Zeitreise: Kurzbesuch bei den Eltern

Kürzlich erinnerte ich mich, dass die große Zäsur meines Lebens – der Untergang der DDR und des Realsozialismus – schon drei Jahrzehnte zurückliegt. Das ist eine Zeitspanne, die man schon als historische bezeichnen darf. Der große Knall vor 33 Jahren und seitdem ist, gefühlt, nix passiert.

Welche Überfülle historischer Ereignisse haben dagegen meine Eltern in ihren besten Jahren erlebt. Geboren 1906 und 1907 lag ihre Kindheit in der Kriegs- und Nachkriegszeit. 1923, während der Hyperinflation, waren sie jugendlich. Wenige ruhige Jahre, um einen Beruf zu lernen und eine „Existenz“ zu gründen. 1933, sie waren 26!, beginnt der Faschismus. Mit 32, 33 gehen sie in den Krieg. sechs lange Jahre. Völliger Zusammenbruch. Völliger Neuanfang. Zum dritten Mal völlig neue Zeit. Das jüngste Kind ist vier. Mutter ist jetzt 40 und hat noch sieben Jahre zu leben.

In meinen letzten dreißig Jahren, wie ich salopp sagte, ereignete sich nichts. In den dreißig Jahren meiner Eltern schlug die Weltgeschichte unbarmherzig wie mit Hämmern auf sie ein. Und welche begrenzten persönlichen Mittel waren ihnen gegeben, um damit menschlich fertig zu werden!

Ich denke ganz neu mit einem großen, großen Mitgefühl an meine Eltern. Und mit großer, neu erwachter Hochachtung; obwohl ich sie weiterhin nicht idealisiere.

Ich denke und schreibe „Eltern“. Doch was ich über sie sage, übertrage ich auf alle meine Mitmenschen dieses deutschen Volkes. Und auf die vielen, vielen anderen Menschen; an erster Stelle die Russen, wir sagten damals „Sowjetmenschen“, von denen ich zahlreiche Schicksale kennengelernt habe. Und natürlich sind mir diejenigen bewusst, die alle in den Konzentrations- und Vernichtungslagern litten und starben.

Erinnerung tut not, Vergegenwärtigung der Vorzeit, immer als persönliche Bemühung. Dabei sollen wir uns gegenseitig anregen. Und auch Außenstehende, solche, die Ihres beitragen, sollen ihre Stimme erheben. Kultur aber und das gilt auch für „Erinnerungskultur“ wird nicht verordnet und gelenkt. Und Staatsräson kann sie schon ganz und gar nicht sein. Möge jeder sich fleißig erinnern und zugleich fein darauf achten, wenn er genötigt werden soll.

Und Streit ist dabei nicht nur erlaubt, sondern erwünscht.

Dieser Beitrag wurde unter Bewußtheit, Demokratie, Faschismus alt neu, Krieg, Kunst, Leben, Machtmedien, Mensch, Musik, Realkapitalismus, Realsozialismus, Widerstand abgelegt und mit , , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

7 Antworten zu Zeitreise: Kurzbesuch bei den Eltern

  1. MSC schreibt:

    Made my day!

    Als meist genügsam mitlesender, gelegentlich kommentierender, einmal sogar zensierter Beobachter hätte ich dieses in einem Blog dieses Formates nicht erwartet:

    “Der große Knall vor 33 Jahren und seitdem ist, gefühlt, nix passiert.”

    Die sich aufdrängende Diskussion wurde zu Zeiten Loriots bereits vorweggenommen; ich meine die Sache mit dem weichgekochten Ei usw.

    Biographisches soll hier keine große Rolle spielen, außer dass in der Rückschau eines früheren DDR-Menschen die letzten dreißig Jahre wenigstens phasenweise etwas atemlos-euphorisches hatten. Relativ unbeschadet von Treuhandschweinereien, befreit von der gefühlten, immer drohenden Repression bestimmter Staatsorgane, befreit von Grenzen von Nordkap bis Südafrika, Möglichkeiten der Bildung ohne Vorlage bestimmter staatsideologiekonformer Nachweise und anderes mehr. Und, ja, auch die berühmte Banane war beteiligt.

    Aber die Fahrt im Rollercoaster geht auch wieder bergab. 2001: Robert Kurz’ bestechende Analyse zur Aporie des kapitalistischen Akkumulationsregimes (Schwarzbuch Kapitalismus), deren Richtigkeit, nicht nur gefühlt, immer stärker sicht- und erlebbar wird. Im selben Jahr: 9/11. Nix passiert? Wolfowitz’ Diktum aus dem Jahr 1991? Sieben Länder in fünf Jahren, wie 2001 an Wesley Clark herangetragen und später von ihm ausgeplaudert? Das immer weitere Ausgreifen der Nato (lies: Nordatlantische Terrororganisation) nach Osten. Kriege, Elend, Flüchtlinge ohne Ende. Eine “Union” auf diesem Kontinent, die immer mehr entartet, genau so wie die Politik im eigenen Land. Um Helmut Kohls Parole von 1980 von einer “geistig-moralischen Wende” aufzugreifen: dieses Land gleicht inzwischen eher einem geistig-moralischen Totalschaden. Die Ungeheuerlichkeit, dass eine Mafia aus Politgangstern und Medienkriminellen, die sich mit Mainzelmännchen und Faktenfindern camouflieren, die von ihnen Beschissenen und Verhetzten noch selbst dafür bezahlen lassen.

    Ich kürze ein wenig ab. Dem maßgeblich US-gesteuerten Putsch 2014 , mit freundlicher Unterstützung eines Herren, dessen Namen zu schreiben mir beim besten Willen nicht gelingen will (sagen wir, ein entfernter Bekannter von Murat Kurnaz), verdanken wir nun einen offenen Krieg in Europa, der auch am eigenen Herd die “gefühlt ereignisarme Zeit” beenden sollte. Freilich nicht in einer Weise, die man sich wünschen würde, aber dafür haben wir einen Logenplatz, um einen winzigen Ausschnitt der Entstehung einer neuen Weltordnung zu beobachten.

    Wenn daraus ein Modell entstehen sollte, das wenigstens in der Tendenz mehr Menschlichkeit verspricht, wäre das schon eine große Sache (noch besser wenn Xi – ‘in hundert Jahren werden wir Sozialismus haben’ – sein Vorhaben gelingen sollte).

    Dankbar bin ich den vielen Menschen, die mir meine wertvolle Zeit stahlen und stehlen, weil ich ihre Bücher und ihre publizistischen Sachen einfach nicht links liegenlassen kann. Nur die ersten, die mir einfallen: Hermann Ploppa, Ken Jebsen, Walter van Rossum, Mathias Bröckers, Milena Preradovic, Dagmar Henn, Andy Steel, Christopher Gioia, Paul Schreyer, Dirk Pohlmann, Thomas Röper, Peter Frey, Dr. David Martin, Paul Brandenburg, Michael Ballweg, Julian Assange. Ich könnte noch Dutzende mehr nennen.

    Also, mehr Ereignisse seit dem großen Knall vor 33 Jahren hätte ich wirklich nicht gebraucht.

    Klar auch, dass einem Durchschnittslindenstraßengucker vieles von dem nicht auffallen braucht; jedenfalls solange nicht, wie noch Strom aus der Steckdose kommt. Aber die PLandemie, von der hätte ich in dieser Hinsicht ein größeres Potential erwartet.

    Ich schließe mit einer Prise Hatespeech:

    “Ach, wir hatten viele Herren,
    Hatten Tiger und Hyänen,
    Hatten Adler, hatten Schweine
    Doch wir nährten den und jenen.
    Ob sie besser waren oder schlimmer:
    Ach, der Stiefel glich dem Stiefel immer,
    Und uns trat er. Ihr versteht, ich meine,
    Dass wir keine andern Herren brauchen, sondern keine!”

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    • kranich05 schreibt:

      Hallo,
      ich konnte mir naheliegende Einwände vorstellen, deshalb habe ich meine provozierende Behauptung mit einem „gefühlt“ etwas relativiert.
      Und tatsächlich sehe ich rel. bedeutende Veränderungen im Bereich IT/Digitalisierung.
      Der andere Kram (von Nordpol bis Südpol und so) – geschenkt.
      Dass wir die (sich fleißig wandelnde) fdGO haben war 1991 so klar wie 2021, dito der sich verflüchtigende Sozialstaat.
      Interessanter finde ich aber ein anderes Unwandelbares:
      Als die Russen Anfang der 90er Jahre abzogen, hat ihnen kaum ein Deutscher ’nen Blumenstrauß überreicht. Vor allem aber:
      Keiner kam auf die Idee, dass die Amerikaner nichts in Deutschland zu suchen hätten.
      Komisch – genau wie heute! Oder?
      Ja, heute gibt es eine gewaltige Veränderung:
      Einige besonders Helle weinen darüber, dass Deutschland ein besetztes Land sei.

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  2. fidelpoludo schreibt:

    Die Erfahrung von „großer, neu erwachter Hochachtung“ den Eltern gegenüber kann ich nur bestätigen. Nicht ohne die Rückerinnerung an die von „links“ getriebene (besonders auch von den 68ern) Verachtung gegenüber unserer Elterngeneration. Für diesen Irrtum schäme ich mich. Wir waren in den „Schuldkult“ Getriebene, die sich als ehrliche „Aufarbeiter der Vergangenheit“ fühlten und aufführten – mit dem bezeichnenden Höhepunkt „Bomber Harris, do it again!“.

    Kultur aber und das gilt auch für „Erinnerungskultur“ wird nicht verordnet und gelenkt. Und Staatsräson kann sie schon ganz und gar nicht sein.

    Die Sätze gelten idealer Weise, leider aber bis heute auf keinen Fall realer Weise. Die Bundesrepublik war und ist ein mit dem „Schuldkult“ durchtränktes, von oben mental überwachtes, in fast jeder Hinsicht kontrolliertes Gebilde, in dessen Innern von der Politischen Korrektheit abweichendes Denken entweder verdächtigt oder juristisch verfolgt und sanktioniert wird. Eine Athmosphäre, die allerdings auch die Andersdenkenden nicht vor Übertreibungen, Einseitigkeiten und Irrtümern schützt. Aber das Recht auf Irrtümer sollte im Recht auf Meinungsfreiheit aufgehoben sein. Eine Aufklärung von Irrtümern kann nur im Rahmen einer freien Diskussion in einer freien Öffentlichkeit stattfinden, der der Zugang zu wichtigen, für ihren Alltag und ihr Leben bedeutsamen Informationen nicht vorenthalten werden darf.

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  3. fidelpoludo schreibt:

    In den Gedanken und Betrachtungen deiner „Zeitreise“ ist ein bestimmter Begriff zwar umschrieben, nicht aber explizit genannt. Und zwar der des Traumas. Und zwar im Besonderen der des „kollektiven Traumas“, von dessen Aufarbeitung das „Heilen der deutschen Seele“ – ganz unmaterialistisch – abhängig ist. Um mich auf das letzte Jahrhundert zu beschränken, möchte ich mindestens drei nennen:
    — Das kollektive Trauma des Nationalsozialismus oder Faschismus
    — Das kollektive Trauma des 1. und 2.Weltkrieges
    — Das all zu oft übersehene (und völlig zu Unrecht als Weg zur Heilung missverstandene) kollektive Trauma der Umerziehung durch die Alliierten, das dem Ende des 2. Weltkrieges unmittelbar folgte

    Eine Wahrnehmung der Ausmaße dieses dritten kollektiven Traumas hat es auf einzigartige Weise von dem kanadischen Autor James Bacque: Die verschwiegene Schuld. Die alliierte Besatzungspolitik nach 1945 in Buchform gegeben
    https://t1p.de/pfkv7
    (unsere geschäftigen Umerzieher – bzw. deren Handlanger in der Wikipedia – haben es dann flugs dem „Geschichtsrevisionismus“ zugeordnet, was politisch korrekt dem Vorwurf des „Antisemitismus“ und der „Holokaustleugnung“ entspricht und folglich der Zensor von oben bedarf. Also kaum ein Zufall, dass das Video, das auf diesem Buch aufbaut und von dem Buchautor selbst kommentiert wurde, ebenso flugs von YouTube gelöscht worden ist).
    Überprüft bitte den Vorwurf selbst:
    „Die verschwiegene Geschichte Deutschlands nach 1945 (2016)“
    https://odysee.com/@re-upload:8/Die-verschwiegene-Geschichte-Deutschlands-nach-1945-(2016):3

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    • fidelpoludo schreibt:

      Ein viertes kollektives Trauma, an dem der globale Westen leidet, ist damit angedeutet:
      Die westlichen allierten Mächte nehmen sich heraus, als Sieger die Geschichte nach ihrem Gutdünken zu schreiben und dabei ihre eigenen Greueltaten gefälligst unter den Tisch fallen zu lassen. Und nicht genug damit: Als unipolare Sieger der Geschichte maßen sie sich an, die Welt nach ihren Maßstäben zu beherrschen, umzuformen und zu dominieren. Ein pathologisches Trauma, das umso länger vorhält als es von Erfolg gekennzeichnet war. Und aus dem zu erwachen die gebeutelten Staaten (Russland, Lateinamerika, Afrika etc.) noch am ehesten die Chance haben.
      Die „Heilige Allianz“ aus Vatikan, London City, Wallstreet, WHO, WTO, NATO, EU etc. droht auseinander zu brechen und wird wohl nicht mehr genug Zeit haben, ihre Tage zu zählen.

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    • kranich05 schreibt:

      Ich habe die Dokumentation von James Baque gesehen und finde sie informativ.
      Das alles muss bewusst werden, wenn ein angemessenes geschichtliches und gesellschaftliches Bewusstsein entstehen soll.
      Mängel hat die Dokumentation m. A. n. bei der Wertung der deutschen/faschistischen Kriegsverbrechen.
      Baques Buch „Verschwiegene Schuld“ 300 Seiten, ist übrigens mühelos im Web als kostenlose pdf zu finden.

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      • fidelpoludo schreibt:

        Du magst damit Recht haben. Allerdings ist der Faschismus (zumindest der deutsche) nicht das Thema des Buches. Es geht um Deutschland nach 1945 und den „Faschismus“ der sich antifaschistisch gebärdenden Besatzer, unter denen gerade die westlichen Besatzungsmächte sich zweifellos besonders hervortun. Es geht um den verborgenen Fachismus der „Antifaschisten“, ein Thema das James Bacque nicht einmal erschöpfend behandelt, wenn man sowohl die faschistischen Karrieren sowohl in der BRD als auch besonders in den USA bedenkt. Nicht wenige Historiker (akademische fast auszuschließen) sehen die Bildung, das Wirken und die Struktur des CIA (inklusive seiner Aktivitäten gerade in Europa und Westdeutschland – „Operation Paperclip“etc.), um es etwas übertrieben zu formulieren, als Sieg der Nazis gerade in dem Moment, indem Deutschlands Niederlage gefeiert wurde. Der Nazi-Spuk ist durch das Ende des 2.Weltkrieges keineswegs beendet worden. (Wo und in wessen Auftrag hat Mengele seiner „wissenschaftlichen“ Karriere die Krone aufsetzen können – oder Wernher von Braun?) Er hat nur sein Hemdchen gewechselt. Ansätze davon sind zuletzt gerade wieder in der Ukraine zu besichtigen, samt seiner zionistischen Verbündeten (wenn nicht gar Antreiber). Die Geschichte schlägt ihre irren Purzelbäume.

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