun einige Überlegungen an, was die „russische Frage“ für uns Deutsche bedeutet hat und bedeuten könnte. Darum soll es im dritten Teil gehen.

Hier ist Teil 1 zu finden.

Hier geht es zu Teil 3.

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