Gegen das Vergessen 3/15

Erzählungen zum Kriegsende 1945 in Oranienburg

von

Mathilda Seithe

*****

Teil 3 – Die neue Pizzeria

Bisher erschienen: Kapitel 1 bis 14

15. Das KZ Sachsenhausen

Mit ihnen traf am Eingang des Museums eine Gruppe junger Leute ein. Sie sprachen Französisch miteinander.

Manuela und ihre Schwester betraten zuerst das riesige KZ-Gelände. Ins Museum würden sie am Ende noch hineinschauen.
Die Größe des Areals überraschte sie. Weit dehnte sich der Raum, in dem einst Dutzende gleichförmig-triste Holzbaracken gestanden hatten. Ein Denkmal ragte in den Himmel. Überall schritten kleinere Menschengruppen langsam und nachdenklich an den Informationstafeln vorbei. Ab und an blieben sie stehen und lasen durch, was auf den Schildern stand. Eine der wenigen erhaltenen Baracken war geöffnet und man bekam einen vagen Eindruck vom Leben der Gefangenen hier. Dennoch, die sterile Sauberkeit und Leere in und zwischen den Baracken machte es ihnen erst einmal schwer, sich das Leben und Leiden hier vorzustellen. Wie hatte es damals hier ausgesehen?

Doch je länger sie herumliefen und je mehr Informationstafeln sie lasen, desto näher rückte ihnen die Atmosphäre, die vor gut 70 Jahren hier geherrscht haben musste. Tatsächlich, sie meinten die Arbeitstrupps der Gefangenen zu sehen und die Aufseher daneben, mit angelegtem Gewehr oder mit Pistolen am Gürtel.

Manuela las ihrer Schwester aus dem Besucherbegleitheft vor:
„Insgesamt waren in Sachsenhausen 200 000 Häftlinge eingesperrt. Zehntausende davon kamen um: durch Hunger, Krankheiten, Zwangsarbeit, Misshandlungen, medizinische Versuche und durch systematische Vernichtung.“
„Das waren sicher alles Juden“, überlegte Angelina.
„Nein, oder doch? Warte mal. Hier steht was dazu: ‚Zunächst lieferte die SS politische Gegner des NS-Regimes in das KZ Sachsenhausen ein: Kommunisten, Sozialdemokraten, liberale und konservative Politiker. Später folgten Homosexuelle, Sinti und Roma, Christen, Zeugen Jehovas und Kriminelle. 1938 stieg die Zahl der ausschließlich männlichen Häftlinge in Sachsenhausen infolge verschiedener Verhaftungsaktionen stark an. Im Zuge der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ des Reichskriminalpolizeiamts vom März und Juni 1938 lieferte die SS rund 6.000 als „asozial“ eingestufte Menschen in das Lager ein. Nach der Pogromnacht vom 9./10. November 1938 wurden ca. 6.000 Juden nach Sachsenhausen transportiert. Mit der Zerschlagung der „Rest-Tschechei“ im Frühjahr 1939 und mit Beginn des Zweiten Weltkriegs füllte sich das Lager zunehmend mit Häftlingen aus den besetzten Ländern Europas.`“

„Na ja, Kriegsgefangene haben die anderen doch auch gemacht, oder?“, gab Angelina zu bedenken.
„Pass mal auf, was hier steht: ‚Ab Oktober 1941 begannen in Sachsenhausen Massenerschießungen von über 12.000 „politisch und rassisch untragbaren“ sowjetischen Kriegsgefangenen in einer eigens dafür errichteten Genickschussanlage.‘ Die Anlage können wir uns gleich ansehen. Ich glaube, sie ist da hinten.“

„Nein, lieber nicht, Manuela. Das ist alles ja schrecklich!“
„Ja. Da hast du recht. Es ist unvorstellbar!“

„Aber war das hier nicht ein Arbeitslager, also kein Vernichtungslager? Ich habe sowas mal gehört.“
„Ja schon. Aber die Leute starben trotzdem. Wie ich eben vorgelesen habe: an Hunger, durch die Zwangsarbeit, an Misshandlungen, an systematischer Vernichtung. Aber gearbeitet haben sie wohl, mussten sie ja. „Arbeit macht frei“, hast du das Schild am Eingang gesehen.?“
„Ja, natürlich! Das ist so was von zynisch! Aber was haben sie denn arbeiten müssen? Steht das da?“
„Du kennst die Sache mit dem Schuhläuferkommando?“
„Nein, klingt komisch.“
„Da mussten die Gefangen tagelang mit Gepäck auf dem Rücken um den Appellplatz herumlaufen, um die Qualität verschiedenen Bodenbelege für die Schuhsohlen zu testen. Aber die schlimmste Arbeit war wohl die im Ziegelwerk, sagen sie hier.“
„Ziegelwerk.? Ist das auch hier auf dem Gelände?“

„Nein, es soll weiter aus der Stadt heraus sein, hinter der Kanalbrücke. Aber hör mal: Das kann man gar nicht glauben: ‚Täglich wurden 2000 Häftlinge aus dem Lager vor den Augen der Bevölkerung über die Kanalbrücke ins Ziegeleiwerk gebracht.‘ Und keiner in dieser Stadt hat was davon mitbekommen? Das kann ja gar nicht sein!“
„Was haben die Oranienburger bloß gedacht, wenn sie diese Leute dahinziehen sahen?

„Ach Angelina, es ist leider so: Leute können einfach die Augen zu machen, wenn sie etwas sehen, was sie nicht sehen wollen.“
„Wann wurden die Häftlinge befreit, Manuela? Ich vermute 1945?

„Ja. Am 22. April 1945, und zwar von polnischen und sowjetischen Soldaten nach deren Einmarsch in Oranienburg. Aber vorher, so schreiben sie hier, vorher ging im KZ das Morden noch mal erst richtig los. Hör dir das an:
‚Als die Rote Armee die Oder erreicht hatte, begannen im KZ Sachsenhausen die Vorbereitungen zur Evakuierung, wie sie es nannten. Sie ermordeten 3000 Häftlinge, die entweder als gefährlich galten, die eine militärische Ausbildung hatten oder die als nicht marschfähig eingestuft wurden. Am 20. April schließlich schickten sie 33 000 halb verhungerte Häftlinge zu Fuß Richtung Nord-Westen. Sie sollten in ein anderes KZ übergesiedelt werden. Dabei starben wieder Tausende, die den Strapazen nicht gewachsen waren.
Als die sowjetischen und polnischen Soldaten das Lager betraten, fanden sie immer noch 3000 Menschen vor, die zurückgeblieben waren: Kranke, Pfleger, Ärzte. 300 davon starben noch am Tag ihrer Befreiung.‘“

„Hör auf Manuela, bitte! Ich kann es nicht mehr ertragen! Es ist so furchtbar! Lass uns einfach nur hier durchgehen. Lass uns schweigen, ja?“

Sie folgten weiter dem Weg durch das große, leere Gelände, vorbei auch an der Genickschussanlage und weiter bis zum Ende, bis zum Zaun, an dem die Wachtürme standen. Hinter dem Zaun schaute man in ein Waldgrundstück, das von Wegen durchzogen war und aussah wie eine friedliche Heidelandschaft.

Dann gingen sie langsam zurück zum Museumsgebäude.

16. Der Ehrenfriedhof am Wege

****

Das Gesamtwerk „Gegen das Vergessen“ ist urheberrechtliche geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Dieser Beitrag wurde unter Bewußtheit, Faschismus alt neu, Krieg, Kunst, Leben, Realkapitalismus, Widerstand abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort zu Gegen das Vergessen 3/15

  1. Pingback: Gegen das Vergessen 3/14 | opablog

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s