Gegen das Vergessen 1/1

Erzählungen zum Kriegsende 1945 in Oranienburg

von

Mathilda Seithe

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Teil 1- Das Haus mit dem spitzen Dach

  1. Endlich ein neues Zu Hause

Auch uns hatte das Haus vom ersten Moment an gut gefallen, meinem Bruder und mir. Irgendwie sah es so aus wie die Häuschen in einem Bilderbuch, das ich früher mal sehr geliebt habe: Spitzes Dach, quadratische Vorderseite, vorne unten zwei Fenster und oben auch. Im Giebel ein kleines Fensterchen, rund. Ich habe mich gleich in diesen Anblick verliebt. Wenn dort ein Zimmer sein sollte, dann wollte ich es unbedingt haben. Ein gemütliches Haus, klein aber wenn man hineintritt, doch nicht so winzig und eng, wie man gedacht hatte. Mama hat es gekauft, weil unser früheres Haus in Lehnitz in der Unterhaltung zu teuer geworden war, seit Papa nicht mehr lebt, und wir allein mit ihrem Gehalt zurechtkommen müssen. Vom Erlös der kleinen Villa in Lehnitz war noch ein gutes Stück Geld übriggeblieben. Mama sagte, das bräuchten wir als Polster, zum Beispiel, wenn wir beide später studieren wollten. Wir waren mit dieser Auskunft zufrieden.

Mein Bruder und ich, wir freuten uns schon deshalb, weil dieser Kauf und unser Umzug hierher das Erste waren, was Mama seit dem Tod von Papa wieder mit ein wenig Freude machte. Heute, am 28.April 2019, an unserm Einweihungstag lachte sie sogar wieder. Das erleichterte uns Kinder sehr.

Natürlich bekam ich nicht das Zimmer auf dem Dachboden mit dem runden Fenster. Aber ich habe jetzt ein kleines Zimmer im 1. Stock, wo ich nach hinten herausblicke, in unseren Garten, in die Gärten der Nebenhäuser und in die Bäume und in Buschwerke, die sich dahinter anschließen. Ich gehe die enge Treppe nach oben und bin dann sofort an meiner Tür. Mein Bruder hat daneben auch einen kleinen Raum. Mama schläft im Erdgeschoss, direkt neben dem Wohnzimmer. Das Haus kam uns anfangs sehr eng vor, aber wir haben uns schon daran gewöhnt. Es ist eben ein kleines, gemütliches Haus.

Das Lustige ist: Die Häuser rechts und links von uns sehen übrigens fast genauso aus. Sie haben alle denselben Grundriss und wirken wie Spielzeughäuschen aus einem Baukasten für Kleinkinder. Aber an den Vorgärten, den verschieden Farben der Häuser und an den hellen oder dunkelroten Ziegeln auf den spitzen Dächern kann man sie unterscheiden. Sie stehen eins neben dem anderen die Straße entlang bis zur Schleuse oben am Havelkanal. Ich finde, sie sehen aus wie bunte Perlen einer Schnur. Auf der anderen Straßenseite, gleich gegenüber von den kleinen Häusern, geht es zum See. Man läuft nur ein paar Minuten quer durch den Wald, dann sieht man schon die Wasseroberfläche schimmern. Die Straße weiter hoch, hinter der Schleuse und der Brücke über den Kanal, führt sie dann durch das Gewerbegebiet der Stadt und durch ein paar eingemeindete Dörfer weiter ins Brandenburgische. Also, wir sind sehr gespannt, was Tante Elke zu unserem Haus sagen wird.

Ich glaube, Mama ist nämlich heute auch deshalb so gut gelaunt, weil wir ihre Lieblingsschwester Elke aus Wuppertal erwarteten. Sie will mit uns das neue zu Hause feiern. Tante Elke hatte sich damals nach Papas Tod ziemliche Sorgen gemacht, weil Mama so depressiv wurde und, wie sie meinte, sich gar nicht mehr um uns Kinder gekümmert hätte. Wir haben versucht, ihr das auszureden. Schließlich sind wir beide keine kleinen Kiddies mehr. Bernd ist 9. Ich werde im September 14. In diesem Alter hat man doch Verständnis dafür, wenn es der eigenen Mutter mal richtig schlecht geht. Aber ehrlich gesagt, Mamas Zustand hat uns schon ziemlich belastet. Es war eine traurige Zeit. Manchmal hat mir Mama auch Angst gemacht mit ihren Tränen und ihrem Desinteresse für alles und jedes.

Wie es dazu kam, dass Mama dann doch den Hausverkauf und den Neukauf in Angriff nahm, weiß ich eigentlich gar nicht. Vielleicht reichte auf einmal das Geld nicht mehr. Jedenfalls hat sie uns eines Abends – fast nur in einem Nebensatz – eröffnet, dass wir bald umziehen würden. Das Haus hier in Lehnitz sei zu teuer und sie suche für uns drei was Kleineres, was Passenderes. Wir konnten ihr nur abringen, dass wir beide auf keinen Fall die Schule wechseln wollten. Außerdem wünschten wir uns wieder einen Garten.

In dieser Ecke von Oranienburg, in der wir jetzt leben, war ich vorher noch nie. Lehnitz ist dagegen eine vornehme Gegend, sagt man, war es auch schon zu DDR Zeiten. Aber ich finde es auch hier ganz nett. Vor allem müssen wir uns nun keine Sorgen mehr machen, ich meine wegen des Geldes und wegen Mama.

Tante Elke ist übrigens eine tolle Frau, einige Jahre jünger als Mama, aber viel unternehmungslustiger und nicht so langweilig. Sie schert sich nicht darum, was die Leute von ihr denken. Das war schon so, als sie noch ein Kind war, hat Mama gesagt. Elke ist von Beruf Fotografin, nicht so eine, die Hochzeiten fotografiert (das macht sie nur dann, wenn sie es finanziell nötig hat, weil ihre Aufträge nicht so gut laufen), sie fotografiert bekannte Leute für Zeitungen. Klar, dass sie dadurch auch viel in der Welt herumkommt. Aber sie ist von den hohen Tieren, die sie fotografiert, nicht besonders beeindruckt, macht Witze über sie, und wir amüsieren uns dann köstlich: Über den berühmten Fernsehjournalisten zum Beispiel, der während der Fotoaufnahmen immer wieder besorgt fragte, ob seine Frisur auch richtig sitze. Oder sie erzählt von der angesehenen Politikerin, die Tante Elke bei der Sitzung mit einer tränenreichen Stimme von all ihren unglücklichen Liebesverhältnisse in Kenntnis setzte …

Mama hat gemeint, ihre Schwester sei ne Linke. Wenn ich mich nicht täusche, hat Mama die Nase ein wenig gerümpft, als sie das sagte. Mama selbst würde ich eher mal für konservativ halten. Ich glaube, sie findet das gut, was unsere Regierung so macht. Aber mit uns will sie nicht über Politik diskutieren.

Das letzte Mal habe ich Elke auf der Beerdigung von Papa gesehen. Aber da konnte ich sie nicht weiter beachten. Wir standen alle noch so unter Schock. Davor waren wir vor zwei Jahren mal bei ihr. Ich muss damals 11 gewesen sein. Jetzt bin ich gespannt auf diese Frau. Bernd und ich haben uns schon Fragen ausgedacht, die wir ihr stellen wollen, um herauszukriegen, was das bedeutet: links zu sein – vor allem links zu sein als Frau, die ziemlich gut Geld verdient und den ganzen Tag mit Leuten aus der High Society zusammen ist. Bernd meint, links seien eher die, die arm sind und nichts haben.

2 Tante Elke hat gegoogelt

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