Erzählungen zum Kriegsende 1945 in Oranienburg
von
Mathilda Seithe
*****
Teil 2 – Maria und das Vergessen
Bisher erschienen: Kapitel 1 bis 6
7. Die Beerdigungsgesellschaft
Maria war vor wenigen Stunden begraben worden. Inzwischen zeigte keiner mehr seine Trauer. Und es gab auch niemanden mehr, der nur vorgab, traurig zu sein. Die Menschen erinnerten sich wieder, dass sie selbst noch lebten und vom Leben gefordert waren.
Die Beerdigung hatte gegen Mittag stattgefunden. Jetzt saß Helgas Familie in der Gaststube ‚Zum goldenen Rad‘ zusammen. Das war gleich um die Ecke am Friedhof. Helga hatte einen kleinen Raum für die Familie reservieren lassen, wo sie ungestört sitzen konnten. Sie war eine umsichtige Frau, die nichts vergaß.
Nun hockten alle hier zusammen: Helga und ihr Mann Gerd. Von ihren Kindern war nur die Tochter Beate aus Berlin gekommen, allerdings ohne ihren Ehemann. Der war dienstlich verhindert. Die beiden Söhne von Gerd und Helga hatten sich entschuldigt. Sie mochten Oma Maria nicht so sehr und hielten sich ohnehin immer gerne aus Familienangelegenheiten raus. Aber Kathi, die hübsche 10jährige Tochter von Beate und der 12jährige Swen waren dabei. Man genoss den starken Kaffee, der die Lebensgeister weckte, und verspeiste Kuchen und Gebäck. Für die Kinder gab es Limo. Swen, der Ältere ergatterte eine Cola. Keiner achtete darauf. Alle schienen froh, dass nun das Begräbnis hinter ihnen lag und man sich unter Lebenden wieder dem Alltag zuwenden konnte.
Dennoch, worüber sie auch sprachen, die Verstorbene war doch noch irgendwie unter ihnen.
„Sie war ja am Schluss wirklich schon ein bisschen komisch, die gute Maria“, seufzte Helga. „Es war nicht ganz einfach mit meiner Mutter. Seit mein Vater tot ist, ist sie immer sonderbarer geworden“.
„Wieso?“, ließ sich der Junge vernehmen. „Ich mochte Uroma!“
„Ich auch!“, prustete seine Schwester in die Runde.
„Ja, natürlich war Oma Maria nett . Und wir haben sie alle auch gern gehabt, Kathi,“ wandte sich nun Beate ihren Kindern zu. „Aber ehrlich gesagt, bin ich froh, dass jetzt niemand mehr dauernd mit ihr zum Massengrab hinter dem KZ gehen muss. Als ich noch hier zu Hause wohnte, durfte ich sie Woche für Woche dorthin begleiten. Sie erwartete das später auch dann noch von mir, wenn wir hier bei euch zu Besuch waren. Und si musste dorthin, koste es, was es wolle. Als hinge ihr Leben davon ab. Es wurde ja immer schlimmer damit.“
Helga nickte verständnisvoll:
„Die Nachbarn haben schon geredet. Mir war das sehr peinlich, vor allem, weil sie immer wieder neu ihre Geschichte von Paul aufgetischt hat. Es hing allen längst zum Hals raus.“
Gerd, ihr Mann murmelte in seinen Bart:
„Deine Mutter ist eben über die Ereignisse in den letzten Kriegstagen nie hinweggekommen, Helga.“
„Das kann man wohl sagen!“, hakte die sofort ein. Gerd, der wohl noch etwas anderes bemerken wollte, machte den geöffneten Mund wieder zu und schwieg.
„Aber es ist doch gar nicht wirklich während der Kämpfe passiert. Hier im Ort patrouillierten längst die Russen und die Waffen ruhten. So gesehen war hier der Krieg aus, als sie Paul erschossen haben. Das ist sicher besonders tragisch gewesen, das kann man ja verstehen. Aber wenn du mich fragst, hätte Maria in den nächsten 70 Jahren auch mal versuchen können, die Vergangenheit hinter sich zu lassen,“ fuhr Helga fort. Man sah ihr an, dass sie sich ein Leben lang über diese Angewohnheit ihrer Mutter geärgert hatte.
„Schon als ich ganz klein war und gerade eben laufen konnte, hat sie mich immer mitgeschleppt. Lange habe ich gedacht, das müsse so sein. Später habe ich alles versucht, mich davor zu drücken. Vater kam ja nie mit. Er hasste diesen ganzen Umstand wegen Paul. Aber er ließ sie ziehen.“
„Und später war ich dann dran“, fiel Beate ein. „Immer sollte nur ich mit ihr gehen. Nie Henrik oder Erich. Als ich noch klein war, fand ich es ja noch interessant, allein mit Oma was zu unternehmen. Die Jahre danach hat es mich mehr genervt. Aber ich konnte ihr die Bitte nie abschlagen. Sie hätte es nicht verstanden und wäre bestimmt furchtbar verletzt gewesen.“
„Erich und Henrik sind ja auch nicht zu ihrer Beerdigung gekommen, die haben es immer geschafft, sich Uroma vom Leib zu halten“, bemerkte Gerd. In seiner Stimme klang Bitterkeit.
„Mama, ich finde, du hättest dich damals ja auch mal auf meine Seite stellen können! Hättest ihr sagen müssen, dass sie mich als unwissendes Kind nicht zu ihrer wöchentlichen persönlichen „Gedenkfeier“ mitschleppen sollte. Aber ihr habt es immer geduldet.“ Auch Beate regte sich jetzt auf.
„Ach, lass man, Beate! Ärger dich nicht mehr. Oma ist tot und hat jetzt endlich ihre Ruhe. Es ist ja nun vorbei. Und der Krieg ist seit 74 Jahren aus. Wir haben heute andere Zeiten. Wir leben seitdem in Frieden.“
Gerd hustete. „Wir vielleicht,“ murmelte er und sah seine Frau kopfschüttelnd an. „Wir vielleicht“, wiederholte er. Helga runzelte die Stirn.
„Was soll das jetzt, Papa? Hör auf mit deinem ewigen Politisieren! Wir reden hier über Maria und ihren Tick. Um mehr geht es nicht.“
Und an ihre Tochter Beate gewandt sagte sie mit beruhigender Stimme:
„Und die letzten 15 Jahre, ich meine, seit du selbst Kinder hast, hat sie dich doch damit in Ruhe gelassen, oder?“
„Sie hat es aber immer wieder versucht. Ich bin dann endlich stur geblieben. Aber ich habe nur darauf gewartet, dass sie anfängt, Swen mitzunehmen oder Kathi.“
Helga antwortete nicht gleich.
Da sagte Gerd:
„Helga, ich meine nur, du lebst hier vielleicht in Frieden. Aber es gibt so viele Menschen, die das nicht tun. Es gibt immer noch Krieg und sogar wieder mehr. Ich kann das nicht so wegschieben wie du. Und ich fand eigentlich, dass Maria gar nicht so verrückt war. Warum sind denn 70 Jahre so eine lange Zeit? Irgendwie konnte ich sie verstehen. Und die Weltlage heute sieht nicht gerade so aus, dass man sich keine Sorgen darum machen müsste, dass uns der nächste Krieg ins Haus steht.“
„Jetzt ist aber gut, Gerd, nicht vor den Kindern! Ich will das nicht mehr hören!“, wetterte Helga ihren Mann an. Der lächelte und brummte vor sich hin.
Beate versuchte, die Lage zu beruhigen:
„Bitte Opa wir wollen das jetzt wirklich nicht hören. Wir haben eben erst Maria begraben. Ich möchte nicht, dass ihr euch streitet.“
„Was war denn da im Krieg?“, fragte plötzlich Kathi. Und wieso glaubt Opa, dass wieder einer kommt?“
Alle schwiegen.
„Kinder, nun lasst doch die alten Zeiten“, versuchte jetzt auch der Großvater das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. „Wollte mir Swen nicht noch sein Zeugnis zeigen, hast du es denn mitgebracht?“
„Der hat das natürlich wieder vergessen!“, trumpfte Kathi auf. Aber ich habe meins mit. Willst du es sehen?“
Da gerade erst die Winterferien angefangen hatten, konnte Beate mit ihren Kindern noch für ein paar Tage bei den Großeltern bleiben. Ihr Mann würde schon allein klarkommen.
Am nächsten Tag packte Helga mit Beate die persönlichen Sachen von Oma Maria in eine Kiste. Keiner hatte Interesse daran gezeigt, sie aufzuheben. Man wollte sie entsorgen. Es war nichts dabei, was jemand anderer noch hätte gebrauchen können. Swen stand neben seiner Mutter. Er sah mit einem Gemisch von Neugierde und Befremdung die alten Sachen an: das Gebetbuch von Maria, eine Schachtel mit Briefen und Fotografien, ein paar Bücher und ein handgeschriebenes, gebundenes Heft.
„Mama, was sind das eigentlich für Besuche, die Oma Maria immer gemacht hat? Und warum fandest du das denn so schrecklich?“
„Ach, es war wegen Paul, ihrem jüngeren Bruder, du weißt doch?“
„Das ist doch der, der schon mit 14 gestorben ist?“
„Ja, der liegt da drüben am großen Kreuz begraben, hinter dem KZ Gelände.“
„Ach, komisch, da war ich wirklich mal mit Oma Maria. Aber ich dachte, das sei Zufall gewesen, wir sind doch einfach nur da spazieren gegangen.“
„Hat sie es also doch versucht!“, entfuhr es Beate.
„Und da liegt er? Warum gerade da? Ich dachte immer, da hätte man nur Soldaten begraben, die in den letzten Tagen vor Kriegsende gefallen sind.“
Ihr Sohn blickte sie erwartungsvoll an. Sie schwieg. Man hörte plötzlich, wie Wasser in der Spülmaschine einlief.
Swen ließ nicht locker.
„Weißt du denn nicht, wer da wirklich begraben liegt? Und wieso dann Uromas Bruder Paul? Der muss doch damals noch fast ein Kind gewesen sein.“
Helga erbarmte sich endlich und gab Auskunft:
„Er war 14. Und er war ein begeisterter Hitlerjunge.“
„Na und? Aber mit 14 konnte er doch noch gar nicht Soldat gewesen sein. Wieso liegt er denn da?“
„Also pass auf, Swen: Da in der Anlage bei dem großen Kreuz haben sie ein gutes Dutzend von Hitlerjungen begraben, keiner war älter als 14 oder 15 Jahre. Sie sind von den Russen erschossen worden.“
„Aber wieso haben die auf Jugendliche geschossen? Der Krieg war doch vorbei. Warum haben sie einfach weitergemacht?“
„Nein, die nicht, Swen. Aber Marias Bruder Paul war es, der nicht aufhören konnte mit dem Krieg spielen, er nicht und seine Hitlerjugend-Truppe nicht. Sie waren seit Jahren aktiv beim Volkssturm. Da hat man sie aufs Kämpfen vorbereitet und geradezu wild gemacht, alles für den sogenannten Endsieg zu geben. Sie fühlten sich als Kämpfer für Deutschland und als letzter Stoßtrupp von Hitler. Als die sowjetischen Truppen bei uns einzogen, haben sie sich nicht ergeben. Sie wollten unbedingt weiterkämpfen bis zum Sieg. Sie haben sich in einen Hinterhalt gelegt und auf russische Soldaten geschossen, die im Ort patrouillierten. Sie haben die Waffenruhe einfach ignoriert. Solche Leute wurden damalsauf der Stelle erschossen, egal wie alt sie waren.“
„Oh“, sagte Swen. „Hat er denn jemanden getroffen, ich meine Marias Bruder Paul.“
„Ich weiß es nicht genau“, meinte Helga zögernd. „Darüber hat meine Mutter nie gesprochen. Aber einmal erwähnte sie, dass Paul wohl Pech gehabt hätte bei einer dieser Aktionen. ‚Der Lümmel hat eben vorher schon zu viel mit den Schusswaffen rumgespielt. Er war einfach zu gut, um daneben zu treffen‘, hatte Maria damals gesagt.“
„Und Maria? Hat sie später zu ihrem Bruder gehalten? Oder hat sie ihm die Schuld gegeben. Weißt du das, Oma?
„Sie hat ihn geliebt und um ihn getrauert, Swen, mehr weiß ich auch nicht.“
Beate hatte schweigend dem Gespräch zwischen Helga und ihrem Sohn zugehört. Sie blickte auf die paar Besitztümer, die von Uroma Maria übriggeblieben waren. Sie wollte auf einmal nicht, dass all diese Sachen von der Erde verschwinden würden, ohne dass sie noch jemand in der Hand gehabt hatte. Vielleicht könnte das Tagebuch erklären, warum Oma Maria so unbeschreiblich fixiert darauf war, das Grab ihres Bruders jede Woche aufzusuchen, Jahre lang, über 70 Jahre lang, bis zu ihrem Tod. Sie griff nach dem handgeschriebenen Bändchen und blätterte es flüchtig durch. Es war mit kleiner, akkurater Schrift vollgeschrieben. Über den kurzen Textabschnitten stand jedes Mal ein Datum: ein Tagebuch also.
„Kann ich das behalten, ich meine als Erinnerung an Oma?“, fragte sie Helga. Es sollte lässig klingen, nach einer plötzlichen Idee, die aber nichts weiter bedeutete. Aber ihre Mutter spürte das plötzlich aufgeflammte Interesse ihrer Tochter und es befremdete sie.
„Warum willst du das denn lesen? Lass doch die alten Zeiten ruhen. Komm, leg es zurück, es bringt doch nichts!“
Beate zuckte mit den Schultern. Sie legte das Heft wortlos auf den Stapel zurück. Am Nachmittag, als die Kiste zum Abholen an der Eingangstür stand und keiner sich darum kümmerte, griff sie im Vorbeigehen nach dem handgeschriebenen Buch und brachte es rauf in ihr Zimmer, steckte es tief in ihr Gepäck. Keiner hatte sie gesehen und niemand würde das Buch vermissen.
****
Das Gesamtwerk „Gegen das Vergessen“ ist urheberrechtliche geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachun
Pingback: Gegen das Vergessen 1/6 | opablog