Gegen das Vergessen 2/8

Erzählungen zum Kriegsende 1945 in Oranienburg

von

Mathilda Seithe

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Teil 2 – Maria und das Vergessen

Bisher erschienen: Kapitel 1 bis 7

8. Marias Tagebuch I

Als Beate fünf Tage später mit ihren Kindern wieder zurück in ihrer Berliner Wohnung angekommen war, räumte sie ihr Reisegepäck aus. Dabei fiel ihr das Tagebuch ihrer Großmutter in die Hände. Sie zuckte zusammen. Beate hatte in den Tagen bei ihrer Mutter immer wieder versucht, nicht mehr an Oma Maria zu denken. Es war ihr schließlich auch fast gelungen.

Nur als Swen sie einmal fragte: „Können wir nicht mal zu dem großen Kreuz gehen, da wo Marias Bruder begraben ist?“, kamen doch die Erinnerungen an Oma Marias Tick, wie sie es im Familienkreis immer genannt hatten, mit überraschender Heftigkeit zurück. Sie bat ihre Mutter, den Kindern das Gedenkmal zu zeigen. Sie selbst wolle nicht mit. Auf keinen Fall. Helga seufzte, aber schließlich erklärte sie sich mit dem Vorschlag einverstanden.
Als nach ihrer Rückkehr weder Helga noch die beiden Kinder irgendein Wort zu ihrem Ausflug sagten, verdrängte Beate die Erinnerungen aufs Neue. Und nun, als sie das dünne Buch in Händen hielt, fragte sie sich irritiert, warum sie es eigentlich an sich genommen hatte.

Es wegzuwerfen, traute sie sich nicht. Sie wollte es schon aufheben. Vielleicht würde es einmal die Kinder interessieren, wenn sie älter geworden sein werden. Die Zeugen der Nazizeit starben ja inzwischen einer nach dem anderen weg, so wie Maria. Bald würde es keine authentischen Zeugnisse mehr aus jener verfluchten Zeit geben. Nein, eigentlich hatte Beate auch gar nichts dagegen, wenn ihre Kinder sich mit dieser bösen Vergangenheit beschäftigten. Generell jedenfalls. Aber in diesem Fall? Es war nicht so einfach. Den Besuchen Marias am Grab ihres so jung verstorbenen Bruders hatte immer etwas Unverständliches, etwas Widersprüchliches angehaftet. Möglicherweise war es das, was ihr diese Besuche so verhasst gemacht hatte.

Beate setzte sich auf den nächstbesten Stuhl und blätterte flüchtig das Heft durch. Das Wort „Schuld“ sprang ihr dabei auf den letzten Seiten wiederholt ins Auge. Einmal las sie den Satz: „Und nun, wie kann ich so weiterleben?“.

Beate stand auf und legte das Heft vorsichtig auf den Tisch in ihrem Zimmer. Dann besann sie sich, nahm es auf und verstaute es in ihrem Sekretär, an den die Kinder nicht dran gehen durften. Sie wollte diese Seiten von Oma erst einmal selbst lesen, bevor sie das Heft aus der Hand geben würde.

Am selben Abend war sie eigentlich sehr müde. Am nächsten Morgen musste sie wieder in die Bank zu ihrer Arbeit. Dennoch setzte sie sich in ihren Lesesessel, knipste die Lampe darüber an und öffnete das Heft. Die Kinder schliefen längst. Ihr Mann Heiko hatte sich auch schon mit einem Buch ins Bett verzogen.

„Ich bin noch nicht müde“, hatte sie ihn angelogen. „Ich muss noch was durcharbeiten, der Chef hat mir eine Akte mitgegeben, ich soll mir ein Bild machen. Irgendein komplizierter Fall.“

Sie wollte sich jetzt Zeit nehmen. Sie war ganz gefasst. Beate schlug die allererste Seite auf. Die Schrift war nicht ganz leicht zu lesen. Einige Buchstaben sahen nach Sütterlin aus. Aber sie gewöhnte sich schnell daran.

„Mein Tagebuch“, las sie. Und den Namen: „Maria Borgwald“

Ach ja, so hieß Großmutter ja, bevor sie Großvater heiratete. Sie hatte das schon fast vergessen.
Darunter stand ein Datum „14. 8. 1944“ und ein weiteres Datum, offenbar das Ende ihrer Eintragungen: „5.7.1946“. Der Krieg war am 8. Mai 1945 aus. Kurz vorher musste das Drama, der Unfall, – nein, wie sollte man das denn bloß nennen – passiert sein. Maria hatte ihre Tagebuchnotizen also ein Dreivierteljahr vor Kriegsende begonnen und dann knapp zwei Jahre später beendet.

Also dann. Sie atmete tief und begann also zu lesen.

…….

14. August.
Ich mache mir solche Sorgen um Paul. Er wird gerade erst mal 14 zu Weihnachten. Aber er lebt jetzt schon so sehr sein eigenes Leben, fast wie ein Erwachsener.

Bis vor wenigen Monaten hatte ich noch Einfluss auf meinen kleinen Bruder. Er hat auf mich gehört, Ratschläge von mir angenommen. Seit unsere Mutter tot ist, habe ich Mutterstelle an ihm vertreten. Und das sind jetzt immerhin schon 5 Jahre. Ich musste das einfach tun. Vater kümmerte sich seit dem Tod unserer Mutter nicht mehr groß um uns. Klar, wir hatten zu essen, und wenn wir was zum Anziehen brauchten, dann gab er uns Geld dafür. Aber kaufen musste ich es. Er ließ mir freie Hand. Und eigentlich ging es auch ganz gut.
Meine Freundinnen sagen, ich wäre schon eine richtige Matrone, weil ich immer nur Paul im Auge hätte und mich um ihn sorge wie eine Erwachsene. Aber das stimmt nicht so ganz. Vielleicht bin ich dadurch anders als andere Mädchen in meinem Alter, weniger sorglos und weniger daran interessiert, auf Jungs Eindruck zu machen. Kann sein. Aber ich bin manchmal auch noch ziemlich verspielt und kann auch sehr lustig sein. Vor allem mit Paul. Er ist ja gleichzeitig mein Bruder und ich habe mich mit ihm immer gut verstanden. Die 6 Jahre Altersunterschied bedeuten für uns manchmal gar nichts. Wir toben miteinander wie Gleichaltrige.
Aber jetzt hat sich etwas zwischen uns verändert. Es fing damit an, dass er in die HJ eintrat.
Im letzten Januar haben sie ihn in der Schule für die Hitlerjugend geworben. Vater war eigentlich dagegen. Er meinte, dort würden die Jungs auf einen Krieg vorbereitet. Er ist gegen die Regierung, ich weiß. Aber er redet nicht darüber.
Ich mag die Nazisprüche auch nicht. Aber alle meine Freundinnen sind im BDM und finden die neuen Entwicklungen in unserem Land toll. Ich versuche, mich da herauszuhalten. Aber für Paul, so dachte ich noch, wäre der Kontakt mit den Gleichaltrigen eigentlich doch gut.
Vater und ich haben lange gestritten deswegen. Ich war der Meinung, dass Paul diesen Kontakt für seine Entwicklung brauchen würde. Bisher war er eher schüchtern und hatte kaum Freunde. Mit diesem Argument konnte ich Vater schließlich überzeugen, und er willigte schweren Herzens ein. Und als Paul zusehends aufblühte, mutiger und fröhlicher wurde, war ich erst mal zufrieden mit der Entscheidung.

Aber dann fing er an, sich zu verändern. Er begann, sich seiner Männlichkeit zu brüsten. Ich nahm es erst mit Humor, denn er sah mit seinen dünnen Beinen und dem Jungengesicht noch lange nicht wie ein Mann aus. Aber das war nicht alles. Immer öfter kam er heim und erzählte begeistert von den Kriegsberichten, die sie gemeinsam gehört hatten. Und während ich und wohl auch Vater ahnten, dass sich in Russland das Blatt für die deutschen Truppen gewendet hatte, war er weiter vom glorreichen russischen Feldzug und vom baldigen Sieg Deutschlands überzeugt.

Mir haben die jüngsten Bombenangriffe auf unsere Stadt im letzten März gereicht. Seitdem herrschte Angst unter den Leuten, wenn auch die meisten weiterhin Hitler zujubeln.

Paul lernt jetzt bei der Hitlerjugend sogar den Umgang mit richtigen Schusswaffen. Er spricht ständig davon, dass der deutschen Rasse die Herrschaft über die Welt zustehe. Und er ist immer noch davon überzeugt, dass dieser Krieg, den ich längst im Stillen verfluche, die erstrebte Weltherrschaft begründen würde. Wenn ich zu ihm „Guten Tag“ oder „Grüß dich“ sage, wenn er nach Hause kommt, fährt er mich an, das hieße „Heil Hitler“. Ich fange an, mich ernsthaft über ihn zu ärgern. Vieles ist einfach lächerlich an seinem Auftreten, aber irgendwie kommt es mir auch immer gefährlicher vor. Gefährlich für wen? Ich weiß es nicht. Verrückterweise habe ich in den letzten Tagen zum ersten Mal so etwas wie Angst ihm gegenüber gespürt.

Wenn ich versuche, mit ihm zu reden, dann lacht er mich aus. Wenn ich andeute, dass der Krieg schon viel zu viel Unglück über die Menschen gebracht hat, sieht er mich mit einem Blick an, dass es mir kalt den Rücken unterläuft. Ich habe begonnen, mich vor dem eigenen kleinen Bruder in Acht zu nehmen. Obwohl ich ihn liebe wie nichts anderes auf dieser Welt. Was soll werden?“

28. August 1944
Paul hat heute beim Frühstück gesagt, er schäme sich, weil unser Vater nicht in der NSDAP sei und ich nicht im BDM. An der Reaktion von Vati merkte ich, dass auch der die Veränderungen an seinem Sohn mit Nervosität und Unwillen beobachtet. Er antwortete Paul nicht. Da warf Paul das Messer auf den Tisch und verließ die Küche. Vater und ich, wir schwiegen uns an. Endlich meinte er:
„Was ist da bloß aus unserem Jungen geworden? Was machen die aus ihm?“
Was hätte ich ihm antworten sollen?

26. September 1944
Unsere Truppen ziehen sich zurück, heißt es. Aber man darf nicht darüber reden. Es wird nicht mehr lange dauern. Das sagen viele. Nur laut sagt es keiner. Alle haben Angst. Jetzt soll es den Volkssturm geben. Wenn das nicht auch noch Vater trifft. Bisher hat ihn sein steifes linkes Bein davor geschützt, eingezogen zu werden. Nur Paul trällert den ganzen Tag. Er scheint gar nicht zu begreifen, was läuft. „Für den Führer zu sterben, das wäre eine große Gunst“, sagte er heute.
„Du bist verrückt, Paul. Was hat dein Hitler davon, wenn du für ihn sterben willst. Aber du, du verlierst dein Leben. Aber du hast es doch noch vor dir“, habe ich gesagt.
„So reden nur wankelmütige Leute, die nicht wert sind, in unserer Volksgemeinschaft zu leben,“ warf er mir an den Kopf und ließ mich wütend stehen.
Ich könnte weglaufen. Aber wohin? Vater schweigt dazu.

1.10. 1944
Wir hängen alle nur noch am Volksempfänger. Unsere Truppen müssen immer mehr zurückweichen. Sie sind inzwischen wohl schon in Polen, haben die Ukraine hinter sich gelassen. Was wird aus uns? Wenn wir verlieren, werden sich die Völker an uns rächen. Aber Paul sagt, „Wir siegen dennoch, warte es nur ab. Wenn Hitler erst mal seine Wunderwaffe einsetzen lässt.“
„Was ist das wirklich?“, fragte ich ängstlich. „Das wissen nur die engsten Kreise,“ sagte er stolz. Er tat gerade so, als gehöre er dazu.

23. 11. 1944
Sie haben Vater einberufen. Bisher konnte er sich mit seinem steifen Bein davor retten. Aber jetzt nehmen sie wohl jeden. Ich habe Angst um ihn. Paul klopfte ihm auf die Schulter und meinte, nun könne er endlich wieder stolz auf seinen Vater sein. Wie schrecklich!
Unsere Essenmarken reichen nicht. Offenbar wird alles immer knapper.

Meine Freundin Eva hat aus London geschrieben. Sie ist vor vier Jahren mit ihrem Verlobten nach England geflohen. Dort haben sie geheiratet. Sie leben unter erbärmlichen Verhältnissen, schreibt sie, im Flüchtlingslager. Und die Engländer sehen sie misstrauisch an, einfach nur deshalb, weil sie deutsch sind. Aber Eva und ihr Mann müssen jedenfalls keine Angst mehr haben, abgeholt zu werden. Heinrich, ihr Mann ist Jude. Ich wundere mich, dass der Brief ohne Zensur durchgegangen ist. Ich muss ihn gut verstecken. Wenn Paul ihn finden würde – ich weiß nicht. Er ist unberechenbar. Es ist schrecklich, dass ich mit 21 Jahren Angst vor meinem kleinen Bruder haben muss. Eigentlich habe ich doch Angst um ihn.


9. Marias Tagebuch II

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