Erzählungen zum Kriegsende 1945 in Oranienburg
von
Mathilda Seithe
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Teil 4 – So lernt man sich kennen
Bisher erschienen: Kapitel 1 bis 18
19. Die Gedenkfeier
Beate war viel zu früh gekommen. Sie hatte wieder einen Stau auf der Autobahn befürchtet und war daher eher losgefahren. Aber es ging dieses Mal erstaunlicherweise völlig glatt. Bis zum Beginn der Feier war noch eine halbe Stunde Zeit. Sie stellte das Auto in eine der Seitenstraßen hinter dem Ehrenfriedhof. Sie wusste, wo er war, hatte gegoogelt. Jetzt betrat sie ihn durch das kleine Tor an der Straße, blieb stehen und schaute.
Der Tag war freundlich, fast wie im Mai – abgesehen davon, dass ja Mai war. Ein wenig windig vielleicht. Ein kühler Wind. Aber die Sonne schien mild über die grüne Grasanlage. Man blickte ungehindert über die ganze Fläche, bis zum steinernen Denkmal in Form einer viereckigen Säule, um das herum zwei marmorne Stufen führten. Auf der unteren Stufe stand ein wenig seitlich eine Glasflasche mit einem kleinen Bündel roter Rosen. Beate setzte sich auf die Bank, die am Eingang aufgebaut war, und von wo aus man sowohl die Straße und die Bürgersteige, als auch das gesamte Gelände des Ehrenmals übersehen konnte. Nach zwei Minuten, in denen gar nichts geschah, fing sie an, sich zu fragen, ob überhaupt Leute kommen würden. Aber wäre sie denn gekommen, wenn es nicht dieses Tagebuch von Oma Maria gegeben hätte und diesen verwickelten Fall einer Erschießung von jugendlichen Möchtegernsoldaten, nachdem eigentlich schon Waffenruhe in der Stadt geherrscht hatte?
Draußen hielt jetzt ein Auto, eine junge Frau stieg aus und trug einen Kranz herein, in leuchtenden orangen Farben. Daran war eine weiße Doppelschleife befestigt, auf deren Enden mit goldener Schrift geschrieben stand. ‚Gedenken der Opfer‘.
„Welcher Opfer wollt ihr hier gedenken? Opfer gab es auf beiden Seiten“, dachte Beate in dem Moment, als die Frau sie ansprach.
„Kommen Sie hier zu der Gedenkfeier?“
Beate nickte.
„Wären sie vielleicht so freundlich, auf den Kranz des Bürgermeisters aufzupassen? Ich müsste sonst hier warten bis er kommt, und ich habe noch andere Sachen auszuliefern.“
„Natürlich“, lächelte Beate. Jetzt waren sie schon zu zweit. Sie und der Kranz. Zehn Minuten vor der angegebenen Zeit kamen mit einem Schwung mehrere Besucher, die meisten dunkel gekleidet und fast alle älter als sie, Beate. Der Bürgermeister trat zu ihr, weil er seinen Kranz bei ihr stehen sah. Er dankte höflich dafür, dass sie auf ihn aufgepasst hatte und ging zurück zu einer Gruppe von feierlich gekleideten Herren auf der anderen Seite des Eingangs. Jetzt kamen doch noch mehr Leute, meist Paare, ältere Paare. Keiner wirkte bedrückt. Die Stimmung war insgesamt eher feierlich, vielleicht konnte man sagen: nachdenklich? Einer wurde im Rollstuhl geschoben. Einer trug ein FDJ Hemd, das ihm viel zu klein war und schwenkte eine rote Fahne. Keiner nahm Anstoß. Dennoch stand er ziemlich isoliert herum.
Beate beobachtete ein junges Mädchen, das auf das Gelände trat und zögernd hereinkam. Sie sah sich unsicher um und entschied sich dann offenbar dazu, auf die Seite neben dem Eingang zu treten, wo Beate stand. Sie kam näher, jetzt sah Beate, dass die junge Frau eine rote Rose in der Hand hielt. Sie war eigentlich noch ein ziemlich junges Mädchen, 15 vielleicht. Aber man konnte das heute ja nicht mehr so gut erkennen. Beate lächelte ihr zu. Das Mädchen nickte, zögerte, und kam dann herüber zu Beate und stellte sich neben sie.
„Na, was hat dich denn hierher verschlagen?“, fragte Beate, um ein Gespräch in Gang zu bringen. „Wie du siehst, ist hier von deiner Generation weit und breit niemand.“
Das Mädchen sah sich noch einmal um.
„Eigentlich wollte mein kleiner Bruder auch mitkommen. Zum Schluss hat er sich nicht getraut“, gab sie dann bereitwillig Auskunft.
„Nicht getraut?“ Beate schaute sie verwirrt an.
„Ja, nicht getraut. Er ahnte wohl, dass es sich hier um eine Veranstaltung für Omas und Opas handelte. Oh Verzeihung, das ist mir nur so rausgerutscht. Ich meinte natürlich nicht Sie!“
„Beate“, sagte daraufhin Beate und streckte dem Mädchen die Hand hin.
„Karola“, antwortete die sofort. „Ich bin in gewissem Sinne mehr betroffen von diesen Ereignissen am Kriegsende, wissen Sie, ich meine, weißt du? Mehr jedenfalls, als junge Leute heute sonst. Die wissen meist doch gar nichts mehr von dieser Zeit.“
„Aber du?“, fragte Beate interessiert.
„Ich habe rausbekommen, dass ich mit meiner Familie gerade in ein Haus hier in der Nähe gezogen bin, das vor dem Kriegsende für die KZ-Aufseher in Sachsenhausen gebaut wurde.“
„Oh!“, entfuhr es Beate. Ihr fiel nichts ein, was sie dazu hätte sagen können.
„Das ist schon ein bedrückendes Gefühl, wenn man sowas weiß. Am Anfang habe ich mir laufend vorgestellt, wie die Familie damals in diesem Hause gelebt hat. Der Vater ging morgens zur Arbeit und kam abends wieder. Und inzwischen hatte er Menschen getötet oder dabei geholfen, hatte Gefangene geschlagen und angeschrien. Aber er kam heim und sie aßen Abendbrot, so wie alle Familien. Mir will das nicht in den Kopf! Diese Zeit überhaupt! Wie haben die Leute das alles ausgehalten? Und dann das Kriegsende: Ich habe herausgefunden, dass damals die Bewohner dieser speziellen Häuser alle geflohen sind, und zwar, kurz bevor die russischen Soldaten in Oranienburg einmarschierten. Sie haben alles zurückgelassen. Ich frage mich, was ihre Kinder dachten, warum sie fliehen mussten.
„Wahrscheinlich hatten die Kinder furchtbare Angst vor den Russen, wie alle damals, und es war für sie klar, dass sie fortmussten.
„Die Bevölkerung hatte große Angst, ich weiß. Aber ich glaube, sie sind vorher auch jahrelang gegen die Russen aufgehetzt worden.
„Stimmt, woher weißt du sowas?“
„Seit ich das alles mitbekommen habe, habe ich mich umgesehen. Meine Lehrerin findet es gut, dass ich mich damit befasse. Sie hat mir viel zum Nachlesen gegeben, und das Internet …
„Und, kannst du es denn jetzt wieder ertragen, in so einem Haus zu leben?“
„Es wäre einfacher, wenn meine Mutter nicht so täte, als sei das völlig egal. Sie will aber nichts davon wissen. Meine Tante Elke kam zu Besuch, als wir gerade eingezogen waren und hat uns aufgeklärt.
„Ach“, sagte Beate und drehte sich um, denn hinter ihr waren die Stimmen angeschwollen. Man begann offenbar, sich in lockeren Reihen aufzustellen. Dann schritt der Bürgermeister mit anderen höheren Herren mit dem Kranz voran. Es folgten vier, fünf Reihen mit Menschen, die alle so aussahen, als hätten sie den Krieg als Kinder noch beinahe miterlebt. Beate wartete erst und ging dann zu der letzten Reihe. Karola schloss sich ihr an.
Nun standen nur noch wenige Menschen im vorderen Bereich des Arals herum und versuchten, sich ebenfalls irgendwie dazu zu sortieren. Beate und Karola schritten neben zwei Frauen, die ihnen vorher gar nicht aufgefallen waren. Aber sie hätten ihnen sehr wohl auffallen können, denn auch sie waren deutlich jünger als die meisten hier, und ihre Kleidung war weniger steif und feierlich. Beide hielten einen Strauß mit dunkelroten Rosen in der Hand. Sie unterhielten sich angeregt, aber man konnte im allgemeinen Gemurmel nichts verstehen. So folgten sie zu viert langsam und bedächtig den anderen. Hinter ihnen bildeten sich noch weitere zwei Reihen.
Alle Reihen blieben stehen, als der Bürgermeister vor dem Denkmal angekommen war und sich zu den anderen herumdrehte, vermutlich, um eine Rede zu halten.
„Hoffentlich redet der nicht so lange“, flüsterte Karola. Beate zwinkerte ihr zu.
„Na da bin ich aber gespannt, was der sagt“, meinte die eine der Frauen. „Der ist von der CDU, was soll der schon sagen?“, antwortete die Blonde.
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