Gegen das Vergessen 4/20

Erzählungen zum Kriegsende 1945 in Oranienburg

von

Mathilda Seithe

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Teil 4 – So lernt man sich kennen

Bisher erschienen: Kapitel 1 bis 19

20. Das andere Gebinde

Nach der Bürgermeisterrede ging die zweite Reihe der Besucher vor bis zur unteren Stufe des Gedenksteines. Auch sie legten einen Kranz nieder und blieben danach mit gesenktem Kopf einige Sekunden lang still vor dem Denkmal stehen.

Mit der dritten Reihe kamen Leute heran, die ein Blumengebinde trugen. Beate fiel auf, dass nicht die üblichen Trauerblumen in dem Gebinde verarbeitet waren, sondern solche Blüten, über die man sich auch in einem Blumenstrauß auf dem Wohnzimmertisch freuen würde. Freesien, Zinnien, Farn, alles in Hellgelb und Orange gehalten. Die Leute legten das Gebinde so wie die anderen vor ihnen auf die Treppenstufe und ordneten die daran befestigten Schleifenbänder.

„Dank und Ehre unseren Befreiern“ stand auf dem einen, und „Frieden mit Russland“ auf dem anderen. Beate stutzte. Das waren Töne, die bisher weder in der Rede des Bürgermeisters angeklungen, noch auf den Bändern der beiden Kränze zu lesen waren. Die Feier wirkte eher wie eine der üblichen Feiern zum Gedenken der im Krieg Gefallenen. Die Russen wurden als Opfer mitbedacht, nicht als das, was sie damals eigentlich waren: als Befreier vom Nationalsozialismus.

Ob das den anderen hier überhaupt klar war? Beate sah sich die Leute an, die jetzt Schritt für Schritt in Reihen nähertraten, um vor dem Denkmal zu verharren. Aber es war niemandem ins Gesicht geschrieben, ob er hier die Befreiung vom Faschismus feierte oder einfach nur die Toten ehrte, die damals auf beiden Seiten gefallen waren.

Beate schaute sich das Gebinde dieser Gruppe genauer an. Auf der Schleife stand ganz unten der Name der Organisation, von der das Blumengesteck stammte. Sie hatte ihn noch nie gehört. Oder doch? Doch, da war eine vage Erinnerung. Aber sie hatte keine Ahnung, ob diese Gruppe auch in Oranienburg existierte. Auf alle Fälle zeigten die ein deutlich anderes Verhältnis zum Anlass der Feier und zu den sowjetischen Befreiern als die anderen hier, die zu Worte kamen.

In diesem Moment löste sich die blonde Frau, die zusammen mit der Brünetten in ihrer Reihe mitgelaufen war, und ging zu den Leuten hinüber, die dieses bemerkenswerte Gebinde hingelegt hatten. Sie sagte etwas zu ihnen und wurde freundlich begrüßt. Vielleicht gehörte sie dieser Organisation auch an. Beate stellte fest, dass die andere der beiden Frauen, ihrer blonden Begleiterin ebenso erstaunt hinterher sah, wie sie selbst.

„Sind Sie auch aus Oranienburg“, sprach die dagebliebene Frau Beate an. Die nickte.
„Ich auch“, betonte Karola und genoss offenbar den erstaunten Blick der Frau.
„Sie gehören nicht zusammen?“, fragte die Blonde dann.
„Nein, wir haben uns auch erst eben hier kennengelernt.“

„Wir sind ja alle offenbar ein wenig zu jung für diese Veranstaltung“, witzelte die blonde Frau.

„Ja, alle, die noch nicht bald 70 sind, scheint das hier gar nichts anzugehen. Ich finde das merkwürdig, oder?“, antwortete Beate bereitwillig.

„Ehrlich gesagt, ich wäre hier nie gelandet, wenn meine Schwester mich nicht darauf gebracht hätte. Sie ist zu Besuch bei uns. Sie wusste von dem KZ hier in Sachsenhausen und wollte es unbedingt sehen. Nun ja, das geht nicht einfach so an einem vorbei. Ich war tief geschockt. Ich frage mich seitdem ständig, wie können Menschen so etwas tun?“

„Das habe ich mich auch gefragt. Ich war mit meiner Tante drin. Ich wohne hier in der Nähe, in einem der für die KZ-Wächter erbauten Häuser. Wir wussten das erst nicht. Seit ich es weiß, habe ich angefangen, die Zeit des Nationalsozialismus genauer zu studieren. Es lässt mich auch nicht mehr los.“

„Interessant, genauso geht es mir, seit ich das KZ besucht habe. Ich heiße übrigens Angelina. Ich bin die Frau von dem Pizzabäcker, der hier, ein paar Straßen weiter, die neue Pizzeria aufgemacht hat. Und wie heißen Sie?“, fragte sie jetzt direkt Karola.

Sie stellten sich gegenseitig vor. Als Manuela zurückkam, waren die anderen drei schon beim Du. Die Frauen tauschten sich weiter über ihre Erfahrungen und über die Anlässe aus, die sie dazu gebracht hatten, sich mit dem Kriegsende zu befassen und heute hier auf den Ehrenfriedhof zu kommen.

„Kommt ihr noch mit zu den Gedenktafeln dort überall hinter dem Denkmal? Da sind die Russen aufgezählt, die in den letzten Tagen vor Kriegsende noch gefallen sind. Ich kann zwar kein Russisch, aber die Namen, die kann man schon entziffern“, erklärte Manuela.

Sie gingen zusammen nach hinten, während sich die meisten der Besucher wieder aus der Anlage entfernten.

„500 russische Soldaten liegen hier und auch noch Insassen des KZs, die nach der Befreiung starben, weil sie einfach nicht mehr konnten“, erzählte Manuela. Sie hatte es bei Google nachgelesen.

„Kommt mal mit!“, meinte dann Angelina. „Wir zeigen euch was.“

Beate und Karola folgten den beiden Schwestern zu einem der hinteren Grabsteintafeln, die voll geschrieben waren mit langen Listen russicher Namen.

„Fällt euch was auf?“, fragte Angelina.

Sie gingen die Namen durch. Nein, es fiel ihnen nichts weiter auf.

„Hier steht zweimal derselbe Nachname, direkt untereinander. Aber jeweils unterschiedliche Vornamen. Wir haben uns gedacht, dass das vielleicht Brüder waren, junge Kerle, ihr seht, noch nicht 20. Und sie sind an einem Tag gefallen, als die Russen schon hier gewesen sein müssen und wo eigentlich nicht mehr gekämpft wurde.“

„Merkwürdig“, entfuhr es Beate. „Das könnten die beiden Soldaten sein, die der Paul, von dem ich euch eben erzählt habe, aus dem Hinterhalt mit seinen Hitlerjungen abgeschossen hat.“

Die vier Frauen schauten erschrocken und verwirrt auf die Tafel.

„Sie haben sich sicher schon gefreut, dass sie bald wieder nach Hause kommen würden.“

„Und nun liegen sie hier“, vervollständigte Karola diesen Gedanken.

„Schrecklich, nicht wahr? Wir haben für die beiden Rosen mitgebracht, damit sie nach 70 Jahren wenigstens einmal jemanden haben, der an sie denkt in dieser Stadt.“

Angelina legte die Rosen auf den Stein. Alle vier standen bewegt vor der Tafel.

21. Der Russenhasser

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