Erzählungen zum Kriegsende 1945 in Oranienburg
von
Mathilda Seithe
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Teil 1- Das Haus mit dem spitzen Dach
Bisher erschienen: Kapitel 1 bis 5
6. Das alte Foto
Doch, tatsächlich: Jetzt, wo wir auf das Museums-Haus zugingen, konnte ich mich wieder genau erinnern. Damals war ich nicht so richtig bei der Sache. Irgendein Ausflug war das an diesem Tag für mich, den Papa und Mama mit uns machen wollten, damit wir was lernen. Das kam öfter vor, und wir spielten geduldig mit. Ich glaube, ich habe damals während des ganzen Besuches nur darüber nachgedacht, was ich meiner Freundin am nächsten Freitag zu ihrem Geburtstag schenken könnte.
Heute aber spürte ich vom ersten Moment an, dass es hier in diesem Museum um den Tod ging. Alle Besucher schauten so schrecklich ernst. Und sobald man sich die Bilder und Auslagen näher ansah, erkannte man sofort, dass hier versucht wurde, etwas unerträglich Schreckliches festzuhalten. Da waren Bilder von ausgemergelten Menschen, Fotos von Leichenhaufen, die die Russen damals gemacht haben, als sie das KZ Sachsenhausen befreiten. Und überall gab es Notizen, Erklärungen und Zeittafeln, die Schlimmstes enthüllten. Es war unerträglich, was wir sahen und lesen mussten. Später gingen wir auch raus auf das Gelände des KZs. Das war noch schlimmer.
Ich kann, wo alle Erinnerungen noch so frisch sind, jetzt nicht mehr darüber nachdenken, vielleicht später einmal. Wir wurden alle drei immer schweigsamer, je länger wir dort herumliefen. Vergessen werde ich es nie. Da bin ich sicher. Ich verstehe gar nicht, warum es mich vor zwei Jahren so kalt gelassen hat.
„Aber über die KZ-Aufseher haben wir bisher nur ziemlich allgemeine Informationen erhalten“, meinte Elke nach einiger Zeit. „Schade!“ Auch sie sah mitgenommen und aufgewühlt aus.
Sie hatte Recht. Das war ja schließlich der Anlass für unseren Besuch hier gewesen. Wir, vor allem ich, wollten ja wissen, was das für Menschen waren, die da vor uns gelebt, geschlafen, gegessen haben, ihre Kinder erzogen und sich und ihre Kinder vermutlich sogar geliebt haben.
Elke ging zurück an den Eingang. Dort fragte sie die Museumswärterin nach irgendwelchen Hinweisen über die KZ-Wärter. Die wies uns an eine Stelle ziemlich am Rande des Ausstellungsraumes. Dort fanden wir dann auch, was wir suchen: Namen und Fotos von KZ-Wärtern. Zu meinem Entsetzen waren auch zwei Frauen dabei. KZ-Wärterinnen. Ich versuchte, in ihren Gesichtern zu lesen. Sie sahen weder brutal noch teuflisch aus, ganz normale Frauen, ein wenig herbe Züge vielleicht. Aber vermutlich war das meine Fantasie. Einmal mehr fragte ich mich, wie Menschen mit anderen Menschen so umgehen können. Und dann gehen sie nach Hause zum Abendbrot und die Frau erzählt, was heute beim Einkaufen passiert ist. Die Kinder berichten über ihre Klassenarbeiten und Mathematik-Noten, oder sie fragen, ob sie morgen bei ihren Freunden übernachten dürfen. Ich bekam plötzlich Magenschmerzen.
Elke entdeckte einen kleinen Stapel alter Fotos und Postkarten. Wir nahmen sie aus dem Kasten heraus, blätterten die Bilder durch. Portraits, auch wieder die beiden Frauen darunter, dann mehrere Fotos, die eine Gruppe Menschen am Ufer eines Sees zeigten: im Gras sitzend, die Picknickkörbe zwischen sich.
Auf einem Foto stand eine Notiz auf der Rückseite, mit Tinte geschrieben, verblasst aber noch lesbar. „Unser Betriebsausflug am 27.7.1944 am Lehnitz-See.“
„Schaut mal, hier ist der KZ-Wärter, der mit dem Bart, den haben wir vorhin schon gesehen auf einem anderen Foto.“
Tatsächlich, sie saßen alle um den Picknick-Korb herum, auch die beiden Frauen waren dabei. Im Hintergrund erkannte man den See. Die Gruppe hatte es sich zwischen zwei umgekippten Baumstämmen im Ufergras gemütlich gemacht. Wenn man genauer hinsah, konnte man erkennen, dass sie fröhlich waren, einige der Gesichter lachten.
„Die haben ihren Betriebsausflug gemacht wie irgendeine andere Kollegengruppe, wie Leute aus der Stadtverwaltung oder aus dem Chemiewerk“, stellte Elke fest. Ihre Stimme klang erregt.
Ich starrte die Fotos fasziniert an, entsetzt zugleich: Ich konnte diese Menschen lachen hören: Sie flirten mit einander und reißen Witze, sie toben wie die Kinder, einige der Männer sitzen abseits und spielen Karten. Eine Frau geht herum und versorgt alle mit Bier.
„Herrliches Wetter heute. Klasse für ’nen Betriebsausflug!“, sagt einer.
„Haben wir uns wahrhaftig verdient. Die letzte Woche war doch ziemlich anstrengend. Und nächste Woche kommt schon wieder so ein großer Transport aus Theresienstadt. Ich finde, sie sollten die Arbeit mal ein bisschen gerechter aufteilen. Bei uns landen eindeutig zu viele.“
„Ach komm, wir schaffen das doch. Und die verlausten russischen Gefangen , die da jetzt bei uns untergebracht sind, die machen schließlich nicht so viel Arbeit. Für die muss ja nicht mal die Küche was tun.“
„Ja, Recht hast du. So kann man es auch sehen.“
„Und die halten das auch nicht lange aus, so ganz ohne was zum Fressen, dann sind wir sie schnell wieder los.“
„Ach, mal was Anderes: Nächste Woche ist Sommerfest am Schloss. Unser Chor tritt wieder auf. Kommt ihr?“
„Mal sehen, wir wollten am Wochenende eigentlich mit den Kindern zu den Großeltern nach Berlin.“
Dann hörte ich nichts mehr. Die Figuren auf den Fotos schienen wieder erstarrt, eine Momentaufnahme, mit mäßig guter Foto-Technik vor 70, 80 Jahren aufgenommen.
Ich begriff das nicht. Das Foto zeigt, dass sie sich wie ganz normale Leute verhalten haben. Wahrscheinlich sprachen sie auch von ihrer Arbeit, als würden sie Bratpfannen herstellen oder Nähmaschinen.
„War denen wirklich nicht klar, was sie taten“, fragte ich schließlich in das Schweigen hinein.
Elke schaute mich an. Dann sagte sie langsam:
„Wir wissen es nicht. Aber man kann es sich einfach nicht vorstellen!“
„Nun wie war es im Museum?“, empfing uns Mama.
„Ziemlich beeindruckend.“
„Und habt ihr was gefunden, ich meine über das Haus hier?“
„Nicht direkt, aber über die KZ-Wächter allgemein gab es schon einige Informationen dort. Fotos konnten wir auch anschauen. Es waren auch zwei Frauen dabei.“
Ich erzählte es mit müder Stimme. Ich wollte mit Mama eigentlich nicht darüber reden, merkte ich.
Trotzdem musste ich viele Tage lang noch immer darüber nachdenken. Wenn ich das Haus betrat, stellte ich mir vor, wie es gewesen sein könnte, als Lucie damals – so hieß doch das kleine Mädchen – aus der Schule kam. Wahrscheinlich nicht viel anders als heute bei uns? Lucie war ja noch ein richtiges Kind. Aber der Bruder, der bekam schon so Einiges mit. Natürlich musste er zu seinem Vater halten. Was sonst hätte er denn machen sollen? Wie hieß er gleich? Ich überlegte, ob Lucie ihren Bruder beim Namen genannte hatte. Ja, Werner. Sie nannte ihn Werner.
Die Kinder kamen aus der Schule, legten ihre Ranzen im Flur ab und schauten erst mal in der Küche nach, was die Mutter gekocht hatte. Und diese Frau stand am Herd und wusste die ganze Zeit, dass ihr Mann wenige hundert Meter weiter damit beschäftigt war, Menschen zu schikanieren, ihren Tod vorzubereiten, sie als Ungeziefer zu behandeln. Fand sie das gut? Dachte sie auch so? Oder ging es ihr vielleicht schlecht, weil sie es nur schwer ertragen konnte.
„Wann kommt Vater nach Hause?“, fragte vielleicht Lucie. Sie waren schon mit der Suppe fertig. „Heute wird es sicher wieder spät“, könnte die Mutter geantwortet haben. „Es gibt im Moment so viel zu tun drüben im Lager.“ Und Werner hätte seine Mutter vielsagend angesehen. Aber sie würden schweigen. Und Lucie hätte vielleicht noch gesagt: „Doofe Arbeit. Die sollen unseren Vater mal mehr nach Hause schicken. Die Arbeit können doch die anderen auch machen.“ Und die Mutter würde ihr daraufhin übers Haar gestrichen haben: „Lass mal, Vater wird eben gebraucht. Aber am Sonntag, da gehen wir alle zusammen zum See, ja?“
Diese Geschichten verfolgen mich.
Aber ich bin trotzdem froh, dass ich es nun weiß, und man mir nichts vormachen kann. Elke fährt morgen wieder nach Hause. Mit wem kann ich jetzt darüber sprechen? Nicht mit Mama. Die kriegt doch nur Angst um uns.
7. Die Beerdigungsgesellschaft
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