Randbemerkungen zu dem Dokument „Große Transformation“ des Beirates der Bundesregierung

– „Gesellschaftsvertrag“ („Contract Social“) –

Das Dokument nennt sich „Hauptgutachten“ und sein kompletter Titel lautet: „Welt im Wandel Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“. Vorgelegt hat es im Jahr 2011 der „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen“ (WBGU) unter dem Vorsitz von Prof. Dr. Hans Joachim Schellnhuber, damals Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK).

Meiner Aufmerksamkeit war diese Ausarbeitung trotz des ambitionierten Titels entgangen, obwohl spätestens seit der akademischen Erhebung Schellnhubers durch den Jesuitenpapst (2015) offenkundig geworden war, dass es um wirksame, wirkende Strategie geht. Die Rolle dieses Wissenschaftler-Politikers und damit des PIk und des WBGU beim Bemühen die Reproduktion des modernen Kapitalismus zukunftssicher zu machen, wurde deutlich. Jedoch erst als die Mächtigen von Davos den Startschuss gaben für eine breite politische Mobilisierung unter dem Label „menschengemachter Klimawandel“ (25.1.2019) entdeckte ich für mich die zu Grunde liegenden strategischen Ausarbeitungen, darunter das o. g. Dokument. (Erfreut stelle ich fest, dass mir nicht zuletzt Kommentare hier im Blog den entscheidenden Anstoß gaben. Siehe hier.)

Das vorliegende Dokument ist ein wahrer „Ziegelstein“. Es ist nicht nur umfangreich (448 Seiten der pdf). Es ist auch tief gegliedert (allein das Inhaltsverzeichnis umfasst sechs eng bedruckte Seiten). Der Quellennachweis erstreckt sich über dreißig Seiten und umfasst ca 1200 Einzelangaben. Eine Quelle beispielsweise, die gern zitiert wird, ist Osterhammel, J. (2009): „Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts“. Allein dieses Opus umfasst mehr als 1500 Seiten.

Summa Summarum werden dem Interessierten also hunderttausende Seiten Text angeboten. Einmal mehr sollte der Leser sich vorher klar machen, weshalb er sich auf eine solche Lektüre einlässt.

„Gesellschaftsvertrag“ – dieser Begriff wird an den Anfang gestellt. Das ist ein Begriff mit Tradition, er birgt großen historischen und theoretischen Reichtum, ein gewichtiges Erbe. Wie schließt der Wissenschaftliche Beirat dieses Vermächtnis für die eigenen Zukunftserörterungen auf?

Enttäuschung auf der ganzen Linie! Wer erwartet hatte Schellnhuber und Co würden sich konkret auf Rousseaus großes Werk beziehen, würden die enorme historische Tragweite dieses Projekts beleuchten aber auch seine Grenzen diskutieren, würden sich mit der dann folgenden Revolution in  Philosophie und Gesellschaftstheorie auseinandersetzen, die Rousseaus Konzept „aufgehoben“ hat, wer Solches erwartet hatte, erfährt – NICHTS. Das ganze große Hauptgutachten hantiert mit historischen Versatzstücken um zugleich die wirkliche Geschichte, wie die Theorie-/Geistesgeschichte, zu ignorieren.

Nach dieser Lesart hat es das „Kommunistische Manifest“ nie gegeben. Marx, Engels? Tote Hunde; keiner Erörterung, kaum einer Erwähnung Wert.

Im Inhaltsverzeichnis findet sich der Gliederungspunkt 3.2 Die „Verwandlungen der Welt im 19. und 21. Jahrhundert“. Und er ist wirklich so gemeint, wie er formuliert wurde: Das 20. Jahrhundert kommt nicht vor! Offenbar hat es für die „Verwandlung der Welt“, für die Identifizierung „zentraler Arenen der Transformation“ keine Rolle gespielt.

Im Gliederungspunkt 3.5 geht es um „Zeitgeschichtliche Lektionen: Transformationen mittlerer Reichweite“. Sechs solcher „Lektionen“ werden betrachtet:

3.5.1 Abolitionismus (18./19. Jahrhundert): Typ „Vision“

3.5.2 Grüne Revolution (1960er Jahre): Typ „Krise“

3.5.3 Strukturanpassungsprogramme (1980er): Typ „Krise“

3.5.4 Schutz der Ozonschicht (ab 1985): Typ „Wissen“

3.5.5 IT-Revolution und World Wide Web (1990er Jahre): Typ „Technik“

3.5.6 Europäische Integration (seit den 1950er Jahren): Typ „Vision“.

Das 20. Jahrhundert und große Teile des 19. Jahrhunderts bieten keine „zeitgeschichtliche Lektion“.

Das „Hauptgutachten“ dieses „Wissenschaftichen Beirats“ gibt vor, eine enormen historischen Rahmen zu spannen. Die beschworene „Große Transformation“ wird in die Perspektive der neolithischen und der industriellen Revolution gestellt. Und nur dieser Revolutionen! Andere Revolutionen werden nicht etwa kritisiert oder auch verdammt. Nein, sie sind kein Gegenstand. Sie und das in ihnen sich ausdrückende Streben von Menschen, Kämpfen von Klassen sind VAPORISIERT.

Das Hauptgutachten – ein Hauptdenkmal wissenschaftlicher Ignoranz und Orwellscher Umschreibe.

Warum aber der Bezug auf den Gesellschaftsvertrag? Der Trick ist einfach: Bei Rousseau ist das Volk der Souverän. Alle Bürger bilden das Volk. Die Machthaber, der Adel, stehen außerhalb, denn sie sind durch Privilegien von Geburt an dem Bürger ungleich.

Heute gibt es formal das Gottesgnadentum der Machthaber nicht mehr. ALLE sind gleiche Bürger, auch die Machthaber. Der abstrakte/unhistorische Bezug auf Rousseaus Gesellschaftsvertrag erlaubt es den Verfassern, in all ihren Transformationserörterungen jeden expliziten Bezug auf die Machthaber der modernen Gesellschaft auszumerzen.

So ist die vorliegende Studie von der ersten bis zur letzten Zeile darauf gerichtet, die Rolle der Ausbeuter und Machthaber unsichtbar zu machen. Zugleich will sie gravierend in das Leben der Massen eingreifen, hat aber jeden Bezug zum realen geschichtlichen Agieren der Massen getilgt. Aus diesem Widerspruch ergibt sich der besondere ideologische, technokratische und regierungspraktische Ansatz. Der könnte Gegenstand einer weiteren Randbemerkung sein.

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