Ich war damals gerade in einem Dorf bei Anklam. Als Abschluss des ersten Studienjahres Philosophie an der Humboldt Universität machten wir, drei Kommilitonen, ein Praktikum in der LPG Albinshof, damals ein Vorzeigebetrieb.
Die Wochen und Monate vor dem Mauerbau hatte ich als Zeit wachsender Spannungen in Berlin erlebt. Der Wechselkurs Westmark zu DDR-Mark hatte sich kontinuierlich verschlechtert und stand jetzt bei 1:5. Das Grenzgängerproblem (Ostberliner, die in Westberlin arbeiteten, dort Westgeld verdienten und im Osten die niedrigen Preise genossen) verschärfte sich zusehends und machte böses Blut. Ebenso böses Blut machten die Westberliner, die in Ostberlin einkauften und Dienstleistungen in Anspruch nahmen. Gegen deren Trinkgelder hattest Du als DDR-Normalverdiener keine Chance.
Unsere Propaganda empörte sich über den „Schwindelkurs“ 1:5. Ja, es war ein politischer Kurs. Aber die Frage, warum denn den Wechselstuben das Ostgeld bei diesem Kurs nicht ausging, konnte unsere Propaganda nicht beantworten.
Ich denke, dass die Masse der DDR-Berliner spürte, dass es nicht lange so weitergehen würde. Am Alex, am Gebäude der BEWAG prangte in Riesenlettern der Spruch: „Der Berliner hat es satt – Westberlin wird Freie Stadt“. Auch hier legte unsere (die sowjetische) Propaganda den Berlinern in den Mund, was sie angeblich dachten.
Sicherlich hatten die meisten Leute keine Lust, sich bedingungslos für Ost oder West zu entscheiden. Doch im letzten Halbjahr vor dem Mauerbau lebte es sich immer ungemütlicher, und unterschwellig – so möchte ich behaupten – entstand eine Massenbereitschaft, irgendeine Lösung zu tolerieren, die klarere und sichere Verhältnisse versprach.
Diese Lösung war die Mauer. Der Mauerbau war ein gelungener Coup. Für den Augenblick waren Viele sprachlos. Auch der alte Adenauer sah plötzlich alt aus.
Das Schaufenster wurde geschlossen. Offenbar hatten beide Seiten mit Berlin eine „Politik des Schaufensters“ betrieben. Heute sieht der geschichtliche Verlauf, der zum Untergang des Realsozialismus führte, einfach und zwingend aus. Doch wir bekennenden jungen Sozialisten wussten nicht nur, dass wir im besseren, weil eindeutig antifaschistischen Deutschland lebten, wir sahen uns auch im Wettbewerb mit Westdeutschland, und der war keineswegs entschieden. Die stärkere Sportnation waren wir doch schon lange! ;-)).
Die Mauer stellte primär einen Schutzraum dar. In dem wuchs sehr bald manches besser als zuvor. Auch die Versorgung, zumindest im Berliner Raum, wurde spürbar besser….
Doch die Ereignisse mit mehr Abstand und Reflexion betrachtend, sagte ich mir irgendwann: „Müssten wir die Mauer nicht als eine Niederlage im friedlichen Wettbewerb mit dem Kapitalismus begreifen? Und wenn nicht Niederlage, dann zumindest als eigentlich unerwünschte Notbremsung? Gut, wir haben jetzt Zeit gewonnen. Aber nutzen wir sie auch richtig? Brauchen wir nicht große Reformen unseres Systems?“
Die folgende Geschichte hat uns mit viel Ironie beschenkt: Reformen kamen. Weniger Reformen des Gesellschafts-/Machtsystems, wohl aber Reformen der Ökonomie. Der alte Ulbricht stand dafür, während zugleich in der Sowjetunion die endgültige bleierne Phase des Generalsekretärs Breshnew begann. Ulbricht geriet ins Aus, Honecker wurde zum mächtigsten Mann, und der Fluch der Mauer erfüllte sich bis zum letzten Mauerspecht.
Danke für die Perspektive. So liest man das normalerweise nicht. Klingt aber sehr plausibel. Der Mauerbau als Verteidigungsmaßnahme in einem Wirtschaftskrieg.
LikeLike