Zeitreise – das persönliche Geschichtsfenster

„Was ich besitze, seh ich wie im Weiten,
Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.“
Goethe, Faust I, Zueignung

Der Mensch, über Erlebtes nachdenkend, hat selten mehr als 20 Jahre im Blick; 20 oder 25 Jahre zurück, ebenso viele voraus. Früher nannte man das den Zeitraum von Generationen. Als solcher bleibt er in gewissem Sinne gegenwärtig, dem Gedächtnis unmittelbar verfügbar. Was darüber hinaus reicht, verlangt Bemühung.

Natürlich vermag der Mensch auch längere Zeiträume zu bedenken. Namentlich der alte Mensch, wenn er an Kindheit und Jugend zurück denkt, geht 60, 70, ja 80 Jahre in die Vergangenheit. Je weiter zurück, umso persönlicher, begrenzter ist das Erinnerte. Komplexe unmittelbare Erinnerungen an das gesellschaftliche System sind eher die Ausnahme. Aber nachträglich können solche persönlich erlebten Einzelheiten durchaus in das damalige gesellschaftliche System eingeordnet werden. Das ist eine Form der bewussten Aneignung, die zu einem besonderen persönlich-geschichtlichen Wert führen kann. So kann eine Qualität entstehen, die Erfahrenes aus Sekundärquellen oft nicht erreicht.

Was ich feststelle, ist im Grunde ein Plädoyer für kleinfamiliär, großfamiliär und lokal vermitteltes lebendiges Leben als bedeutsamer Faktor der Persönlichkeitsentwicklung. In Deutschland mit seinen massiven Brüchen in allen familiären und intimen Lebenszusammenhängen seit etwa 1914, den letzten Tagen der Menschheit, herrscht ein Massendefizit dieser „Seite“ der Menschwerdung.

Man kann es als ein Defizit an Verwurzelung bezeichnen. Ich glaube, dass das manipulierbar macht.

Wer an Gedankenspielen interessiert ist, mag erwägen, dass die (denkbare) maximale Ausdehnung von persönlich erlebt Übermitteltem 220 Jahre und mehr betragen kann:
Mein Stief-Großvater war Jahrgang 1875. Er erzählte mir, dem etwa Achtjährigen, stolz, dass er am Viadukt Stadtilm (1892/93) mit gebaut hätte.

(Mein Vater (Bau-Ingenieur) musste natürlich Wasser in den Wein dieser Erzählung gießen, indem er mich aufklärte, dass „der Alte“ nur Kutscher war und nur Steine transportiert hatte.)

Gäbe es einen Anlass, dass ich diese Erzählung meinem Enkel, Urenkel oder dem sechsjährigen Nachbarsjungen heute weitergeben würde, so könnte sich dieser in 70, 80 Jahren daran erinnern (im Jahr 2100!), und so würde der Bogen gespannt vom letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts bis zum ersten des 22. Jahrhunderts.
Nicht auszudenken, wenn mein Stief-Großvater davon berichtet hätte (ich konstruiere), dass sein Vater an der Niederschlagung der Pariser Kommune beteiligt war…

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