idealisch

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Doch schweig ich noch von dem / was ärger als der Tod /
Was grimmer denn die Pest / und Glutt und Hungersnoth
Das auch der Seelen Schatz / so vielen abgezwungen.

Andreas Gryphius, 1637

Der Mensch kann Bewusstheit erreichen. Er kann seinem individuellen Dasein Sinn geben, wenn er es mit dem Leben der Anderen so verknüpft, dass sie „einander halten und heben“. Sich wirkend, lebensfördernd Einfügen in das System der Gesellschaft und darüber hinaus in das ganze unendliche Natursystem und dabei doch seine individuellen Grenzen begreifend und annehmend – das ist die höchste Bestimmtheit, zu der ein Mensch gelangen kann.

Als Kreatur befriedigt der Mensch seine Bedürfnisse nach Nahrung, Kleidung, Gesundheit, Haus und Hof, nach sexueller und nichtsexueller Zuwendung. Zu der genannten höchsten Bestimmtheit aber kann er nur kommen, wenn er sich an Werten, an Idealen, überhaupt am Geist ausrichtet. Daher sagt der Dichter Andreas Gryphius, dass es das Ärgste ist, den Seelen-Schatz verloren zu haben. Er sagte es von den Deutschen, die lange Jahre des Dreißigjährigen Krieges durchleben mussten und noch weitere lange Jahre dieses Krieges vor sich hatten.

Immer wenn ich über die Deutschen nachdenke, denen ich ganz und gar zugehöre, überkommt mich die Furcht, dass sie es trotz so vieler großer „Seelenarbeit“ nicht geschafft haben, den abgezwungenen Schatz ganz wieder zu erlangen. Immer wieder wurde er ihnen abgedroht und immer wieder haben sie sich lieber geduckt und ihn kampflos weggegeben.

Wohl den Völkern, die in den Existenzkämpfen der Menschheitskrise unserer Tage, Halt in ihrer geistigen Welt finden! Sie können unerbittliche Unterdrückung aushalten und sich am Ende doch behaupten. Die Gläubigen des Islam, auch ihre Kampfverbände, sind von ihren religiösen „heiligen“ Gewissheiten überzeugt. Die Massen der Chinesen sehen sich offenbar als Inhaber einer jahrtausendealten zivilisatorischen Vergangenheit und sind vom Glauben an deren Wiedergeburt in unseren Tagen erfüllt.

Es geht nicht darum, solche Glaubenssysteme und Ideologien „gut“ zu finden. Sie müssen nicht „wahr“ sein und nicht emanzipatorisch. Maßgeblich ist, dass sie wirken.

In ähnlicher Weise war durch die Jahrhunderte der in eine Herrschaftsideologie umgeformte christliche Glaube die überragende geistige Waffe der westlichen Welt. Viele betrachten die fundamentale Schwächung, fast Zerstörung, der christlichen Herrschaftsideologie als einen geistigen Verlust. Doch der Durchbruch durch die Versklavung war zugleich der Aufbruch in Aufklärung und Emanzipation.

Die besten Geister Europas, nicht wenige Deutsche unter ihnen, haben im Ringen mehrerer Jahrhunderte eine „idealische Welt“ geschaffen, in der sich Mitte des 19. Jahrhunderts endlich die Aussicht bot, „Realismus“ und „Idealismus/Humanismus“ zu vereinen, wie Marx es zunächst noch in alter Terminologie ausdrückte.

Die folgenden Jahrzehnte bis zur Oktoberrevolution und darüber hinaus haben bewiesen, was selbst schwächere gesellschaftliche Kräfte erreichen können, wenn sie sich in ihren Kämpfen von der Realität ihrer Ideale und Visionen leiten lassen.

Das ist das bedrückende Versagen der sich auf Marx berufenden sog. Linken (Sich auf Lenin zu berufen sind sie ohnehin zu feige.), dass sie unter dem Druck des wirklichen Lebens das realistische Ideal der gemeinsamen Freiheit aller Arbeitenden als „Taube auf dem Dach“ schmähten und gegen das Kleingeld des „guten Herrschers“ eintauschten.

Wir vereinzelten (aber zahlreichen) Freien heute sind von einer Unmenge „guter Herrscher“ umgeben, die uns auf Biegen und Brechen zu unserem Glück zwingen wollen. Ihnen zu widerstehen und ihre Macht am Ende aufzulösen, wird nur gelingen, wenn wir alle vereint Widerstand leisten – unter dem alten heiligen Ideal der Freiheit.

Der 'Bauernkrieg' von 1524/25 im Südwesten — Landesbildungsserver  Baden-Württemberg

1523

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