Erzählungen zum Kriegsende 1945 in Oranienburg
von
Mathilda Seithe
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Teil 2 – Maria und das Vergessen
Bisher erschienen: Kapitel 1 bis 8
9. Marias Tagebuch II
12. 1. 1945
Habe lange nicht mehr geschrieben. Es war einfach keine Zeit da. Alles war so bedrückend. Vater schrieb uns, irgendwo aus Polen. Er sei wegen seinem Bein in der Schreibstube eingesetzt, aber er bekäme viel Furchtbares mit. Überall Verwundete. Aber immerhin bekommen die Verletzten Heimaturlaub, schrieb er. „Wie geht es mit Paul?“, fragte er mich. „Was soll das denn heißen?“, meinte Paul gereizt dazu.
22.1.1945
Ich habe gehört, dass die ersten Truppen über die deutsche Reichsgrenze vorgedrungen sind. Die Nachbarin hat es mir gesagt, hinter vorgehaltener Hand. Ihr Onkel ist bei der SS. Ich darf mit niemand darüber sprechen. Schon gar nicht mit Paul. Täglich hört man jetzt von neuen Bombenabwürfen überall in Deutschland. Viele Städte sind inzwischen verwüstet. Hier ist es besonders schlimm mit den Bombenangriffen. Wahrscheinlich geht es dabei um die Auerwerke hinter dem Bahnhof. Vielleicht geht es auch um das Lager hier in Sachsenhausen. Wenn man die Bernauer Strasse rausfährt, kommt man daran vorbei, ich weiß. Von der Straße aus sieht man aber nicht viel. Wir wissen ja nichts. Aber man munkelt furchtbare Dinge. Paul meinte, die Leute, die dort eingesperrt sind, die hätten verdient, was sie kriegen.
„Warum“, wagte ich schüchtern zu fragen.
Paul sah mich fassungslos an.
„Du fragst noch, warum diese dreckigen Juden den Tod verdient haben? Sie haben unser Land ausgeraubt. Sie haben sich an unserem Volksgut bereichert. Reicht das etwa nicht?“
„Der Freund von Eva war Schreiner. Wieso hat der uns ausgeraubt?“
„Ist ja auch abgehauen, dieser Feigling“, konterte Paul. „Und komm mir bloß nicht mit deinen jüdischen Freunden an. Sieh dich vor, Maria!“
29. Februar 45
Es ist davon die Rede, dass die Schulen geschlossen werden und man die Kinder, die in politischen Organisationen mitmachen, für die Heimatfront ausbilden und einsetzen will. Ich bin entsetzt. Paul ist erst 14! Er dreht jetzt völlig durch, redet wirres Zeug vom Endsieg und davon, dass Deutschland bald die ganze Welt gehöre. Ich schüttele nur noch den Kopf, wenn er nicht hinsieht. Denn seine Wut, wenn er merkt, dass ich oder auch Vater anders denken, ist inzwischen nicht mehr berechenbar.
Neulich abends war wieder so eine Szene. Ich saß danach weinend im Flur, konnte es einfach nicht mehr aushalten. Da kam er zu mir, ganz lieb und freundlich, so wie früher, so wie er früher zu mir gewesen war. Und er fragte, warum ich weine. „Wegen dir“, sagte ich. Ich konnte nicht anders. „Mach dir mal um mich keine Sorgen, Maritschka“, so nennt er mich manchmal, „ich bin alt genug, meinen Mann zu stehen. Und wenn ich mein Leben geben muss, dann kannst du stolz sein auf deinen kleinen Bruder.“ Und er strich mir übers Haar.
Da weinte ich noch mehr, aus Glück und Rührung wegen seines unerwarteten Verhaltens, aus Entsetzen über seine Gedanken.
4. März
Vater ist verletzt. Es kam vor 14 Tagen ein Brief von der zentralen Meldestelle. Er ist auf dem Weg zur Kommandantur angeschossen worden. Er liegt im Lazarett. Seine Truppe ist längst nicht mehr in Polen. Die Deutschen ziehen sich immer weiter zurück. Aber sie kämpfen offenbar bis zum letzten Mann.
Wir haben keine Ahnung, wie schlimm Vaters Wunde ist. Auch Paul ist jetzt ein wenig schockiert. Er versucht, über seine Beziehungen etwas herauszufinden.
Vater hat sich nicht viel um uns gekümmert, wahrhaftig nicht. Aber das jetzt, das hat er nicht verdient. Er wollte nicht in diesen Krieg. Ich glaube, er hat ihn sogar gehasst. Vielleicht lebte er deshalb in der letzten Zeit so zurückgezogen. Aber er darf mich nicht allein lassen mit Paul! Lieber Gott! Bitte nicht!
Das Leben hier im Ort versinkt immer mehr im Chaos.
11. April
Gestern gab es über uns eine furchtbare Luftschlacht zwischen deutschen und alliierten Verbänden. Es ist hier kaum noch auszuhalten.
12. April
Die Russen sind im Anmarsch. Sie haben die Deutschen in Ungarn besiegt und Wien eingenommen. Sie kommen auf Berlin zu. Alle Frauen haben Angst. Paul hat mir versprochen, jeden Russen niederzuschießen, der mir was tun will.
Ich hoffe, dazu wird es nicht kommen. Ich überlege schon, ob ich nicht weggehen kann von hier, mich irgendwo verstecken, auf dem Land vielleicht. Da gibt es eine entfernte Cousine, die wohnt tief drin in der Uckermark. Da finden sie einen nicht so schnell. Aber ich kann doch jetzt Paul nicht allein lassen.
Von Vater haben wir immer noch nichts gehört. Paul ist den ganzen Tag mit seinen Hitlerjungen unterwegs. Sie patrouillieren an den Ausfallstraßen. Als könnten 12 Halbwüchsige Panzer aufhalten.
15. April
Es heißt, gestern sei Potsdam bombardiert worden, von den Engländern. Wir haben ja kein Radio mehr, auch keine Zeitschriften. So was erzählen die Leute und man weiß nie, ob es wirklich stimmt.
16. April
Hinter uns liegt eine Bombennacht, schlimmer als alle vorher, es war der reine Horror. Stundenlang fielen Bomben auf uns runter. Viele Bomben, immer wieder! Die Stadtteile, in denen die Auerwerke und die Henkelflugzeugfabrik liegen, sind dem Erdboden gleich gemacht worden.
Ich habe die Nacht im Gartenhäuschen von Frau Weißgerber verbracht, einer Nachbarin, für die ich manchmal etwas mitbringe. Sie kann nicht mehr lange stehen und es dauert oft stundenlang, bis man endlich drankommt. Und dann ist oft nichts mehr da. Sie war so nett, mich mitzunehmen in ihr Häuschen. An Schlaf war nicht zu denken. Paul war in dieser Nacht nicht zu Hause. Das ist er jetzt nur noch selten.
Die Siedlungen mit den Wochenendhäuschen blieben von den Luftangriffen einigermaßen verschont, weil sich das Ziel wohl nicht lohnte. Aber über der Stadt gingen stundenlang Bomben nieder. Als wir am Morgen zurückkamen, erkannten wir unsere Stadt kaum wieder. Es gibt hunderte Tote. Jede Menge Verletzte. Leichen liegen herum. Häuser haben gebrannt. Auf den Straßen versperren Trümmer den Weg. Überall laufen Menschen durch die Straßen, die alles verloren haben und eine Unterkunft brauchen. Ich habe eine junge Mutter mit ihrem Baby mit in unsere Wohnung genommen. Sie ist verstört. Ihr Mann ist gefallen, und nun ist sie mit dem Baby auch noch obdachlos. So viel Elend!
17. April
Es geht zu Ende. Und wird doch jedes Mal heftiger. Die Alarme dauern täglich länger. Der Aufenthalt im Luftschutzkeller ist unerträglich. Ich bin danach immer am Rand meiner Kräfte.
Die Russen stehen schon seit Tagen an der brandenburgischen Grenze. Jetzt werden sogar Greise zum Volkssturm eingezogen. Was soll das? Wir haben die halbe Welt zerstört. Sie haben unsere Städte zerbombt. Es sind unzählige gestorben, unsere Soldaten und die der anderen Länder. Wer will da noch immer weiter machen? Paul ist fest entschlossen. So fanatisch wie in den letzten Tagen habe ich ihn noch nie gesehen. Mir wird angst.
Die Leute aus Berlin, die auch in den Wochenendhäuschen hier in der Nähe von Oranienburg die Bombennacht verbracht haben, erzählten uns, dass in Berlin inzwischen die Hölle los sei. Die SS hat angefangen, alle zu lynchen, die sich ergeben wollen oder andeuten, dass sie nicht mehr an den Endsieg glauben. Deserteure, aber auch Zivilisten, werden wahllos zusammengeschossen. Eine Frau hat gesehen, wie sie einen 17-Jährigen an einem Laternenpfahl mitten in ihrer Straße aufgehängt haben.
Ich gehe kaum noch raus. Paul kam und meinte, ich solle mich lieber nicht zeigen. Vielleicht würde sich einer seiner Kameraden daran erinnern, dass ich nicht im BDM mitgemacht habe oder sogar an die Sache mit Eva und ihrem Juden. „Bleib lieber drin, sagte er. Ich kann dich einigermaßen schützen, weil ich beim Volkssturm bin, aber ich kann nicht garantieren, ob nicht einer doch auf die Idee kommt …“
Ich bekomme Angst, auch um mich.
19. April
Es ist so gut wie aus. Alle haben Hunger. In Oranienburg haben sie die ersten russischen Soldaten gesehen. Und das, wo doch gerade im Norden von uns die Reste der deutschen Truppen zusammengezogen werden. Es sind ganz viele Hitlerjungen dabei, auch Paul ist abkommandiert.
Alle Menschen scheinen auf ein Ende zu hoffen. Obwohl wir kaum wissen, wie es weitergehen kann. So viel ist zerstört, es fehlen Lebensmittel, es fehlt an allem. Und was werden die Sieger nun mit uns machen?
Paul war niedergeschmettert, als er die Nachricht hörte, dass die russischen Truppen schon bei Bernau stehen. Fast tat er mir leid. Er ging wütend und schimpfend aus dem Haus, kam aber abends noch mal zurück. Zu meinem Entsetzen war er fast fröhlich, fast entrückt.
„Wenn alles untergeht, Maria,“ sagte er zu mir. „Auf seine Jugend kann Deutschland sich noch verlassen. Wir kämpfen weiter.“
Ich war entsetzt.
„Es ist aus, Paul. Wir haben verloren. Begreif das doch! Wir müssen jetzt sehen, wie wir weiterkommen. Wer weiß, ob Vater zurückkommt und ob er nicht in Gefangenschaft geraten ist. Beruhige dich doch Paul! Ich weiß, wie sehr dich das trifft. Aber es ist doch auch gut, dass jetzt einmal ein Ende ist mit dem Gemetzel und dem vielen Blutvergießen.
„Du verstehst gar nichts“, schnauzte er verächtlich. Er ging. Ich lag lange wach, bin dann noch einmal aufgestanden, um hier ins Buch zu schreiben.
Ich bin froh, dass es vorbei ist.
20. April 1945
Heute haben wir vom Osten herkommend die ersten russischen Panzer anrollen sehen. Überall hängen sie weiße Bettlaken raus. Die SS ist aus der Stadt. Jetzt haben wir keine Angst mehr davor, von denen als Verräter gelyncht zu werden. Aber jetzt haben alle Angst vor den Russen. Junge Mädchen sind nicht mehr draußen zu sehen. Es wagen sich nur noch alte Frauen hinaus. Auch ich bleibe lieber hier drin. Paul wollte heute früh gleich wieder los. Er ist immer noch vernarrt in den Gedanken, dass er mit seinen paar Hitlerjungen die einziehenden Feinde zurückschlagen kann. So ein Irrsinn! Aber er hört ja nicht auf mich. Wenn ihm nur nichts passiert!
21.4. 1945
Seit heute Nacht besetzen die Russen Oranienburg. Auf den so lange fast wie ausgestorbenen Straßen ist plötzlich reges Treiben von russischen Soldaten, zu Fuß, zu Pferde, mit Fahrzeugen. Sie kommen in alle Stadtteile. Sie dringen in die Häuser ein. Aber es wird nicht mehr gekämpft.
22.4.
Es wird gesagt, sie hätten das Lager in Sachsenhausen befreit. Die Bevölkerung ist aufgerufen, sich ein Bild zu machen. Ich war auch da. Bin völlig entsetzt. Man sagt, die SS hätte in den letzten Tagen über tausende Häftlinge erschossen. Andere seien nach Norden geschafft worden, nicht mit LKW, nein, zu Fuß. Man hatte so was gemunkelt. Aber keiner hier wusste Genaues. Berge von Leichen waren da. Die Menschen, die bis zum Skelett abgemagert noch lebten und sich aufzurichten versuchten, kamen mir vor wie Gespenster. Und das hat hier in meiner Nähe die ganzen Jahre über stattgefunden. Es ist nicht zu fassen.
Ich bin erschüttert und jetzt noch entsetzter darüber, dass Paul sich von diesen Leuten so hat einnehmen lassen.
Mit Paul ist über das Konzentrationslager nicht zu reden. Er will nicht einsehen, was war. Er möchte immer noch für den Endsieg kämpfen. Ich bin so froh, dass er es nicht mehr geschafft hat, mit seiner Hitlerjugendgruppe zu den deutschen Truppen im Norden durchzukommen. Jetzt ist er hier zu Hause eingesperrt, wo der Krieg zu Ende scheint. Er kocht vor Wut wegen der Russen in unserer Stadt …
23.4. 45
Im Norden und Süden der Stadt ist immer noch der Krieg in vollem Gange. Die deutschen Truppen verteidigen ihren letzten Brückenkopf in Germendorf.
Aber hier drin ist Ruhe eingetreten, eine merkwürdige Ruhe.
Es wird alles nicht einfach sein. Aber der Paul, der wird schon wieder zu sich kommen, wenn die Welt um ihn herum nicht mehr so verrückt ist.
25.4. 45
Flüchtlinge, die es geschafft haben, aus Berlin rauszukommen, erzählen von dort Greulgeschichten. Die Umklammerung von Berlin scheint den Russen gelungen. Es gab gestern viele Selbstmorde. Hohe Nazileute haben sich erschossen, Mütter haben sich und ihre Kinder vergiftet, weil sie Angst haben vor den Russen.
Paul ist stinksauer, weil er nicht bei dem Hitlerjungen-Regiment dabei sein kann, das sie jetzt, kurz vor dem Ende im Norden noch zusammengestellt haben. Er meint, er sei dazu verdammt, zuzusehen, wie der Feind nun unser Land, unsere Bevölkerung zerstören wird.
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