Erzählungen zum Kriegsende 1945 in Oranienburg
von
Mathilda Seithe
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Teil 3 – Die neue Pizzeria
Bisher erschienen: Kapitel 1 bis 17
18. Trotzdem: Der Kunde ist König
Aufgeregt erzählte Angelina ihren Traum beim Frühstück. Manuela war beeindruckt.
Ihre Schwester schien noch immer aufgewühlt.
„Du, das war so real, ich konnte die Papierseiten zwischen den Fingern fühlen. Als ich aufwachte, dachte ich erst, die Briefe müssten hier auf meinem Tisch liegen. Aber es war nur meine Phantasie, Manuela, mehr nicht.“
„Natürlich war es nur deine Phantasie. Aber es könnte sich so abgespielt haben. Stell dir mal die beiden jungen Männer vor: In einen Krieg geschickt, weg von ihren Plänen, von der Familie, vielleicht auch weg von einer Freundin. Das Leben wird sicher auch in der Roten Armee kein Zuckerschlecken gewesen sein. Und immer in der Erwartung, im nächsten Augenblick erschossen oder sonst wie getroffen zu werden.“
„Und dann kommen sie endlich an in Feindesland. Sie haben gesiegt. Sie sind völlig ausgepowert. Viele ihrer Kameraden drehen durch. Die Offiziere haben angekündigt, jeden zu erschießen, der bei einer Vergewaltigung ertappt wird. Aber die sexuell ausgehungerten Soldaten halten es offenbar für ihr Siegerrecht, die Frauen der Männer mit Gewalt zu nehmen, die ihre Mütter und Schwestern nicht nur vergewaltigt, sondern auch wahllos getötet und gequält haben. Pjotr ist mit dabei. Aber sein Bruder denkt an Mascha. Er beteiligt sich nicht. Und alles was sie noch wollen, ist, nach Hause kommen.“
„Eigentlich wurde in Oranienburg an ihrem Todestag doch gar nicht mehr geschossen. Volkssturm, hast du gesagt? Google mal, was das genau war.“
„Sagt mal, ihr beiden, können wir wenigstens beim Frühstück mal über was anderes reden als über diese Sachen?“
„Tschuldigung, Giuseppe, aber es hat uns richtig gepackt, mich jedenfalls. Ich habe über das alles bisher nie nachgedacht und wusste auch überhaupt nichts darüber.“
Angelina und Manuela machten in den folgenden Tagen gemeinsame Ausflüge nach Berlin und ins Umland. Der Besuch im KZ Sachsenhausen und ihr Erlebnis auf dem sowjetischen Ehrenfriedhof waren schon fast in Vergessenheit geraten, als sie eines nachmittags in der Frühjahrssonne vor der Pizzeria saßen und sich von Giuseppe mit einem Eisbecher verwöhnen ließen.
Als ein paar Leute auf die Terrasse kamen, ging Giuseppe hinein, um die Bestellung der neuen Gäste zu besorgen.
„Hast du gelesen“, fragte einer der Männer die anderen drei. „Trump gibt Deutschland ganz auf. „Amerika first“, dieser Mist! Jetzt stehen wir bald ohne jeden Schutz da.“
„Hast recht“, antwortete der andere Mann, „bisher konnten wir immer davon ausgehen, dass die USA uns absicherten. Auch im Kalten Krieg war das so. Ich sehe schon, sie werden jetzt auch noch ihre letzten Raketenstützpunkte in Deutschland aufgeben.“
„Wir müssen einfach eine starke europäische Armee aufbauen. Ist doch klar, dass wir uns nicht ewig auf die Amis verlassen können.“
„Ehrlich gesagt,“, meinte jetzt eine der beiden Frauen am Tisch, „ich fand es immer gruselig, dass die Amis hier noch ihre Atomstützpunkte beibehalten haben. Die Besatzungssoldaten sind doch seit Jahrzehnten weg. Aber das bleibt. Warum?“
„So ist der Osten für die Amis doch viel einfacher zu erreichen“, antworte der Mann links neben ihr. Es schien ihr Partner zu sein, denn er legte bei seinen Worten wie beschützend den Arm um ihre Schultern.
„Warum sollen denn die Amis den Osten schnell erreichen? Du klingst, als denkst du, morgen ginge ein Krieg los,“ erwiderte die Frau unwillig und machte sich los.
„So habe ich auch immer gedacht, Franziska“, meinte jetzt der andere Mann. „Ich war dagegen, dass die Amerikaner uns hier als Zwischenstation sehen. Aber jetzt, wo die uns im Regen stehen lassen – weißt du was: Ich war all die Jahre gegen die Bundeswehr und gegen die Erhöhung des Bundeswehrhaushaltes. Aber jetzt, wo wir so schutzlos sind, da müssen wir doch einfach was dagegen tun! Du wirst lachen, ich bin inzwischen für eine deutliche Erhöhung des Bundeswehretats.“
„Das ist nicht wahr?“, fragte die Frau erschrocken.
„Doch, Franziska, schau mal, was sollen wir denn sonst tun, wenn wir angegriffen werden?“
„ Ich finde, Wolfram hat völlig recht“, ließ sich die Frau auf der anderen Seite des Tisches vernehmen.
„Aber wer sollte uns denn angreifen, Patrizia?“
„Na, die Russen natürlich. Die Chinesen, ich weiß nicht. Die alle wollen doch sicher unser Europa schlucken, bald oder später.“
„So wie es jetzt aussieht, könnte ich mir schon eher vorstellen, dass wir uns gegen die USA verteidigen müssen,“ murrte Franziska trotzig. Ihre Stimme grollte.
„Nun mach aber mal nen Punkt!“, meinte Peter erbost.
Das Gespräch wurde von Giuseppe unterbrochen, der mit den leckeren Eisportionen kam. Zunächst herrschte danach am Tisch genussvolle Stille.
„Ich bin übrigens auch der Meinung, dass es wirklich eine Schande ist, wie schlecht unsere Soldaten ausgerüstet sind. Man hört doch täglich solche Skandale. Stellt euch vor, sie schießen, und die Kugeln treffen gar nicht ihr Ziel. Das ist doch das Letzte! Nein, so können wir uns nicht lumpen lassen, als eine der wichtigsten Nationen dieser Welt.“
„Du redest in letzter Zeit ziemlichen Unsinn, Peter! Wie kannst du so was sagen? Ich persönlich würde mich freuen, dass sie nicht treffen! Stell dir vor, du sollst einen Menschen erschießen und deine Knarre macht da nicht mit. Was für eine Freude!“ Franziskas richtete sich auf, legte bei diesen Worten den Eislöffel beiseite und sah die anderen herausfordernd an.
„Was ist mit deiner Frau los, Peter?“ Wolfram lächelte ein wenig irritiert.
„Weißt du das nicht, meine Frau ist ‚ne richtig Radikale.“ Peter lachte.
„Ich muss aufs Klo“, sagte Franziska bestimmt, mit unterdrückter Wut.
„Die Toilette ist neben dem Eingang links“, mischte sich jetzt Manuela ein. Sie konnte es offenbar nicht ertragen, diesem Gespräch wortlos zu zuhören.
Franziska stand auf, nickte Manuela ein wenig verwundert zu und verschwand im Inneren der Gaststätte. Den anderen war wohl plötzlich klargeworden, dass die beiden Frauen am Nebentisch jedes Wort ihrer Unterhaltung hatten verstehen können. Sie blickten ein paar Sekunden betreten auf ihre Eisbecher.
„Was macht eigentlich dein Sohn, Peter?“, fragte dann die Frau, die noch am Tisch saß, in die Stille hinein.
„Der hat nächste Woche Examen. Ihr wisst ja, Soziologie, ich war immer dagegen, brotlose Kunst, finde ich. Aber er ist ja seit Jahren CDU-Mitglied, da wird er schon was finden.“
„Und Petra, deine Jüngste?“
„Ihr werdet es nicht glauben. Petra hat beschlossen, sich nach dem Abitur bei der Bundeswehr zu bewerben. Sie meint, sie bekäme an der Bundeswehrhochschule auch mit ihrem nicht gerade ruhmreichen Abiturzeugnis einen Studienplatz für Medizin.“
„Klar, Ärzte werden immer gebraucht,“ sinnierte Wolfram. „Besonders im Krieg.“
„Sei nicht so geschmacklos, Wolfram“, schimpfte die Frau ihm gegenüber und warf einen Blick auf die Tischnachbarinnen, als wolle sie sich entschuldigen. „Und lass das nicht deine Frau hören!“
„Komm, wir gehen rein,“, forderte Manuela Angelina auf. Die nickte erleichtert.
Sie standen auf und gingen ins Haus zu Giuseppe.
„Ich kann das nicht mehr ertragen“, stöhnte Manuela. „Ich wäre am liebsten mitten in ihr Gespräch hineingeplatzt.“
„Das lasst mal schön bleiben“, meinte Giuseppe, der an ihnen vorbei ging mit Sorgenfalten auf der Stirn. „Wenn eure politische Meinung anfängt, meine Gäste zu belästigen, dann könnt ihr nicht mehr draußen unter den Kunden sitzen.“
„Wir haben ja nichts gesagt, Giuseppe!“, beruhigte Angelina ihren Mann. „Aber es war wirklich unerträglich. Es hätte dir auch die Sprache verschlagen, glaub mir!“
„Aber der Kunde ist König. Wenn ihr euch nicht an diese Regel haltet, dann raus aus meinem Laden!“ Er lachte bei seinen Worten, aber es war ihm ernst.
Doch ein paar Tage später, am 7. Mai beim Frühstück meinte Giuseppe, der jeden Morgen ausgiebig die örtliche Zeitung las, einfach um sein Deutsch ständig zu verbessern:
„Habt ihr nicht von diesem Friedhof erzählt, diesem Kriegsdenkmal hier vorne an der Straße. Da ist morgen eine Gedenkfeier. Der Oberbürgermeister wird reden.“
„Im Ernst?“
„Morgen ist Jahrestag des Kriegsendes, 8. Mai.“
„Ich war noch nie auf so ‚ner Feier, Manuela. Wollen wir da mal hingehen, zu deinen beiden russischen Brüdern, meine ich? Wäre doch interessant, oder?“
Manuela blickte sie erfreut an.
„O ja, gerne. Das ist ein Tag, der eh Feiertag sein müsste. Dann können wir mal sehen, wie die Bevölkerung hier mit diesem Gedenktag und diesem Ehrenmal umgeht.“
„Ich besorge einen Strauß Rosen, oder, was meinst du? Da ist sicher üblich.“
„Zwei Sträuße, Angelina, zwei. Für jeden der Brüder einen“, lächelte Manuela.
19. Die Gedenkfeier
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