Gegen das Vergessen 3/17

Erzählungen zum Kriegsende 1945 in Oranienburg

von

Mathilda Seithe

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Teil 3 – Die neue Pizzeria

Bisher erschienen: Kapitel 1 bis 16

17. Die Brüder Moratolow

„23.4.45
Liebe Mama,
wir sind gestern endlich durch die Reihen der deutschen Truppen gebrochen und haben daraufhin eine kleine Stadt eingenommen. Sie heißt Oranienburg oder so ähnlich. Ein bisschen größer als die Städtchen, durch die wir hier vor Berlin schon gekommen sind. Unterwegs gab es einige schlimme Zusammenstöße mit Faschisten. Vier Mann von uns wurden verletzt. Einer schwer. Er wird sicher bald sterben, hat einfach zu viel Blut verloren.

Pjotr und ich haben unser Nachtquartier in einem der kleinen Häuser zugewiesen bekommen, die an einer Straße liegen, die von der Brücke an einer Schleuse Richtung Stadtzentrum führt. Man sagte uns, dass dort die KZ-Wärter vom KZ hier gewohnt haben. Sie sind geflohen, haben alles zurückgelassen. Sogar Lebensmittel. Für uns ein Glück!
Von hier aus sieht man die KZ-Mauern. Wir sollen in ein paar Stunden dorthin abkommandiert werden, um die Menschen zu befreien, die da eingesperrt sind.

Liebe Mama, nun sind wir beide schon so lange weg von zu Hause. Du wirst uns sehr vermissen, aber wir vermissen dich auch und auch all die anderen. Vielleicht sind wir jetzt doch bald wieder bei euch. Der Krieg kann nicht mehr lange dauern. Auch in Berlin kämpft jetzt die Rote Armee. Offenbar haben die Nazis, kurz bevor wir ankamen, wie die Irren noch Deutsche getötet, aufgehängt, erschossen. Und es gab auch hier in der kleinen Stadt Leichen auf den Straßen. Die Leute verlassen ihre Häuser nicht. Sie verhalten sich abwartend und vorsichtig. Frauen haben offenbar Angst vor uns. Wenn die wüssten, was ihre Männer noch vor wenigen Monaten mit unseren Frauen gemacht haben! Aber ich kann nicht an Rache denken. Das Elend ist zu groß, überall.

25.4.45
Mama, gestern haben wir die Menschen im KZ Sachsenhausen befreit. Die SS Leute waren schon geflohen und etliche Gefangene haben offenbar die Gelegenheit ergriffen, auf der Stelle abzuhauen. Aber viele waren zu elend und zu schwach, um wegzulaufen. Sie begrüßen uns mit matten Gebärden. Einige konnten nicht einmal mehr aufstehen. Und überall Leichen, hunderte, tausende tote, ausgemergelte menschliche Körper, Männer meist, aber auch Frauen und Kinder. Ich musste Pjotr trösten. Er fing an zu weinen bei diesem Anblick. Es war schrecklich. Ich weiß nicht, ob ich so etwas Furchtbares schon einmal gesehen habe während der langen Zeit, in der wir nun in diesem verfluchten Krieg sind. Mama, wie können Menschen so brutal sein? Die Bilder gehen nicht aus meinem Kopf. Als wir zurück waren, musste ich mich übergeben.

Wie es aussieht, herrscht hier in unserer Kleinstadt inzwischen Ruhe. Seit gestern wird nicht mehr geschossen. Die Bewohner haben sich ergeben. Unsere Jungs sind auch nicht zimperlich. Viele ziehen durch die Häuser und jagen Mädchen und Frauen, die sich vor ihnen verstecken wollen. Pjotr ist auch dabei. Aber ich denke an Mascha und kann es nicht. In einem Haus fanden sie ein Mädchen und seine Mutter, die sich ein paar Stunden früher die Pulsadern aufgeschnitten hatten. Sie waren verblutet.
Weißt du, Mama, ich will das alles nicht mehr sehen. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass ich danach wieder ein normales Leben führen kann. Pjotr ist optimistischer und versucht mir Mut zu machen.
Ich wünsche so sehr, dich bald in die Arme schließen zu können!

26.4.45
Liebste Mama,
Berlin hat sich inzwischen auch ergeben. Die SS-Leute sind meistens geflohen. Aber immer wieder finden wir welche, die sich hier im Stroh oder im Keller versteckt haben. Unser Kommandeur lässt sie auf der Stelle erschießen. Ich war bei einer Hausdurchsuchung dabei. Die Frau stand mit zwei Kindern da und heulte fürchterlich. Ich musste die Leiche des Vaters wegräumen.

Mama, ich kann das nicht mehr. Ich denke an unsere Felder, in denen ich um diese Jahreszeit so gerne gelegen und geträumt habe. Wieso gibt es diese Kriege. Warum?
Täglich fahren wir zur Kontrolle die Straße hinunter, an der wir in jenen Häusern einquartiert sind. Wir fahren bis zum See und durchsuchen die Wälder rechts und links. Aber es wird immer ruhiger. Und alle haben Hunger: die Menschen hier, aber auch wir. Es gibt nur noch winzige Portionen. Wenn ich wieder zurück bin, Mama, dann wünsche ich mir eine kräftige Soljanka, und so viel davon, wie ich vertragen kann. Versprich mir, sie für uns zu kochen! Und fang schon mal damit an. Ich hoffe, wir werden uns hier nicht mehr lange aufhalten müssen.

10.5.45
Frau Moratolowa,
Mein Name ist Stanislav Jeninskow.
Ich muss ihnen leider mitteilen, dass ihre beiden Söhne gestern von Leuten aus dem deutschen Volkssturm aus einem Hinterhalt heraus erschossen wurden. Ich war der Freund ihrer Söhne und bin untröstlich. Wenn ich wieder zurück nach Russland komme, versuche ich, Sie aufzusuchen und ihnen die persönlichen Sachen der beiden mitzubringen.
Die Täter wurden sofort gefangen genommen und kurz danach erschossen. Aber wem nützt das jetzt noch?

Mein aller herzlichstes Beileid!
Stanislaw“

Als Angelina aufwachte, schaute sie verwirrt auf ihre Hände. Kein Brief, kein Stück Papier. Sie lag im Bett. Es war also nur ein Traum. Sie ließ ihn noch einmal an sich vorbeiziehen … So hätte es gewesen sein können.

18. Trotzdem: Der Kunde ist König

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Eine Antwort zu Gegen das Vergessen 3/17

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