Die erste Organisationsform, in der ich mich bewusst verhalten musste, war die Christenlehre als Vorstufe zur Kirche. Zur Christenlehre haben mich meine Eltern angemeldet, als ich in die dritte Klasse ging. Die Stunden fanden einmal pro Woche nachmittags in der Schule statt. Das war 1948 oder 1949. Bald danach war das in der Schule nicht mehr gestattet.
Ich ging gern zur Christenlehre, weil mir die Geschichten gefielen. Von Wundern hörte ich gern. Die Geschichte vom barmherzigen Samariter beeindruckte mich tief. Und Liedtexte zu lernen, fiel mir leicht. (Bei „Unsern Eingang segne Gott, unsern Ausgang gleichermaßen“ stellte ich mir unwillkürlich Essen und Kacken vor.)
Zur Christenlehre ging auch mein Klassenkamerad Hans Schneider. Er war der Schüler mit den weitaus besten Leistungen und unglaublich diszipliniert. Besonders mochte ich ihn nicht, aber er tat mir immer wieder Leid, weil er bei der kleinsten Fehlleistung, wenn sie ihm einmal unterlief, sofort in Panik geriet und schier verzweifelt war.
Natürlich konnte Hans Schneider auch in der Christenlehre alle Liedtexte perfekt aufsagen. Doch im Verlauf mehrerer Wochen ereignete es sich, dass er immer wieder einmal steckenblieb. Und: Er ging mit solchem Missgeschick neuerdings immer lockerer um. Unsere Katechetin sagte ihm schließlich ins Gesicht, dass seine Leistungen immer schlechter würden. Hans war ziemlich betroffen. Doch ein Schulkamerad warf fröhlich ein: „Und in der Schule wird er immer besser!“ Darauf die Katechetin mit großen vorwurfsvollen Brillen-Eulen-Augen:
„Das ist aber ein schlechtes Zeichen!“
Ich war sofort auf’s Höchste empört und verkündete laut mein tief verinnerlichtes Kredo von Vater und Mutter: „Das Allerwichtigste sind gute Leistungen in der Schule!“
Von Stund an war es mit meiner so ernsthaften Einstellung zur Christenlehre vorbei. Meine Leistungen wurden schlechter, ich störte mit Unaufmerksamkeiten und nörgelte an manchen Erklärungen herum. Dazu kam manchmal unpassendes Gelächter, und ich steckte auch meine Nebenleute an. Eines Tages fragte mich der Lehrende direkt (Wir hatten inzwischen einen Pastor und saßen in einem Nebenraum der Kirche): „Du glaubst wohl nicht an das, was wir hier sagen?“
Die plötzliche Grundsatzfrage überraschte mich. So direkt hatte von mir noch niemand Wunderglauben verlangt. Ich wand mich. Ein „Ja“, dass ich die Märchengeschichten glauben würde, wäre gelogen gewesen. Zögerlich kam es aus mir heraus: „Doooch schon… (ich spürte, dass das feige war und setzte schnell hinzu) … aber alles auch wieder nicht.“ Der Pastor fragte die Andern, ob sie glauben würden. Sie bejahten. Er fragte dann noch, warum ich denn komme. Weil die Mutter es will? Und dann sagte er: „Vielleicht ist es besser, wenn Du erst einmal wegbleibst.“
Mein Kumpel, der eigentlich derselben Meinung war wie ich, hatte nicht den Mut und musste weiter zur Christenlehre gehen.
Als ich zu Hause alles erzählt hatte, bekam ich erst mit, dass meine Eltern (Vater Atheist, Mutter gläubig) eine Vereinbarung getroffen hatten: Die Kinder werden an die Religion herangeführt und sollen dann selbst entscheiden, was sie wollen.
Ich hatte mich unerwartet früh entschieden. Vater frohlockte.
Als ich dann 14 Jahre alt war und einen eigenen Personalausweis hatte, war die formelle Erklärung meines Kirchenaustritts meine erste selbständige, ungeduldig erwartete, politische Handlung.
Soweit das erinnerte Erleben. Und die Draufsicht heute?
- Die Organisation (zu der meine Bindung noch schwach war) empfand ich als übergriffig.
- Mit mir übereinzustimmen war mir das Wichtigste.
- So wurde aus dem Gegensatz der Widerspruch und Konflikt.
- Der Wert, der mir Stärke gab (die Autorität der Schule), war angelernt bzw. von den Eltern übernommen.
- Die Entscheidung gegen den Wunderglauben aber kam aus mir selbst. (Ebenso das Mitgefühl für Hans Schneider, dem schlechtes Gewissen gemacht worden war.)
- Woher meine gleichsam naturwüchsige Abneigung gegen diese „Herrschaft des Prinzips Glaube“? Ich kann nur mutmaßen: Vielleicht eignete ich mir eine Art „elementaren Realismus“ aus der aktiven Teilnahme und auch begleitenden Beobachtung des kleinbäuerlichen Lebens auf dem Hof meiner Oma an. Solche Erlebnisse gehen bis in mein fünftes Lebensjahr zurück. Entstanden da die Keime eines naturwüchsigen, mir zunächst unbewusstes Plebejertum? (Später war ich stolz darauf, dass meine Oma eine geborene „Erdmann“ und zweitverehelichte „Hartleb“ war. Meine Mutter passte dazu als geborene „Steiner“.)
- Die Erfahrung als Widerständiger allein zu bleiben, machte ich zum ersten aber nicht zum letzten Mal.