Erzählungen zum Kriegsende 1945 in Oranienburg
von
Mathilda Seithe
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Teil 3 – Die neue Pizzeria
Bisher erschienen: Kapitel 1 bis 15
16. Der Ehrenfriedhof am Wege
Nach einer halben Stunde im Museum machten sich die Schwestern auf den Rückweg. Angelina hatte das Gefühl, ihr sei ein Auto über den Rücken gefahren. Sie sagten kaum ein Wort, die Bilder, die sie später noch im Museum hatten sehen müssen, tobten noch in ihrem Kopf.
Ihr Weg zog sich auf der Hauptstraße immer geradeaus zurück Richtung Stadt. Kleine Nebenstraßen gingen links ab und führten in dicht bebaute Wohnstraßen mit Einfamilienhäusern aus der Nachkriegszeit. Autos säumten auf beiden Seiten die Straße. Rechter Hand standen in einer langen Reihe kleine Häuschen mit spitzem Dach und einem Garten dahinter, die so anheimelnd aussahen, als wohnten dort die 7 Zwerge aus dem Märchen. Tatsächlich aber waren es die Häuser, die man für die KZ-Aufseher errichtet hatte – so nah wie möglich zum Konzentrationslager. Angelina und ihre Schwester hatten darüber eben im Museum gelesen. Sie wussten jetzt Bescheid. Ein Stück weiter entdeckten sie in den Seitenstraßen auch die Villen der SS Leute und der KZ Leitung.
Danach brach mit einem Mal die Häuserzeile ab und neben ihnen auf der rechten Seite der Straße öffnete sich der Blick in eine größere Rasenanlage. Hinten in der Mitte der Rasenfläche erkannten sie eine Art steinernes Mahnmal, in dem Stil, wie in Deutschland die Kriegsdenkmäler nun einmal aussehen. Die beiden sahen sich um. Vorne an der kleinen Mauer, die das Terrain zum Bürgerstein hin abgrenzte, war ein Schild angebracht. „Sowjetischer Ehrenfriedhof“, war da zu lesen. Das Mäuerchen an der Straße wurde von einem Tor in schwarzem Gusseisen unterbrochen, es war offenbar nur angelehnt. Man konnte also hineingehen.
Nach allem, was sie eben gesehen und gehört hatten, sahen sie sich eigentlich nicht mehr in der Lage, weitere Zeugen und Spuren aus dieser schrecklichen Zeit aufzusuchen. Aber nach den Eindrücken im KZ Sachsenhausen machte sie der Ehrenfriedhof für die sowjetische Armee neugierig. Schließlich waren das neben der polnischen Armee die Befreier des KZ Sachenhausen gewesen.
„Schau mal, da hinten, am Ende des Geländes stehen schwarze Steintafeln. Wahrscheinlich mit den Namen der Gefallenen. Wollen wir nicht doch mal eben hinein gehen, sozusagen als Kontrastprogramm zu eben?“, fragte Manuela. Angelina nickte ohne große Begeisterung.
Sie liefen über die völlig leere Grasfläche um das steinerne Denkmal herum bis dahin, wo sie im tiefen Schatten im Halbkreis die großen Tafeln aufgestellt sahen. Die Offiziere hatten meist einen eigenen Grabstein. Auf den dazwischen aufgestellten Steintafeln standen viele Namen, offenbar die der einfachen Soldaten. Kaum einer von ihnen war mehr als 20 Jahre alt gewesen, als er starb. Es war nicht leicht, die Namen zu entziffern. Die Schwestern konnten kein Russisch. So was wurde in Köln nicht gelehrt, als sie zur Schule gingen. Ein Wort sah beinahe so wie das andere für sie aus. Sie radebrechten halblaut die Namen, soweit sie die Buchstaben entziffern konnten.
„Sieh mal, Angelina: Da steht ein Nachname gleich zweimal. Offensichtlich waren das hier Brüder. Beide am selben Tag gefallen. Merkwürdig, am 26. April. Da war doch hier gar kein Krieg mehr. Da war das KZ doch schon befreit. Weißt du noch das Datum? Ich habe es doch vorhin im Museum so oft gelesen.“
„Warte mal: Ich glaube, am 22. wurde das KZ endgültig von den Russen befreit. Am 26. April war also schon längst die Rote Armee hier in Oranienburg.“
„Beide sind am gleichen Tag gestorben. Aber lange nach den Kampfhandlungen offenbar.“
„Merkwürdig. Vielleicht an einer Krankheit oder an Verletzungen?
„Beide am gleichen Tag?“
Ratlos standen die Schwestern vor dem Gedenkstein.
„Zwei russische Brüder sterben hier auf deutschem Boden zu einer Zeit, als schon Waffenruhe geherrscht haben muss. Was bedeutet das?“
„So kurz vor dem Ende? Sie hatten sich sicher bereits ausgemalt, dass sie bald wieder daheim sein würden.“
„Wie schrecklich!“
„Na ja, schrecklich war damals wohl alles. Denk mal an dieses Speziallager, was die Russen dann später auf dem Gelände des KZ eingerichtet haben, um Nazis und solche Menschen aus dem Verkehr zu ziehen, die sich widersetzten. Sie konnten sie kaum ernähren. Die meisten sind verhungert oder an Krankheiten gestorben.“
„Und was die Russen den Frauen damals angetan haben, das war auch schrecklich“, gab Angelina zu bedenken. „Glaubst du, unsere Brüder hier haben auch Frauen vergewaltigt?“
„Keine Ahnung. Vielleicht. Ich fand es schon immer unerträglich, dass Vergewaltigungen offenbar zum Recht der Sieger eines Krieges zu gehören scheinen. Ich mag es mir nicht vorstellen. Aber wie auch immer – es würde kaum ihren Tod am selben Tag erklären.“
Nachdenklich verließen Manuela und Angelina den sowjetischen Ehrenfriedhof.
Wenn man von draußen einen Blick zurückwarf, spürte man, wie weit weg und unbeachtet dieser Friedhof da lag – leer und wie abgeschoben. Ob die Oranienburger überhaupt noch wussten, was hier passiert war und wer da lag: Hunderte junger Russen, die in den letzten Tagen des Krieges hier ihr Leben ließen. Und einige, die auch danach noch starben.
Wieder zu Hause angekommen, waren die Schwestern erschöpft. Giuseppe setzte ihnen Tortellini alla Panne vor, und sie stärkten sich. Erzählen konnten sie nicht viel. Giuseppe, der sehr wohl sah, wie mitgenommen die beiden aussahen, sagte kein Wort. Er beschloss, sich dieses Museum einmal selbst anzusehen. Schließlich lag es in unmittelbarer Nachbarschaft zu seiner Pizzeria. Das hatte er nicht gewusst. Nun musste er damit leben. Und wenigstens sollte er Bescheid wissen, meinte er.
Angelina war bereits früh am Abend müde. Sie zog sich gegen 21.00 Uhr zurück und legte sich hin. Der Schlaf kam sofort.
Sie wusste nicht, wie lange sie schon geschlafen hatte. Sie träumte, sie sei aufgewacht und ginge im Zimmer herum. Da sah sie auf dem kleinen Tisch Papiere liegen. Sie griff danach. Es waren Briefe in russischer Sprache, die sie nicht verstand.
„Doragaya Mama“, las sie. Vielleicht waren es Briefe eines russischen Soldaten für die Feldpost nach Hause? Diese hier waren offensichtlich nicht dort angekommen. Doch irgendjemand schien sie gefunden und aufgehoben zu haben.
Je länger sie darauf blickte, desto deutlicher sah sie, dass sich die fremden Buchstabenreihen in deutsche Wörter verwandelten, dann in Sätze, die sie verstand. Sie fing an, anhand des jeweiligen Datums auf den Briefbögen die Schreiben zu sortieren. Schließlich setzte sie sich auf ihr Bett und begann zu lesen.
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