Gegen das Vergessen 1/3

Erzählungen zum Kriegsende 1945 in Oranienburg

von

Mathilda Seithe

*****

Teil 1- Das Haus mit dem spitzen Dach

Bisher erschienen: Kapitel 1 und 2

3. Die Schwestern

Abends, als wir schon im Bett lagen, hörte ich unten im Wohnzimmer, wie sie miteinander sprachen. Das Kopfende meines Bettes steht nahe an der Tür und ich höre die Geräusche von unten, wenn ich abends still liege und vor dem Einschlafen in die Dunkelheit meines Zimmers schaue. Erst konnte ich nichts verstehen. Sie sprachen leise und ruhig. Doch plötzlich wurden sie lauter. Ich lauschte.

„Du hast uns das Haus hier ganz schön madig gemacht, meine liebe Schwester. Das war nicht nötig! Wir wollten mit dir den gelungenen Umzug feiern.“

„Haben wir doch, oder nicht?“

„Aber du konntest es nicht lassen, diese Geschichte zu erzählen.“

„Also, ich finde, die Kinder gehen damit ganz vernünftig um.“

„Was weißt du denn? Karola ist ein ganz sensibles Mädchen. Da mache ich mir schon Sorgen.“

„Aber sie hat gesagt, dass sie das Ganze für nicht so wichtig hält.“

Ein paar Sekunden lang war es still.

Dann hörte ich Mamas Stimme, ziemlich laut:

„Das hast du schon immer gekonnt: Alles kaputt machen, wenn es einmal und endlich ruhig war und alle zufrieden waren. Ich hätte es mir denken können, verdammt noch mal!“.

„Jetzt reg dich nicht so auf! Das sind doch Tatsachen, denen muss man ins Gesicht sehen. Du hast selbst gesagt, dass es falsch ist, die Zeit von damals einfach zu vergessen!“

„Ja, aber doch nicht so nah, nicht in meinem eigenen Haus.“

„Ich will dir mal was sagen: Ihr lebt hier in einem richtigen Wolkennest. Weißt du eigentlich, wie es derzeit um unseren Frieden steht?“

„Ach die da oben, die machen doch immer nur Wind? Es gab jetzt 70 Jahre keinen Krieg mehr in Europa. Was willst du?

„Es gab keinen Krieg in Europa? Ja, das säuseln sie alle zurzeit, besingen diese Lüge auch noch. Sind darauf stolz. Und der Jugoslawienkrieg? Ist das etwa nicht Europa gewesen? Da haben wir Deutschen Städte in Europa bombardiert, zusammen mit unseren Freunden von Übersee. Und was ist in der Ukraine los? Da ist Krieg seit 2014, da kämpfen die Truppen der Ukraine gegen die Bevölkerungsteile in ihrem eigenen Land, die es gewagt haben, ihre Selbstständigkeit zu fordern. Ach ja, das ist auch Europa, wusstest du das nicht? Und all die Kriege in der Welt, an denen Europa und natürlich auch wir uns beteiligt haben, die kannst du einfach ausblenden? Betrifft ja nicht uns?

„Du bist jetzt unfair, Elke. Du weißt genau, dass ich so nicht denke.“

„Ach ja, aber dann kannst du auch nicht herumlaufen mit dieser dümmlichen Lüge, Europa hätte seit 70 Jahren keinen Krieg gehabt.“

„Jugoslawien, ja, da hast du recht. Das hatte ich wirklich schon vergessen.“

„Und wenn Europäer Städte in anderen Ländern angreifen und bombardieren? Wenn sie dabei sind, wenn mit Drohnen Menschengruppen per Mausklick ausgelöscht werden, dann ist das kein Krieg, kein Krieg für Europa? Und wenn unser Land Waffen exportiert in Länder, die Krieg führen und die in ihrem eigenen Land Bürgerkriege anzetteln gegen die eigene Bevölkerung, dann ist das „kein Krieg in Europa“?

„Hör auf, hör schon auf. Ja, ich weiß das doch auch.“

„Meinst du, Friede besteht nur darin, dass man uns in Ruhe lässt und keine Bomben auf unsere Städte fallen?“

Nun hatte sich auch Elke in Rage geredet.

Ich hatte mich längst im Bett aufgerichtet, um besser hören zu können.

Die Stimme meiner Mutter wurde leiser. Ich musste jetzt zur Tür schleichen und sie öffnen, um noch etwas verstehen zu können.

Was die Mutter jetzt sagte, konnte man nicht verstehen. Aber Elke antwortete gleich:

„Bitte, da hast du es!“

„Aber Elke, bitte, ich mag es nicht, wenn du ständig diese pessimistische Stimmung verbreitest. Man muss doch trotzdem weiterleben. Die Politik kann unser einer doch nicht beeinflussen, das weißt du so gut wie ich. Sollen wir deshalb von morgens bis abends nur Trübsal blasen? Ich möchte, dass meine Kinder fröhlich und ungestört aufwachsen können.“

„Das wollten die Mütter vor dem 2. Weltkrieg sicher auch, die Nazimütter und auch die, die vor den Taten der Nazis die Augen verschlossen haben, Christa. Nichts sehen, nichts, hören, nichts sagen.“

„Aber die Leute wollten doch den Krieg. Die haben doch Hitler damals zugejubelt, als er den Krieg ankündigte.“

„Da hast du recht. Aber sie haben sich einlullen lassen. Sie hatten keine Vorstellung, was Krieg bedeuten würde. Aber schau dich heute mal um. Wir leben in einer politisch höchst brisanten Zeit. Aber wieder schauen alle weg, alle denken, das wird schon gut gehen. Und einige, die würden sogar am liebsten losschlagen.

„Wir aber nicht, Elke. Wir doch nicht.“

„Aber wenn man vergisst, was war, wenn man es vermeidet, der Vergangenheit ins Gesicht zu sehen, dann darf man sich nicht wundern, wenn es plötzlich wieder losgeht. Dieses Mal muss noch nicht einmal jemand jubeln. Da werden wir nicht gefragt.“

„Hör auf! Du machst nur Angst.“

„Weißt du was, Christa, ich habe Angst. Und am meisten Angst habe ich vor meinen Mitmenschen, die taten- und meinungslos zusehen.“

„Was meinst du?“

„Du bist Lehrerin. Wie findest du es, dass unsere liebe Bundeswehr schon so populär geworden ist in diesem Land, dass niemand was dabei findet, wenn Offiziere in Gymnasien den Sozialkundeunterricht übernehmen.

„Bei uns nicht!“

„Und das reicht dir?“

„Jetzt fang nicht auch noch an, dich in meine beruflichen Angelegenheiten einzumischen! Hör auf!“

„Na gut, Schwesterherz. Ich habe es dir gesagt. Mehr kann ich nicht tun.“

Es wurde still. Keine sagte mehr etwas. Dann gingen Türen. Offensichtlich waren sie in ihre Betten gegangen. Ich lag noch lange wach.

4. Der Hauskauf

****

Das Gesamtwerk „Gegen das Vergessen“ ist urheberrechtliche geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Dieser Beitrag wurde unter Bewußtheit, Blödmaschine, Demokratie, Faschismus alt neu, Krieg, Kunst, Leben, Literatur, Realkapitalismus, Widerstand abgelegt und mit , , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.

Eine Antwort zu Gegen das Vergessen 1/3

  1. Pingback: Gegen das Vergessen 1/2 | opablog

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s