Als Tiger gestartet, …

Bekanntlich hatte Herakles den größten Stall im alten Griechenland ausgemistet. (Damals kämpften noch Halbgötter gegen die Agrarindustrie, Originalberichte hier und hier.)

An einem einzigen Tag! Und sich noch nicht einmal die Finger schmutzig gemacht. Bewundernswert.

Auch die deutsche Geschichte kennt glänzende und sogar schlaue Helden – Jung-Siegfried oder das tapfere Schneiderlein. „Sieben auf einen Streich!“- das können wir auch, dachte Alexander Gauland und tönte: „Wir werden sie jagen“ und unser Deutschland (unter dem macht er es nicht) zurückholen.

Nun ist ihm Frau v. d. Leyen vor die Flinte gekommen, Stichwort: „Berateraffäre“, Beuteschema: 390 Millionen. Ein Untersuchungsausschuss soll her. Die AfD hatte frühzeitig (November 18) die Lippen gespitzt. Alle wollen den Ausschuss, doch es gibt ihn bis heute nicht. Zuletzt hat ihn die AfD gemeinsam mit den Regierungsparteien verschoben. Eifrige Jagd sieht anders aus.

AfD-Verteidigungspolitiker Lucassen „erklärt“ minutenlang, warum die AfD für Verschiebung gestimmt hat. Er schwurbelt, als hätte er Jahrzehnte im Bundestag auf dem Buckel. Bürger versteht Bahnhof.

Mir kommt in den Sinn, dass auch der AfD potente Spender lieb und teuer sind. Liegt es da nicht nahe, millionenschwere Beraterfirmen mit „Feingefühl“ zu behandeln? Und ist nicht „Fairness“ gegenüber der Regierungsbank – Jagdtrompeten hin oder her – elementare Tugend einer, ich sage mal, „längerfristig gestaltenden Alternativpolitik“?

Zugegeben, keine AfD-freundlichen Gedanken. Warum auch. Dafür umso realistischer? Mit kritischer Aufmerksamkeit wird das Rätsel bald gelöst sein.

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46 Antworten zu Als Tiger gestartet, …

  1. Sven Thom schreibt:

    Sehr gut formuliert. 1. setzen

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  2. Lutz Lippke schreibt:

    Leider finde ich außer „Formalien“ und „juristische Feinarbeit“ keine Erklärungen zu den Gründen einer Verschiebung. Die Verantwortung für diese fehlende Transparenz tragen alle Parteien.

    Die FAZ erwähnt: „… ursprünglich wollte die Opposition den Untersuchungsausschuss gar nicht zwingend – auch wegen der Gefahr, dass die AfD den Ausschuss als Bühne nutzen könnte.“
    https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/berateraffaere-im-verteidigungsministerium-vorerst-gestoppt-15992154.html

    Demnach könnte die Zustimmung zur Verschiebung auch eine Retoure-Kutsche der AfD-Leute gewesen sein. Die AfD ist am aktuellen Antrag der Opposition zu UA nicht beteiligt, obwohl sie wohl schon vorher in der Sache aktiv war. Wenn es keine gravierenden, inhaltlichen Differenzen zur Sache gibt, sollte die AfD an gemeinsamen Anträgen der Opposition mitwirken (dürfen)?

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  3. kranich05 schreibt:

    „unsägliches Gezerre“ – selbst in dieser doch kaum weltbewegenden Frage scheinen die „systemisch verselbständigten Entscheidungsprozesse“ auf, von denen Ingeborg Maus spricht:

    Klicke, um auf 19912Maus_S_137.pdf zuzugreifen

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    • Lutz Lippke schreibt:

      Diese Analyse von Maus ist nach meiner Auffassung sehr wichtig für das grundsätzliche Selbstverständnis eines souverän denkenden Bürgers und das dazu ädäquate Organisationsverhalten. Im Sinne der Volkssouveränität muss der Bürger in Sachfragen mit den anderen Mitgliedern des Volkes kooperieren, soweit ihm dies möglich ist und der konkreten Sache gerecht wird. Die minimale Stufe der Kooperation ist die Akzeptanz einer entgegensetzten Haltung bzw. Interessenäußerung in der Sachfrage. Ein kategorischer Ausschluss dieses Minimums ist damit eigentlich nicht verfügbar.

      Erst durch die verbreitete Vorstellung, dass man mit „Denen“ grundsätzlich nicht kooperieren darf, wird aus dem sachorientierten Gestaltungsrecht ein glaubenszentrierter Macht- bzw. Widerstandszwang. Aus Sachfragen werden so reine Glaubensfragen, aus der Gestaltung ein bloßes Dagegensein mit Schuldigensuche – ein reiner Machtpoker mit intrigantem Spiel über Bande. Das führt allgemein verinnerlicht bis dahin, dass die Minderheit der Machteliten dem mehrheitlichen „Volkswillen“ schon dadurch widersteht, dass sie mit „Teile und Herrsche“-Methoden die Glaubenswiderstandskriege im eigentlichen Souverän zielgerichtet befördert und managt. Es gibt eigentlich nur diese Machtbasis für die Minderheit.

      Ich hatte gefragt: „Wenn es keine gravierenden, inhaltlichen Differenzen zur Sache gibt, sollte die AfD an gemeinsamen Anträgen der Opposition mitwirken (dürfen)?“

      Aus dem Vorstehenden komme ich zu einem klaren „JA“. Von der AfD wäre also zu erklären, warum sie sich am UA-Antrag nicht beteiligt hat und sogar einer Verschiebung zustimmte. Von den Antragsparteien wiederum wäre zu erklären, warum die AfD am Antrag nicht beteiligt wurde. Aber so viel Transparenz ist in der Glaubenskriegs-Arena wohl reine Träumerei.

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      • Theresa Bruckmann schreibt:

        Im Sinne der Volkssouveränität muss der Bürger in Sachfragen mit den anderen Mitgliedern des Volkes kooperieren, soweit ihm dies möglich ist und der konkreten Sache gerecht wird. Die minimale Stufe der Kooperation ist die Akzeptanz einer entgegensetzten Haltung bzw. Interessenäußerung in der Sachfrage. Ein kategorischer Ausschluss dieses Minimums ist damit eigentlich nicht verfügbar.
        Aus Sachfragen werden so reine Glaubensfragen, aus der Gestaltung ein bloßes Dagegensein mit Schuldigensuche – ein reiner Machtpoker mit intrigantem Spiel über Bande.
        Das führt allgemein verinnerlicht bis dahin, dass die Minderheit der Machteliten dem mehrheitlichen „Volkswillen“ schon dadurch widersteht, dass sie mit „Teile und Herrsche“-Methoden die Glaubenswiderstandskriege im eigentlichen Souverän zielgerichtet befördert und managt. Es gibt eigentlich nur diese Machtbasis für die Minderheit.
        Danke Lutz Lippke,
        vollkommene Zustimmung, und besonders schön Ihre Feststellung, dass die Minderheit der Machteliten … die Glaubenswiderstandskriege im eigentlichen Souverän zielgerichtet befördert und managt.

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    • Theresa Bruckmann schreibt:

      Danke kranich05 für den LINK zum Prof. Ingeborg Maus-Text.
      Jetzt bin ich den 3. Tag dabei, mich durch diese unglaubliche Dichte an
      juristischen Begriffen durchzubeißen.
      Eine Kostprobe: „Welche gesellschaftlichen Regelungsbereiche – das Umweltproblem steht hier nur als ein besonders wichtiger pars pro toto – durch die gesellschaftlich beeinflusste parlamentarische Zentrale entschieden und welche besser dezentralen Rechtsetzungsprozessen überlassen werden sollten, kann nicht im Detail vorgeschlagen werden und unterliegt kollektiven demokratischen Reflexions- und Entscheidungsprozessen.“
      Hauptproblem dabei ist dass ich von ‚dezentralen Rechtsetzungsprozessen‘ keine
      Vorstellung habe und mir deshalb ein Nebeneinander von zentralen und dezentralen
      Rechtsetzungen erst recht nicht vorstellen kann. Und das ist nicht mein einziges Verständnisproblem. Bevor ich mich aber selbst noch nicht genug bemüht habe,
      wollte ich auch noch keinen Hilferuf z.B. an Lutz Lippke absetzen.
      Beim Spaziergang heute durchs Netz finde ich dieses:
      https://www.rubikon.news/artikel/die-schatten-regierung
      Mein erster flüchtiger Eindruck ist, dass es hier ebenfalls um
      solche Rechtsfragen geht. Jedenfalls wird auch Ulrich Beck zitiert.

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      • fidelpoludo schreibt:

        Dazu passend das RT-Video mit dem Autor von „Schattenmächte“ Fritz R. Glunk

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        • fidelpoludo schreibt:

          Liebe Theresa, das von Ihnen benannte

          „Hauptproblem dabei ist dass ich von ‚dezentralen Rechtsetzungsprozessen‘ keine Vorstellung habe und mir deshalb ein Nebeneinander von zentralen und dezentralen Rechtsetzungen erst recht nicht vorstellen kann.“

          Diese Ihre Ahnungslosigkeit von diesem spezifischen Nebeneinander trifft oder traf auf mich selbstverständlich auch zu. Wenn das schon bei Ihnen der Fall ist, die sich (im Verein mit Lutz) recht intensiv mit Rechtsfragen auseinander setzen, wie sieht es dann erst beim Normalbürger aus?
          Dieser Ahnungslosigkeit entgegenzuarbeiten, ist wohl das Interesse von Fritz R. Glunks „Schattenmächte“, dessen Untertitel statt „Wie transnationale Netzwerke die Regeln unserer Welt bestimmen“ wohl auch hätte heißen können „Wie transnationale Netzwerke das Recht unserer Welt bestimmen“ – wie sie also neoliberale Globalisierung schleichend in das Recht eingeschleust wurde und weiter wird.
          Unter dieser Perspektive wäre das oben verlinkte Video mit diesem hier

          noch einmal genauer zu untersuchen. Der Rubikon-Artikel, den Sie erwähnten gehört sicher auch dazu: https://www.rubikon.news/artikel/die-schatten-regierung
          Ein Hinweis zum Problemzusammenhang aus der Lektüre des Buches. Dort heißt es auf Seite 45f.:

          „Wir sehen einen Rechtsbereich entstehen, der unabhängig von dem uns bekannten demokratieförmigen Recht und ohne staatliche Mitwirkung (oder gar Legitimität) in die Welt tritt. Er steht jetzt als dritter Rechtsbereich neben den beiden bisherigen Bereichen nationales und Völkerrecht. Er wird mit dem in der Öffentlichkeit bisher ungebräuchlichen , aber in der Fachdiskussion terminologisch gut eingeführten Begriff „transnational“ gekennzeichnet.“
          Im weiteren zitiert er dann eine Definition des Begriffes „transnationales Recht“ aus Lars Vielmehr „Was heißt Transnationalität im Recht?“ (in: Gralf-Peter Callies – Hrsg.- : „Transnationales Recht“, Tübingen 2014), die er als „unkritische Definition“ bezeichnet, weil sie vergleichbare Rechtssysteme als „traditionell“ bezeichne und eine „globale Zivilgesellschaft“ unterstelle, die es nicht gebe. Außerdem bleibe undeutlich, „in wessen Namen und Auftrag die ‚privaten‘ Normgeber tätig werden: Es bestehen Zweifel, ob sie tatsächlich immer ‚allgemeinen Prinzipien‘ gehorchen oder doch nur die Interessen ihrer Branche verfolgen.“
          Ich hoffe, mit diesen Hinweisen Eurem Vorstellungsvermögen, das „Nebeneinander von zentralen und dezentralen Rechtsetzungen“ betreffend, etwas auf die Beine geholfen zu haben. Mir scheint, dass „nationales Recht“ aus der „transnationalen Rechtsperspektive“ der Status „dezentralen“, also traditionellen und zu überwindenden Rechts – mitsamt des ihm inhärenten Demokratieverständnises – früher oder später auf den Müllhaufen der Geschichte befördert werden soll. Die NWO (von Merkel jüngst wieder beschworen und von George H. W. Bush leider nicht mit ins Grab genommen) läßt grüßen.

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          • fidelpoludo schreibt:

            Der hinzugefügte Link sollte dieser sein und nicht die Wiederholung des bereits eingefügten:

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          • Theresa Bruckmann schreibt:

            Danke fidelpoludo
            für den Hinweis auf Fritz Glunk.
            Geradeaus mit Scheuklappen für andere Themen musste ich erst einmal den Prof.-Maus-Text zu verstehen suchen.
            Deshalb jetzt erst meine späte Reaktion auf Ihre Hinweise auf Video- und Print-Beiträge von Fritz Glunk.
            Im folgenden nichts als ein Ausschnitt aus seinem Print-Beitrag in Rubikon:
            „Vor zwanzig Jahren erheiterte Ulrich Beck seine Zuhörer in der Paulskirche mit einer Scherzfrage: Was würde geschehen, wenn die EU eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union beantragen würde? Das eindeutige Ergebnis: Der Antrag würde abgelehnt. Und zwar mit der Begründung, die EU erfülle nicht die Demokratie-Kriterien, die die Europäische Union von ihren Mitgliedern verlange.

            Der Vortragende blieb bei dieser Feststellung aber nicht stehen.
            Er entwickelte eigene Ideen zur Behebung des Demokratie-Defizits, sogar Widerborstiges wie den „schöpferischen Ungehorsam” einer europäischen Bürgergesellschaft. Seitdem sind Stimmen dieser Art selten geworden.

            Becks Kollegen heute,
            in der Politikwissenschaft wie im benachbarten Staatsrecht,
            begnügen sich fast alle mit einer nicht einmal mehr resignativen Feststellung:
            Für die modernen, grenzüberschreitenden Probleme

            sei die repräsentative Demokratie
            keine Lösung mehr und der
            Nationalstaat ein Auslaufmodell.

            Globale Probleme verlangten globale Lösungen, und die müsse man heute ganz anders herstellen:
            in informellen Gruppen, flexibel reaktionsfähig,
            ohne bürokratische Hemmnisse, ohne rechtliche Behinderungen,
            ohne parlamentarische Nachfragen,
            kurz: ein transnationales Regieren ohne Parlament.

            Gleich zu Beginn sollten hier kurz mögliche Missverständnisse vermieden werden. Es wird hier
            nicht um Lobbyismus gehen.

            Es geht auch
            nicht um immer wieder vermutete heimliche
            „Weltregierungen”. Wir sprechen hier also nicht
            von irgendwelchen Geheimgesellschaften,
            nicht von den Bilderbergern, nicht von Freimaurern,
            auch
            nicht vom Vatikan, diesen Lieblingen aller Verschwörungstheoretiker.
            Auch
            nicht von internationalen Industriestandards oder -normen (wie sie heute in der ISO vereinbart werden).

            Wer sind nun aber die Akteure,
            um die es hier gehen soll?

            Nehmen wir als Beispiel aus der Wirtschaft
            die Pharmaindustrie.
            Vor knapp 30 Jahren hatte die EU, mit dem stolzen Wind des Gemeinsamen Marktes in den Segeln, den Gedanken, etwas Ähnliches müsste sich doch auch global einrichten lassen, wenigstens im Pharmabereich.

            Die drei mächtigsten Spitzenverbände der Pharmaindustrie kommen aus Japan, der EU und den USA. Auf Betreiben der EU setzten sich also sechs Akteure zusammen, und zwar die Pharmaverbände der drei genannten Regionen und dazu die jeweiligen staatlichen Regulierungsbehörden. Sie gaben dem Treffen auch einen Namen: International Conference on Harmonisation of Technical Requirements for Registration of Pharmaceuticals for Human Use; der zu lange Name wurde sofort in ICH abgekürzt.

            Eine genauere Organisation,
            eine Satzung oder
            gar eine Rechtsform
            erhielt das lockere Treffen
            nicht;
            es gab lediglich ein Sekretariat
            (es liegt in der Hand des Weltpharmaverbands IFPMA)
            und
            die Vereinbarung, sich bald wieder einmal zu treffen.

            Als Aufgabe
            stellen sich die Beteiligten
            die globale Harmonisierung von Zulassungsbedingungen für Medikamente (nach dem Vorbild des Gemeinsamen Marktes der EU).
            Zu diesem Zweck
            werden zwischen
            den Pharmaverbänden und den Behörden
            Leitlinien vereinbart,
            die danach ohne weitere Diskussion in nationales Recht —
            wie der offizielle Ausdruck heißt:
            — „übernommen” werden.

            Die Arbeit der ICH ist außerordentlich erfolgreich.
            Die Erfolge kommen zustande
            nicht
            etwa durch Zwang, sondern
            durch die natürliche Akzeptanz der
            mit den staatlichen Behörden ausgehandelten
            Standards und Prüfverfahren.

            Heute i
            st der gemeinsame Markt
            für humanmedizinische Produkte
            weltweit auf über 1 Billion US-Dollar pro Jahr gestiegen.
            Inzwischen haben sich weitere zahlreiche Länder der ICH angeschlossen, darunter die Schweiz, Indien, Kanada und Brasilien.
            Die Weltgesundheitsorganisation WHO
            ist ebenfalls dabei,
            wenn auch nur mit Beobachterstatus
            (also ohne Stimmrecht).
            Um die ICH herum
            haben sich ähnliche Gruppen gebildet,
            so zum Beispiel
            die „Cooperation” für tiermedizinische Arzneimittel,
            eine sogenannte „Koalition”
            zur Beschleunigung von Standards für Therapien,
            eine „Initiative” für innovative Medikamente und ein
            „Consortium” zum Austausch von klinischen Daten.

            Die Art und Weise,
            wie die Vereibarungen der ICH beispielsweise

            zu europäischem Recht werden,

            beschreibt die EU-Kommission ganz offen:

            „In der Europäischen Union implementiert
            der Ausschuss für Humanarzneimittel
            (CHMP — Committee for Medicinal Products for Human Use)

            die Leitlinien der ICH.“

            Diese Leitlinien der ICH sind allerdings erst einmal
            reine Empfehlungen, also ohne rechtliche Bindewirkung.

            Was bedeutet also hier der Ausdruck „implementiert”?

            Die Nachfrage
            zur gesetzlichen Grundlage der Übernahme
            wird von der EU so beantwortet:

            „Die Leitlinien der
            Internationalen Harmonisierungskonferenz (ICH)
            zu wissenschaftlichen Fragestellungen

            werden dadurch
            in den Rechtsrahmen der Europäischen Union eingebunden,
            dass der
            Ausschuss für Humanarzneimittel der
            Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA)

            den harmonisierten Wortlaut annimmt. (…)

            Der Ausschuss
            für Humanarzneimittel
            ist in alle Phasen der Arbeit
            der Internationalen Harmonisierungskonferenz
            eingebunden,
            und die von der ICH behandelten Themen
            werden auch im Rahmen
            des Arbeitsprogramms der zuständigen Arbeitsgruppen
            bzw. von Ad-hoc-Arbeitsgruppen
            des Ausschusses
            erörtert. (…)
            Sobald der Ausschuss
            für Humanarzneimittel
            eine ICH-Leitlinie angenommen hat,

            hat sie denselben Status

            wie andere
            auf europäischer Ebene

            erlassene wissenschaftliche Leitlinien

            und ersetzt die bestehenden Leitlinien,
            die bisher für diesen Bereich galten. (…)

            Da für Arzneimittel in der EU
            ein gemeinsamer Rechtsrahmen gilt,

            stellen die
            zuständigen nationalen Behörden in den Mitgliedstaaten

            dieselben rechtlichen Anforderungen,
            z. B. an nationale Arzneimittelzulassungen,

            wie die Europäische Kommission an EU-weite Zulassungen.“

            Ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren wird hier nicht erwähnt.

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            • Theresa Bruckmann schreibt:

              Hallo Freunde,
              dieser Text-Beitrag ‚ Ideologiefrei – Wider den konstruierten
              Zwangsgemeinschaften – Echte Gemeinschaften lassen sich
              nicht „von oben“ verordnen, sondern müssen sich „von unten“
              entwickeln. Das gilt auch für Europa‘
              https://kenfm.de/ideologiefrei-wider-den-konstruierten-zwangsgemeinschaften/
              hat mich sofort in den Bann gezogen, dann aber beim Lesen hatte ich riesige
              Schwierigkeiten zu unterscheiden zwischen Gefühligem (ich erinnere an
              Lutz Lippkes Argumentation im Zusammenhang mit Prinzipien, die gerade nicht
              nach Gefühlslage angewendet werden sollen) und einem klaren Soll
              (bei Maus z.B. wäre das die Rekonstruktion der Volkssouveränität unter gewandelten Bedingungen mit einer Arbeitsteilung zentral – dezentral):
              Was die Ist-Situation angeht, so fehlt mir jetzt die Präzision der Maus-Argumentation.
              Für mich ist das so etwas wie ein ‚Eintopfgericht‘, das ich erst einmal entflechten
              muss, um daraus klare Aussagen zu extahieren die dann an den Maus’schen Anforderungen zur Herstellung von Soveränität einer Gemeinschaft gemessen
              werden können.
              Wer hilft mir?

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              • Lutz Lippke schreibt:

                Ja der Text stützt sich auf nachvollziehbare Beobachtungen und rührt daraus mit viel Nachdruck und Argumentation einen fatalistisch negativen Brei, um uns letztlich als hoffnungsvollen Ausweg anzubieten:
                „Es ist Zeit, Bedingungen für Gemeinschaft zu schaffen
                Deswegen gibt es den Berufspolitiker und das Gesetz. Oder in den Worten Zygmunt Baumans:
                „Die beiden Dinge, für die eine Gemeinschaft sorgen müsste, um die Pathologie unserer atomisierten Gesellschaft direkt entgegenzuwirken sind die Gleichheit der Ressourcen ohne die sich die Ohnmacht von Individuen de jure nicht von der Selbstbestimmung von Individuen de facto umwandeln lässt, und die kollektive Absicherung gegen individuelle Defizite und Schicksalsschläge.“
                Die Vergangenheit kann man nicht ändern, doch die Zukunft lässt sich positiv gestalten – auch unter widrigen Umständen. Vorausgesetzt es findet ein Wechsel von der Konkurrenz zur Kooperation statt.“

                Sind „Berufspolitiker und das Gesetz“ denn ohne Staat und dessen Gewaltmonopol denkbar?
                Die ausführlichen und ultimativen Aussagen der Autoren zu Staatskonstrukten und deren Untauglichkeit für eine Gemeinschaftsbildung widersprechen doch diesem offerierten Ausweg. Wie sollte aus der Kooperation von „unten“ ohne Regel- und Machtkonstrukte der Wechsel „oben“ erreicht werden?

                Moralische vs. materielle Werte vs. „andere Ziele“
                Die Autoren unterscheiden im Hauptteil des Textes zwischen moralischen und materiellen Werten. Sie schreiben:
                „Die Worthülsen werden biegsam und je nach Interessenlage verbogen. Ein Beispiel liefert der Handel mit und der Verkauf von Kriegsgerät. Nicht moralische, sondern materielle Werte sind hier handlungsleitend.
                Die moralischen Werte wurden in der politischen Debatte derartig strapaziert, dass der Verweis auf sie die sinnstiftende Wirkung verloren hat. Deswegen müssen andere Ziele her, um „den Laden“ im Inneren zusammenzuhalten.“

                Danach thematisieren die Autoren anhand von realen Beispielen die Suche nach „gemeinsamen Feindbildern und Abgrenzungsmöglichkeiten“. Sie kommen zu dem Schluss, der Staat „hat nichts mit Gemeinschaft zu tun“.

                Ich möchte dazu rufen: „Warm, wärmer, schade, kälter, arschkalt“. Das Problem der Autoren beginnt nach meiner Auffassung mit dem Thema Biegsamkeit zu „Moral vs. Material“ und fährt sich daran fest. Die Autoren nehmen nämlich als gegeben hin, dass im Namen der Moral nach materiellen Interessenlagen „Alles“ verbogen werden kann und damit Moral sinnentleert ist. Auch von den Autoren wird Moral also als etwas Materielles oder Materialisierbares verstanden, so dass man von „materialisierter Moral“ sprechen kann. Kann Moral aber auch anders definiert werden oder vielmehr, ist Moral nicht sogar zwingend anders definiert? Es geht bei Moral um Verhaltensnormen der Form: „Gute Handlung vs. schlechte Handlung“. Die Materialisierung dieser genuin „Prozeduralen Moral“ erfolgt erst durch eine Fokussierung auf eintretende, behauptete oder erwartbare Ergebnisse. Ein „moralisch gutes Ergebnis“ oder dessen Erwartung/Behauptung rechtfertigt somit jede Prozedur, die von sich die Erfüllung des „moralisch guten Ergebnisses“ behaupten kann, insbesondere angeblich effiziente und sichere Prozeduren. Prozedurale (Vorab-)Normen sind aus dieser Sicht eher hinderlich und werden daher zweckbestimmt ausgelegt/verbogen. Will man als Ergebnis z.B. eine exzellente Wissenschaft, dann macht die Elitenförderung eher „Profit“ als die Förderung bildungsferner Schichten, Bildungsgerechtigkeit hin oder her. So einfach ist das mit der materialisierten Moral.
                Steht jedoch Bildungsgerechtigkeit als prozedurale Grundnorm unverhandelbar fest, dann ist die Förderung der Qualität der Allgemeinbildung gar nicht Teil einer entweder/oder-Entscheidung auf dem Weg zur exzellenten Wissenschaft. Ausgangspunkt der Exzellenzinitiative wäre dann nach der Erfüllung von effizienten, gerechten Bildungsprozeduren ein höheres allgemeines Bildungsniveau, dass die Förderung zu exzellenter Wissenschaft weitgehend unabhängig von der Herkunft ermöglicht. Grundlegendes Ziel der Suche wären also „echte“ gerechte und effiziente Bildungsprozeduren für ein allgemein hohes Bildungsniveau, jedenfalls nicht die Abwägung: Elitenförderung vs. Bildungsgerechtigkeit. Ähnliche Effekte der „zweckorientierten, materialisierten Moral“ findet man auch bei weiteren Instrumenten der Nachwuchsförderung, z.B. der unterschiedlichen Förderung/Entlastung bei Elterngeld, Elternzeit, Alterssicherung, Erbschaften und sonstige Eigentumsbildung etc.. Unterschiede aufgrund von aktuellen wirtschaftlichen Gegebenheiten sollen also auch bei der Förderung des Nachwuchses durchgängig beibehalten werden und die Politiker-Klage zur Chancenungerechtigkeit wird damit zur offensichtliche Moral-Makulatur.

                Wenn es darum geht, allgemein geltende und gerechte Verhaltensregeln, also prozedurale Normen, für Alle verbindlich zu vereinbaren, dann braucht man 1. Wissen und Bekenntnis der Allgemeinheit zu den Prozeduren, 2. die tatsächliche Möglichkeit der Umsetzung und 3. einen vertrauenswürdigen und entscheidungsfähigen Schiedsrichter für Streitfälle. Eine Gemeinschaft eines solchen „prozeduralen Normenraums“ kann ansonsten sehr heterogen sein, sogar im grundlegenden Interessenkonflikt und Streit liegen. Diese Gemeinschaft braucht keine bierselige Verbrüderung, kein Jeder kennt Jeden und auch keine äußeren Feinde. Für das Gemeinschaftsgefühl ist das Vertrauen und die Akzeptanz in die Geltung der prozeduralen Normen die Untergrenze und einzige Voraussetzung, freiwillig mehr geht immer, nur weniger ist ein Problem. Wer prozedurale Moralnormen beugt und biegt unterschreitet immer die Untergrenze, egal welch hehre Ergebnisse versprochen werden.

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                • Theresa Bruckmann schreibt:

                  Danke Lutz Lippke.
                  Ihre Ausführungen haben eine Menge zur Klärung meiner Fragen beigetragen.
                  Ich stimme Ihnen auch vollkommen zu.
                  Mit der erdrückenden Enge einer kleinen Gemeinschaft kenne ich mich leider gut aus (ist aber ‚Gott sei Dank‘ längst Vergangenheit). Deshalb ist es mir ein Anliegen, ebenfalls noch auf den Text einzugehen; vor allem um aufzuzeigen, dass Gemeinschaften eben nicht überschaubar sein müssen, um ihren Mitgliedern die notwendige Geborgenheit
                  zum Wohlfühlen durch Vertrauen und Sicherheit zu bieten.
                  Kommentar zu
                  https://kenfm.de/ideologiefrei-wider-den-konstruierten-zwangsgemeinschaften/
                  Gemeinschaft, war immer schon ein Synonym für ein verlorenes Paradies. Familien, Lebens- und Dorfgemeinschaften, mit gelingendem Miteinander / Füreinander sind tatsächlich etwas Großartiges. Aber an diesem Gelingen muss die Gruppe ständig arbeiten durch offenes Debattieren und durch demokratische Konfliktlösungen unter einander. Das schafft Vertrauen und damit Geborgensein in der Gruppe/Gemeinschaft.
                  Nach Zygmunt Bauman sei eine Gemeinschaft nur so lange Gemeinschaft, (1) wie sie sich von anderen Gruppen ausgrenzt, (2) klein ist (für alle Mitglieder überschaubar) und (3) autark ist (Ermöglichung des menschlichen Handelns in Gesellschaft)
                  Eine Grenzziehung zwischen innen und außen ergibt sich erläuft da, wo sich Gruppenmitglieder dem Regelwerk der Gemeinschaft mit den Rechten und Pflichten zum Wohle aller verpflichten. Klein und überschaubar, muss überhaupt nicht sein, im Gegenteil das kann zu unerträglichen sozialen Kontrollen führen, denen man nicht entkommen kann. Auch muss eine Gemeinschaft nicht autark sein und es kann nur gut sein, wenn Außenkontakte zu anderen Einzelunternehmen und Gemeinschaften bestehen. Entsprechend
                  stimme ich auch nicht zu, dass eine Gemeinschaft per definitionem einen Nationalstaat ausschließt.
                  Anders verhält sich das mit der EU, bei deren Institutionen und Verträgen ist nun wirklich keine demokratische Mitwirkung von uns einzelnen Mitbürger vorgesehen.
                  „Die Feststellung, dass moderne Staaten, nicht nur in Europa, politische Gewaltgebilde sind
                  (vgl. Max. Weber) …“ bedeutet aber nicht, dass das so weitergehen muss.
                  Wir müssen wie Prof. Ingeborg Maus nach Möglichkeiten von Gemeinschaft suchen, in der dis Individuen größtmögliche Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit finden.
                  Sie ist deshalb der Frage nachgegangen, wie Volkssouveränität unter heutigen
                  Bedingungen – Parzellierung, Refeudalisierung – wiederbelebt werden könnte.
                  Es ist Zeit, Bedingungen für Gemeinschaft zu schaffen
                  Die Erfahrung gemeinsamer Geschichte, Kultur, Glauben, sind unter idealtypischen Bedingungen der Erfahrungsschatz der einen und wird zur mitgeteilten Geschichte für die Neuzugänge, die ihrerseits wieder ihre ganz anderen Erfahrungen einbringen. Glaube kann, muss aber nicht geteilt werden.
                  Entscheidend sind die gemeinschaftstiftenden und -förderlichen Prinzipien, wie Fairness, Gerechtigkeit, Gleichbehandlung, der Wille zum Wohle aller beizutragen. Sie müssen dagegen eingefordert werden. Das geschieht inform prozeduraler Normsetzungen, anstelle
                  inhaltlicher Normen. Mitgefühl und Empathie sind wichtiger Kitt für eine Gemeinschaft.
                  Natürlich kann es allerhand Anlass-Gemeinschaften innerhalb einer Gemeinschaft geben,
                  z.B. als Selbthilfegruppen, in denen sich Menschen, die von ein und derselben Krankheit betroffen sind, gegenseitig beistehen, die sich wieder auflösen, wenn ihr Zweck erfüllt ist
                  Klar ist auch, dass gemeinsame Ziele zwischen unterschiedlichen Gemeinschaften Frieden stiften.
                  Dass man im Gegensatz dazu, jede gute Sache instrumentalisieren und ins Gegenteil verkehren kann, ist ebenfalls eine Tatsache. Das spricht aber doch nicht dafür, dass man
                  Minderheiten ihre Religion, ihren Dialekt, ihre Rhythmen, ihre Musik, ihre Essgewohnheiten nehmen muss. Im Gegenteil: das sind bereichernde Erfahrungen

                  Der folgenden Sätze finde ich sehr schön: „Oder in den Worten Zygmunt Baumans:
                  „Die beiden Dinge, für die eine Gemeinschaft sorgen müsste, um die Pathologie unserer atomisierten Gesellschaft direkt entgegenzuwirken sind die Gleichheit der Ressourcen ohne die sich die Ohnmacht von Individuen de jure nicht von der Selbstbestimmung von Individuen de facto umwandeln lässt, und die kollektive Absicherung gegen individuelle Defizite und Schicksalsschläge.“ und: „Die Vergangenheit kann man nicht ändern, doch die Zukunft lässt sich positiv gestalten – auch unter widrigen Umständen. Vorausgesetzt es findet ein Wechsel von der Konkurrenz zur Kooperation statt.“
                  Volle Zustimmung also! Aber warum sollten diese positiven Ziele nicht auch in einem Nationalstaat verwirklicht werden können?

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                • kranich05 schreibt:

                  Ich glaube, dass soziale Gebilde, in denen die unmittelbare Beziehungen der Menschen wesentlich sind, nicht verwechselt werden sollten, mit Gebilden, in denen die Beziehungen vermittelt sind. Die Vermittlung bringt ein drittes, ein objektives Moment zwischen die Menschen, die das Bedürfnis des Menschen unmittelbar „aufgehoben zu sein, nicht erfüllt.
                  Vertrauen in einen Anderen NUR weil er derselben Nation angehört, ist nicht möglich. Oder scheint nur deshalb möglich, weil mensch den Vertrauensbegriff aushöhlt.
                  „internationale Gemeinschaft“ erweist sich als ideologisches Konstrukt.

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                • Lutz Lippke schreibt:

                  Die Unterscheidung zwischen direkter Beziehung und vermittelten Beziehung halte ich auch für wichtig. Der Witz dabei ist, dass unsere Erwartungshaltung nicht selten in dieser Frage enttäuscht wird. So kann man in der politisch vermittelten Gemeinschaft durch direkte persönliche Antiphatien sehr herausgefordert sein und mit durchaus symphatischen Menschen erhebliche politische Differenzen haben. Für die Bewältigung von persönlichen Krisen und Lebensumständen ist ein emotional Unbeteiligter nicht selten hilfreicher und vertrauenswürdiger als die mittbetroffene Sippe. Also ist die Differenzierung auch keine einfache Sache.

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                • Theresa Bruckmann schreibt:

                  Lieber Kranich05, lieber Lutz Lippke,
                  ich will verdeutlichen was ich meine mit den kleinen, engen Gemeinschaften;
                  es ist nämlich nicht die ‚Sippe‘ sondern eine Dorfgemeinschaft von vielleicht
                  800-1000 Einwohnern. Jeder kennt nicht nur jeden, sondern auch noch die Vorfahren. Jeder passt auf, dass keiner einen Schritt aus der Reihe macht, das ewige Getratsche geht um Kleidung, Frisur, wie man eine Arbeit verrichtet, was man sich kauft oder nicht kauft, wie man lebt, mit wem man zusammenlebt, kurz: Man lebt wie in einem durch nichts gerechtfertigten abgesteckten sozialen Rahmen, will nur noch weg. Das hat wohl nichts mit mittelbar oder unmittelbaren Beziehungen zu tun, sonder mit Nähe und Distanz. Mein Dorf heute hat fast 10.000 Einwohner, wunderbar! Da gibt es so viel Nähe wie man zulässt, soviel Distanz wie man braucht, dazu Vereinsleben, wenn man will. Einfach ideal.
                  Vertrauen, Sicherheit ist auf jeden Fall mehr gegeben, als in einer so bedrückenden Enge.

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      • Lutz Lippke schreibt:

        Ja die Schriftsprache in den Büchern von Ingeborg Maus ist definitiv nicht massenkompatibel, aber dafür wohl nahe der wissenschaftstheoretischen Präzision. Die Begriffe sind seltener juristisch, eher aus der Politikwissenschaft, sowie Staats- und Demokratietheorie. Ich denke, die Präzision hat einerseits mit dem Wissen um aufmerksame Widersacher auf Seiten der bis heute beherrschenden Diktion zum Staats- und Verfassungsverständnis zu tun. Aber auch ihre aufklärerische und kritische Absicht gegenüber den genuin progressiven Kräften zwingt sie zur aufklärenden Genauigkeit. Gerade in der Kritik an Denk- und Handlungsweisen dieser grundsätzlich progressiven Seite sehe ich eine wichtige Arbeit von Maus. Ich finde mich jedenfalls von der Kritik erfasst. Gern würde ich Maus „übersetzen“ können. Ich maße mir aber keine gültige Interpretation ihrer Ausführungen an. Nur ansatzweise:

        Im ersten Teil (S.137 – 140) beschreibt Maus Gründe für den historischen Verlust der Idee der Volkssouveränität und der Tendenz zur Refeudalisierung und Zweckorientierung von Staat und Recht im Sinne der Herrschenden. Diese Entwicklung ist durch ein bürgerlich-reaktionäres Staats- und Rechtsverständnis eskortiert, das Maus aber auch im reflexhaften Selbstverständnis der meisten progressiven Kräfte wiederfindet. Die herrschende Diktion bestimmt und kanalisiert damit auch das Denken und Handeln der Beherrschten.
        Volk, Souveränität, insbesondere aber die Volkssouveränität im ursprünglich zentralisierten Maß entgleitet Maus zufolge angesichts der komplex vernetzten und pluralistischen Welt heute aber auch als unwirkliche und unerreichbare Fiktion. Darauf hat man sich allgemein eingerichtet und reflektiert die Folgen kaum. Die verbreitete Sicht auf eine vom Volk einmalig akzeptierten und dann vom Volk unabhängigen Verfassung, dessen moralische Werte das Volk aber fest bindet, enthüllt Maus als eklatanten Widerspruch zur demokratischen Konzeption der Aufklärung und der formal gültigen Deklaration „Alle Macht geht vom Volke aus“. Stattdessen haben sich Verfassungsgerichte zum einzig legitimierten Interpreten und Endentscheider über die Inhalte der Verfassung aufgeschwungen, die sie abgesehen von (stabilisierenden) progressiven Einzelfall-Entscheidungen stringend im Sinne eines zweckgerichteten Schutzes des herrschenden Systems zu nutzen wissen. An dieser fundamental antidemokratischen Lesart des Verfassungsrechts rütteln auch die meisten linken Kräfte nicht oder verfolgen von vornherein Konzepte, die ohne die wesentlichen Demokratieelemente Souverän und Gewaltenteilung auskommen.

        Um dem eine praktikable und zugleich aber trotzdem echte demokratische Alternative entgegensetzen zu können, muss Maus zunächst unter I. (S. 141 – 145) die heute wirksamen gesellschaftlichen Veränderungen und Entscheidungsprozesse analysieren, um dann unter II. (S. 145 – 148) ein alternatives Modell der dezentralen Volkssouveränität zu entwickeln und zu begründen.
        In diesem Kontext dezentraler Volkssouveränität erklärt Maus zu „Welche Regelungsbereiche besser dezentralen Rechtsetzungsprozessen überlassen werden sollten …“, dass diese Aufteilung einer Gesetzgebung aufgrund basisdemokratischer Aushandlungen in der Gesellschaft vorbehalten sein sollte. An anderer Stelle betont sie aber die Notwendigkeit einer zentralen, aber basisdemokratisch bestimmten Gesetzgebung zu allgemeinen Verfahrensregeln, während die Zuständigkeit für die inhaltiche Gesetzgebung dem Prinzip der direkten Betroffenheit folgen sollte. Die Rechtsetzung zu Inhalten könnte also vom Volkssouverän so dezentral wie möglich und so zentral wie nötig erfolgen. Diese Konzeption der geteilten Gesetzgebung durch den Souverän wäre mit einer pluralistischen und dynamischen Gesellschaft vereinbar, weil die zentral gesicherte prozessuale Verfahrensgerechtigkeit zusammen mit der dezentralen Kompetenz und Realitätsnähe zur inhaltlichen Rechtsetzung den zentralen inhaltlichen Vorgaben überlegen sein dürfte. Damit wäre auch der Entfremdung des Rechts von der Lebenswirklichkeit der unmittelbar Betroffenen entgegnet. Das Ziel dieser Konzeption verstehe ich einerseits in der zentralen Umsetzung einer prozessual bestimmten Demokratie im Sinne echter Volkssouveränität und zugleich deren dezentrale, aber werterhaltende Anpassung an heutige und zukünftige gesellschaftliche Herausforderungen.

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        • fidelpoludo schreibt:

          „so dezentral wie möglich und so zentral wie nötig“
          scheint mir eine geradezu geniale Kurzformel für demokratisch orientierte politische Organisationsformen zu sein – beinahe alternativlos. In ihrer Abstraktheit verbergen sich sowohl Chancen wie Gefahren: Wer übt die Definitionsmacht aus, jeweils die „mögliche Dezentralität“ wie die „notwendige Zentralität“ zu bestimmen? Die Machtfrage kommt wieder in den Vordergrund.
          In den weiteren Kontext dieser Überlegung halte ich folgenden (auf Rechtsunsicherheit wie Fremdbestimmung und einen Grund zur Benennung ihrer historischen Gründe) Hinweis für höchst bedenkenswert wie inhintergehbar. Möglicherweise hat Frau Maus auch darauf hingewiesen.
          Rainer Kahni hat in der „Freitag-Community“ folgenden brisanten kleinen Essay geschrieben, in dem er auf das Paradox hinweist, dass in der „Verfassung“</b unmißverständlich festgehalten wird, dass wir noch keine authentische Verfassung haben.
          https://www.freitag.de/autoren/rainer-kahni/deutschland-hat-keine-verfassung

          Deutschland hat keine Verfassung
          Artikel 146 GG Eine vom deutschen Volk selbst bestimmte Verfassung ist seit 1989 überfällig! Doch die Politiker fürchten eine Verfassung wie der Teufel das Weihwasser!

          Alle Welt spricht vom Grundgesetz wie von einer heiligen Kuh, als wäre es die Bibel zur Staatsreligion Deutschlands. Jeder Politiker trägt die ‘freiheitlich demokratische Grundordnung’ wie eine Monstranz vor sich her und beruft sich bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit auf das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland.
          Sogar ihr Amtseide leisten die Politiker auf diese Bibel aller Deutschen. Freilich ist das keine besondere Kunst, denn dieser Eid ist nicht strafbewehrt. Man kann also jeden Meineid auf dieses Grundgesetz schwören, ohne dafür jemals juristisch belangt werden zu können. Vergisst jedoch ein armer Schlucker, bei der Ableistung des Offenbarungseides seine Hauskatze anzugeben, dann kann er sicher sein, dass ihm die Kavallerie der Justiz, die Staatsanwaltschaft, bis ins Essfach nachgeht.

          Wie kam dieses Grundgesetz überhaupt zustande?

          (…) Allerdings darf nicht vergessen werden, dass die Initiatoren dieses Konvents (auf der „Herreninsel“ (!!!) um Chiemsee; FP), die Siegermächte, die Paten dieses Grundgesetz waren. Es kam also nicht auf Wunsch des deutschen Volkes, sondern auf Anordnung der Siegermächte zustande. Das deutsche Volk wurde weder gefragt, ob es ein solches Grundgesetz haben wollte, noch mussten die Deutschen jemals für eine Demokratie kämpfen. Das Grundgesetz kam einfach über sie, die Bürger Deutschlands hatten gar keine andere Wahl.

          Allen Mitgliedern des Parlamentarischen Rates war daher klar, dass dieses Grundgesetz nur ein vorläufiges Provisorium darstellte und nichts anderes war als ein ordnungsrechtliches Instrumentarium der Siegermächte des zweiten Weltkrieges. Prof. Dr. Carlo Schmidt sprach daher im Sinne des parlamentarischen Rates, als er im Jahre 1948 die Bundesrepublik Deutschland als “Staatsfragment” und das Grundgesetz ausdrücklich als Provisorium und nicht als Verfassung bezeichnete.

          Dies ist auch der Grund, warum die Väter des vorläufigen Grundgesetzes den Artikel 146 in dieses Provisorium einfügten, der da lautet:

          Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

          Der Artikel 146 betont also den provisorischen Charakter des Grundgesetzes und beschränkt dessen Geltung bis zur Einheit und Freiheit aller Deutschen in einem wiedervereinigten Deutschland. Die Wiedervereinigung erfolgte im Jahre 1989. Haben die Deutschen nun eine Verfassung wie es der Artikel 146 GG vorschreibt? Nein!“

          Nach einigen weiteren sehr zu empfehlenden kritischen Hinweisen und Bemerkungen endet der Artikel mit folgender Schlußpassage:

          Conclusio : Nach Meinung der Physikerin Frau Dr. Merkel ist also der Artikel 146 GG hinfällig, weil Deutschland ja nun qua Einigungsvertrag eine Verfassung habe. Auf so eine absurde Begründung wäre nicht einmal der schlimmste Winkeladvokat gekommen. So wird das deutsche Grundgesetz von den Politikern ausgehebelt!

          „Geschichte ist die Lüge, auf die sich die Historiker geeinigt haben!“ (Voltaire)

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        • Theresa Bruckmann schreibt:

          25. Januar 2019 um 22:37
          Im ersten Teil (S.137 – 140) beschreibt Maus Gründe für den historischen Verlust der Idee der Volkssouveränität und der Tendenz zur Refeudalisierung und Zweckorientierung von Staat und Recht im Sinne der Herrschenden. Diese Entwicklung ist durch ein bürgerlich-reaktionäres Staats- und Rechtsverständnis eskortiert, das Maus aber auch im reflexhaften Selbstverständnis der meisten progressiven Kräfte wiederfindet.
          Ich zitiere: „Während die Demokratietheorie der Aufklärung eine umfassende Handlungskompetenz des „souveränen Volkes“ begründete, die das Volk gleichzeitig als Hüter der bestehenden Verfassung und als permanent wirksame verfassungsgebende Gewalt einsetzte, also die Entscheidung über Fortbestand und Innovation an der gesellschaftlichen Basis verortete, setzen Widerstand bzw. Ungehorsam ein lediglich reaktives Verhalten von Rechtsadressaten auf vorgefertigte rechtliche und politische Entscheidungen voraus….Luhmann zufolge lediglich die Möglichkeit bezeichnet, sich in alltäglichen Interaktionen und auf vorgegebene Rechtsentscheidungen zu beziehen oder nicht zu beziehen. Ebenso nehmen sich „Widerstand“ und „Ungehorsam“ lediglich die wenn auch unalltäglich und demonstrativ vertretene – Freiheit, gesetztes Recht nicht anzuerkennen… Auf diese Weise sind Widerstand und bürgerlicher Ungehorsam nicht auslösende Momente eines demokratischen Willensbildungsprozesses, der zu einer generellen Gesetzesänderung führte, sondern erschöpfen sich darin den „Rechtsweg“ einzuleiten….
          Was Volkssouveränität vom Widerstandsrecht, das sie einmal historisch ablöste, unterscheidet, ist gerade die Tatsache, dass sie sich nicht aus bestehendem Recht oder einer geltenden Verfassung ableitet, sondern der gesamten Rechtsordnung vorausliegt und diese erst begründet.
          Weiter in Ihrem Text:
          Die herrschende Diktion bestimmt und kanalisiert damit auch das Denken und Handeln der Beherrschten.
          Volk, Souveränität, insbesondere aber die Volkssouveränität im ursprünglich zentralisierten Maß entgleitet Maus zufolge angesichts der komplex vernetzten und pluralistischen Welt heute aber auch als unwirkliche und unerreichbare Fiktion. Darauf hat man sich allgemein eingerichtet und reflektiert die Folgen kaum. Die verbreitete Sicht auf eine vom Volk einmalig akzeptierten und dann vom Volk unabhängigen Verfassung, dessen moralische Werte das Volk aber fest bindet, enthüllt Maus als eklatanten Widerspruch zur demokratischen Konzeption der Aufklärung und der formal gültigen Deklaration „Alle Macht geht vom Volke aus“. Stattdessen haben sich Verfassungsgerichte zum einzig legitimierten Interpreten und Endentscheider über die Inhalte der Verfassung aufgeschwungen, die sie abgesehen von (stabilisierenden) progressiven Einzelfall-Entscheidungen stringend im Sinne eines zweckgerichteten Schutzes des herrschenden Systems zu nutzen wissen. An dieser fundamental antidemokratischen Lesart des Verfassungsrechts rütteln auch die meisten linken Kräfte nicht oder verfolgen von vornherein Konzepte, die ohne die wesentlichen Demokratieelemente Souverän und Gewaltenteilung auskommen.
          Ich zitiere die entsprechenden Stellen bei Maus: „Die Praxis und noch mehr die Selbstinterpretation der basisdemokratischen Bewegungen stützen selber den herrschenden Trend, gegen den sie sich wenden, indem sie sich in die bestehende Dichotomie zwischen systemisch verselbständigten Entscheidungsprozessen und bloß negatorischer gesellschaftlicher Reakton einfügen und sich zur Artikulation ihrer Verweigerung Aktionsformen bedienen, die im Ergebnis die herrschende justizstaatliche Entwicklung bestätigen. Auf diese Weise wird die Idee, dass nur demokratisch gesetztes Recht legitim sei, verabschiedet und die Initiative der Rechtsentwicklung an die Gerichte zurückgegeben. Diese erneute Annäherung an mittelalterliche Rechtsverhältnisse bricht zugleich mit allen Prinzipien demokratischer Legitimation des politischen Handelns. Dieses versteht sich nicht mehr als Vollzug der Ergebnisse basisdemokratischer und institutionell-demokratischer Meinungs- und Willensbildungsprozesse, die sich lediglich im Rahmen der verfassungsmäßigen Verfahrensbestimmungen bzw. in den von Freiheitsrechten ausgegrenzten autonomen Handlungsbereichen entwickeln, sondern als unmittelbare Exekution von Verfassungsinhalten, die gegenüber demokratischem Prozedere „vorkonsentiert“ sind. Demokratische Willensbildung wird folgerichtig durch die Interpretation „souveräner“, vorgegebener Verfassungsinhalte ersetzt, in der das Verfassungsgericht und die Instanzgerichte qua expertokratischer Kompetenz gegenüber alternativen gesellschaftlichen Interpretationsbemühungen stets das letzte Wort erhalten.
          Weiter Lutz Lippke:
          Um dem eine praktikable und zugleich aber trotzdem echte demokratische Alternative entgegensetzen zu können, muss Maus zunächst unter I. (S. 141 – 145) die heute wirksamen gesellschaftlichen Veränderungen und Entscheidungsprozesse analysieren, um dann unter II. (S. 145 – 148) ein alternatives Modell der dezentralen Volkssouveränität zu entwickeln und zu begründen.
          In diesem Kontext dezentraler Volkssouveränität erklärt Maus zu „Welche Regelungsbereiche besser dezentralen Rechtsetzungsprozessen überlassen werden sollten …“, dass diese Aufteilung einer Gesetzgebung aufgrund basisdemokratischer Aushandlungen in der Gesellschaft vorbehalten sein sollte. An anderer Stelle betont sie aber die Notwendigkeit einer zentralen, aber basisdemokratisch bestimmten Gesetzgebung zu allgemeinen Verfahrensregeln, während die Zuständigkeit für die inhaltliche Gesetzgebung dem Prinzip der direkten Betroffenheit folgen sollte. Die Rechtsetzung zu Inhalten könnte also vom Volkssouverän so dezentral wie möglich und so zentral wie nötig erfolgen. Diese Konzeption der geteilten Gesetzgebung durch den Souverän wäre mit einer pluralistischen und dynamischen Gesellschaft vereinbar, weil die zentral gesicherte prozessuale Verfahrensgerechtigkeit zusammen mit der dezentralen Kompetenz und Realitätsnähe zur inhaltlichen Rechtsetzung den zentralen inhaltlichen Vorgaben überlegen sein dürfte. Damit wäre auch der Entfremdung des Rechts von der Lebenswirklichkeit der unmittelbar Betroffenen entgegnet. Das Ziel dieser Konzeption verstehe ich einerseits in der zentralen Umsetzung einer prozessual bestimmten Demokratie im Sinne echter Volkssouveränität und zugleich deren dezentrale, aber werterhaltende Anpassung an heutige und zukünftige gesellschaftliche Herausforderungen.
          Zitat: S 148 letzter Satz: „Alles dies setzt voraus, dass die parlamentarische Zentrale für die allgemeinste Funktion zuständig bleibt: die Setzung von Verfahrensnormen, nach denen in dezentralen Rechtsetzungsprozessen, die inhaltlichen Normen erst zustandekommen. Dies nicht, weil noch eine Einheitlichkeit der prozeduralen Normen (zentral) garantiert werden müsste, sondern weil nur eine institutionelle und zeitliche Differenzierung zwischen „Normierungen der Normsetzung“ und den Normsetzungen selbst auf einer neuen Ebene jene Invarianz von Verfahrensnormen in bezug auf den konkreten Fall garantieren kann, die aus rechtsstaatlichen Gründen unerlässlich ist: Ebenso wie nach dem klassischen Konzept (belastende) inhaltliche Rechtsnormen beliebige Diskriminierungen und willkürliche Durchgriffe auf einzelne Personen und Gruppen nur dadurch verhindern können, dass sie für unbestimmte viele zukünftige Fälle formuliert sind, so ist auch von Verfahrensnormen nur dann ein Mindestmaß an Fairness zu erwarten, wenn bei ihrem Zustandekommen, der jeweils konkrete gesellschaftliche Interessenkonflikt noch nicht bekannt ist, der nach Maßgabe ihrer Positionszuweisungen ausgetragen werden soll. Diese Reflexivität in der Trennung zwischen prozeduralen Entscheidungsprämissen und inhaltlichen Entscheidungen könnte in der neuen Arbeitsteilung zwischen zentraler Verfahrensgesetzgebung und dezentraler inhaltlicher Gesetzgebung jene Unkenntnis des konkreten Falles wiederherstellen, die in der gewaltenteiligen Abstufung rechtsstaatlicher Entscheidungsverfahren einmal bestand und heute durch die faktischen Refeudalisierungen des politischen Systems längst nicht mehr garantiert ist.“

          Von diesem Zusammenhang habe ich einfach keine bildliche Vorstellun:

          „…sondern weil nur eine institutionelle und zeitliche Differenzierung zwischen „Normierungen der Normsetzung“ und den Normsetzungen selbst auf einer neuen Ebene jene Invarianz von Verfahrensnormen in bezug auf den konkreten Fall garantieren kann, die aus rechtsstaatlichen Gründen unerlässlich ist…“

          Klar ist mir, dass aus Fairness-Gründen, bei der Regelfestlegung noch nicht klar sein
          darf, welcher konkrete Fall mit welchen Rechtsadressaten sich diesem Regelwerk unterwerfen sollen.
          Also muss die Verfahrensnormsetzung dem Verfahren zeitlich vorgehen
          aber die Ansiedlung der Ebenen ist mir nicht klar. Eine davon dürfte
          eine Meta-Ebene sein. Hilfreich wäre für mich eine Zeichnung von der
          Verfahrensnormsetzung analog einem Organigramm.

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          • Lutz Lippke schreibt:

            Die 2 Ebenen sind die Normsetzung (Gesetzgebung) und die Normanwendung (Gesetzesvollzug). Normanwender sind die Exekutive und die Judikative. Daraus ergibt sich formal eine personelle und zeitliche Trennung der Ebenen, die in der Praxis aber extrem aufgeweicht wird. Außen vor ist der Bürger als Rechtsunterworfener.
            Der gemeine Bürger beachtet Normen zwingend insofern, dass diese ihn mit Sanktionen (Strafrecht, Owi) bedrohen könnten und ansonsten bei Nichtbeachtung in einem Rechtsstreit zum Nachteil gereichen sollen. Ingeborg Maus betont aber auch die Wichtigkeit des rechtsfreien Raums für den Bürger. Also das Zusammen-Leben ist in einer freiheitlichen Demokratie nicht durchnormiert. Dass wir also nicht allzuviel über den Umgang mit Rechtsnormen wissen, ist auch ein gutes Zeichen. Man könnte mit etwas Glück ein Leben lang ohne Anwalt und Gerichtsverfahren auskommen. Kehrseite dieser Justizferne ist aber die Unwissenheit und Unerfahrenheit, wenn es dann doch einmal zur Sache geht. Vom Nichts unmittelbar in die allgemeine Normsetzung einzusteigen, wäre wohl so ähnlich, als wollte man statt dem Lernen des Einmaleins gleich die Gesetze der Mathematik umkrempeln. Das Einmaleins des Rechts muss also näher ran an den Bürger, ohne dass dieser deswegen ständig in Klage und Widerklage verstrickt wird. Zu wissen, wie im Juristischen prozedural verfahren werden soll und eine bürgeroffene und dezentrale Rechtsprechung, gibt dem Bürger aber die Möglichkeit konkrete Streitfälle und deren Auflösung zu verstehen und qualitativ zu bewerten. Damit erkennt der Bürger auch Schwachstellen in der Normsetzung, die er politisch anmahnen kann. Somit schließt sich der Kreis wieder zur Normsetzung und bezieht den Bürger mit ein.

            Die Gesetzgebung soll also für allgemeine, verständliche und gerechtfertigte Regeln zur Streitschlichtung sorgen, kann aber nicht jeden Einzelfall abschließend regeln. Daraus resultiert notwendig ein gewisses Maß an Varianz bei der Zuordnung von Tatsachen des Falls zur Norm und umgekehrt bei der Anwendung der Norm auf den Fall. Das darf aber nicht ins Unverbindliche oder Beliebige abdriften und muss grundsätzlich auch vorhersehbar sein. Die Normqualität und das Normverständnis sind also ein sehr wichtige Faktoren in einem Rechtssystem. Maus betont hier insbesondere die prozeduralen Normen, also Verfahrensnormen wie z.B. den Anspruch auf den gesetzlichen Richter, dessen Bindung an Recht und Gesetz, das Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren und auf rechtliches Gehör. Diese allgemeinen prozeduralen Normen müssen effektiv durchsetzbar sein und nicht nur als gegeben behauptet. Damit steht es z.T. schlecht im deutschen Recht. Der Anspruch auf rechtliches Gehör ist z.B. eine Rechtsbehelfskrücke, die im Alltag selten die von der Norm geforderte Wirkung zeigt. Das gilt so ziemlich für alle Rechtsbehelfe, die im Sprachgebrauch der Juristen unter „fff“ zusammengefasst werden, nämlich „formlos, fristlos, folgenlos“. Das hat auch damit zu tun, dass auch das Ablehnungsrecht gegen den Richter meist wirkungslos ist und die richterliche Missachtung von Gesetzen fast nie sanktioniert wird. Dies wird sogar offen mit Zweckargumenten (Funktionsfähigkeit der Justiz, Fürsorge gegenüber den Richter) gerechtfertigt, obwohl auch das wiederum gesetzwidrig ist.

            Wenn der Bürger vom Konkreten vor Ort also mehr mitbekäme und im Allgemeinen mehr über Gesetze und ihre Anwendung wüsste, gäbe es heute ein anderes Recht, sogar eine andere Politik und Gesellschaft. Der Bürger selbst sollte Bindeglied und effektiver Kontrolleur zwischen Gesetzgebung und Gesetzesanwendung sein. Dazu muss er Recht, als ein Spezialgebiet der Politik, in seiner Struktur und Methodik verstehen und nutzen können.

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  4. Lutz Lippke schreibt:

    „Und ist nicht „Fairness“ gegenüber der Regierungsbank – Jagdtrompeten hin oder her – elementare Tugend einer, ich sage mal, „längerfristig gestaltenden Alternativpolitik“?“

    Ich finde diese Frage aus dem Blogbeitrag ist nicht nur eine rethorische Frage zur AfD, sondern „elementare Tugend“ weist auf das grundsätzliche Problem von Alternativen zur Realpolitik hin. Für Kräfte, die an die Macht kommen wollen, ist es elementares Wissen, dass die Bedingungen und Mittel der Machtausübung sich auch nach einer Machtübernahme nicht sofort radikal verändern. Allenfalls Adrenalin und grelle Töne erzeugen die Illusion des „Alles ist neu!“.

    Wenn man Realpolitik mal im Sinne einer Sammlung aller real nutzbaren Entscheidungsmittel ansieht, könnte man auch sagen, dass Realpolitik ein schwerer Rucksack des (politischen) Wanderers ist, gefüllt mit allerlei Hilfsmitteln zum Überleben. Wenn der Rucksack aber so schwer ist, dass der Wanderer darunter zusammensackt und kein Ziel mehr erreichen kann, dann muss der Rucksack leichter werden. Es gibt sicher Unverzichtbares im Rucksack, das geprüft und sicher verstaut werden muss. Wie schwer ist der Rucksack nur mit dem Unverzichtbaren? Wieviel Gewicht kann noch hinzukommen? Was ist offensichtlich entbehrlich und welcher Nutzwert hängt vom zukünftigen Weg ab? Ist das verkündete Ziel, die rettende Sonne auf kurzen, steilen Pfaden über „den Gipfel der Zuspitzung“ zu erreichen, wirklich ernst gemeint und realistisch? Kann die alternative Strecke auf ebenen aber verschlungenen, weiten Wegen um den Gipfel herum, überhaupt gefunden und in angemessener Zeit bewältigt werden? Sich als Wanderer zu diesen realen Fragen selbst zu belügen, macht keinen Sinn und hat fatale Folgen. Die Selbsttäuschung ist also das Erste, was offensichtlich entbehrlich ist. Das führt aber dazu, dass großspurige Absichten und haltlose Versprechungen als Solche enttarnt sind. Keine schöne Offenbarung, kein Ruhmesblatt, so dass das gern vermieden wird. Erstmal Schritt für Schritt weiter, mit vollem Gewicht, ist die alternativlose Alternative zu den vermiedenen Alternativen. Dieses „Weiter So!“ kann man sowohl als absichtsvoll interpretieren, wie auch als fatalistisch. Ist der gewichtige Gang des Wanderers nun Ausdruck einer wirklichen Entschiedenheit oder einfach nur Folge des untragbar schweren Rucksacks voller Täuschungen und Illusionen?
    Treffen diese gewichtigen Wanderer aufeinander, verkaufen sie sich diese Täuschungen als entschiedene Wahrheiten und gehen dann ihrer Wege. Die Schwere ihrer Rucksäcke erkennen sie nicht als ein gemeinsames Problem, sondern nur die Angst vor der Enttarnung durch den Entgegnenden. Tatsächlich hätten sie sich gegenseitig gebraucht und nur mit dem leichteren Gepäck der Wahrhaftigkeit eine echte Chance jemals die Sonnenseite zu erreichen.

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  5. fidelpoludo schreibt:

    Um den Essay von Rainer Kahni hat in der Freitag-Community („Deutschland hat keine Verfassung“) um einen Gesichtspunkt zu ergänzen, zitiere ich hier Hans Bauer, einen ehemaligen stellvertretenden Generalstaatsanwalt der DDR, aus:
    https://deutsch.rt.com/inland/83027-grundgesetz-von-westmachten-oktroyiert-und/

    „Das Grundgesetz der BRD ist nicht nur nicht mit der Bevölkerung zustande gekommen und von den Westmächten oktroyiert worden, sondern ist genau genommen auch gegen das Potsdamer Abkommen zustande gekommen und daher völkerrechtlich bedenklich. Im Potsdamer Abkommen wurde festgelegt für ganz Deutschland: Entwicklung der Demokratie, Antifaschismus (vor allem Antinazismus), Enteignungen der Großkonzerne, die am Krieg verdient hatten und so weiter. Das alles findet sich im Grundgesetz nicht wieder. Schon darin zeigt sich, dass dieses Grundgesetz nicht antifaschistisch-demokratisch zustande kam, aber auch nicht in Übereinstimmung mit dem geltenden Völkerrecht.“

    Weiterhin nicht uninteressant:

    „Was ist ein Rechtsstaat? Das klingt erst einmal gut und ist in aller Munde. Es gibt keine wissenschaftliche Definition dazu, zum Unrechtsstaat schon gar nicht. (…)
    Das, was im Grundgesetz an grundlegenden Menschen- und Bürgerrechten steht, ist im Wesentlichen so allgemein gehalten, dass es nicht greifbar ist und man alles damit machen kann. Das wird dann als Rechtsstaat bezeichnet, aber der wichtigste Aspekt eines Rechtsstaats ist, dass die gesamten gesellschaftlichen Verhältnisse rechtlich geregelt sind. Alles was geschieht, muss irgendwo in einer Norm, in einem Gesetz enthalten sein. (…)
    Arbeit zum Beispiel. Jeder muss arbeiten, um zu existieren. Das ist sehr wichtig, jedoch steht dazu überhaupt nichts. So auch die sozialen Rechte. Insofern fehlen ganz entscheidende Punkte im Grundgesetz, wenn man schon vom Rechtsstaat spricht“.

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  6. Lutz Lippke schreibt:

    Antwort auf fidel vom 27.01.19:
    „Was dabei heraus kam, war bewundernswert.“
    schreibt Rainer Kahni in seinem Blogartikel zum Grundgesetz, was zumindest auch nach bekannten Umfragen von der Mehrheit des deutschen Volkes geteilt wird.

    Rainer Kahni weiter:
    „Der Artikel 146 betont also den provisorischen Charakter des Grundgesetzes und beschränkt dessen Geltung bis zur Einheit und Freiheit aller Deutschen in einem wiedervereinigten Deutschland.“

    Zur Geltungsbeschränkung ist das falsch. Der 1.Teilsatz des Art. 146 GG lautet:
    „Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt“

    Der Verzicht auf die Ersetzung des GG ist also zulässig. Die Einheit und die Berufung auf das Grundgesetz erzwingt nicht dessen Ersatz.
    Etwas „Bewundernswertes“ nicht in Frage zu stellen, zumindest nicht, bevor sich etwas Gleichwertiges oder sogar Besseres zeigt und etablieren lässt, ist im Sinne des demokratischen Prinzips auch nicht unbegründet.
    Als formale Beschränkung für die Berufung auf das GG gilt vielmehr nur der 2.Teilsatz des Art. 146 GG:
    „Dieses Grundgesetz […] verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.“

    Vor dem Inkrafttreten einer neuen Verfassung widerspräche die Behauptung der Ungültigkeit des Grundgesetzes dem Grundgesetz selbst. Staatliche Institutionen sind also bis zum Inkrafttreten einer neuen Verfassung des deutschen Volkes an das Grundgesetz rechtlich gebunden.

    1. Wer ist denn nun für eine neue Verfassung zuständig?
    Das deutsche Volk.

    2. Wann könnte eine neue Verfassung frühestens in Kraft treten?
    Wenn die Verfassung von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.

    3. Wann würde eine beschlossene Verfassung in Kraft treten?
    Dies müsste aus dem Beschluss des Volkes selbst hervorgehen.

    4. Wie kann das deutsche Volk in freier Entscheidung eine Verfassung beschließen?
    4.1. Ist der Gesetzgeber oder die Regierung zur Aktivität verpflichtet?
    Das BVerfG verneint das mit positivrechtlicher Begründung. Keine Pflichten.
    https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2000/03/rk20000331_2bvr209199.html
    4.2. Was nun mit Pflichten?
    Bevor man also eine Rechtspflicht aus dem GG ableiten und den daraus verpflichteten Institutionen bzw. dem BVerfG entgegen halten will, muss man Gehirnschmalz investieren.
    Wer das für aussichtsreich hält, sollte mit der Denk-Investition beginnen und dafür auf Tottern verzichten.
    4.3. Wie könnte das Volk in Eigeninitiative tätig werden?
    Zunächst bräuchte es doch einen diskutablen Verfassungsentwurf. Niemand ist an der Entwurfsarbeit gehindert. Auch die Bekanntmachung und Diskussion ist ein primär praktisches und kein rechtliches Problem.
    4.4. Wie könnte dann aber die Beschlussfähigkeit erreicht und rechtlich gesichert werden?
    Damit ist es wohl schwieriger, obwohl als formale Voraussetzung nur ein Beschluss in „freier Entscheidung“ zu erreichen ist.
    4.4.1. Die Wiedervereinigung wäre ganz sicher ein guter Anlass und Zeitpunkt gewesen. Ob die Rechtslage aus 1989/1990 (Verfassung der DDR, 2+4, Einigungsvertrag) aber heute noch etwas für den Einzelnen oder Aktionsgruppen hergibt, weiß ich nicht. Einen unmittelbaren Zwang behauptet Kahni zwar aus dieser Zeit irgendwie, aber rechtlich, politisch, moralisch?
    4.4.2. Könnte eine 2/3-Mehrheit im Parlament einen Beschluss des deutschen Volkes herbeiführen?
    ???
    4.4.3. Gibt es ansonsten einen Rechtsanspruch auf eine Abstimmung des Volkes?
    Aus Art.20 GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen […] ausgeübt.“ geht ein solcher Rechtsanspruch grundsätzlich hervor.
    Ausgehend davon, dass für den Verfassungskonvent zum GG und den Einigungsvertrag, wie auch für die jeweilige Inkraftsetzung des GG keine unmöglichen Anforderungen gestellt wurden, dürfte es auch für eine Beschlussvorlage an das deutsche Volk grundsätzlich keine formal unüberwindbaren Anforderungen geben. Die Herleitung könnte im Zuge von 4.3. erarbeitet werden. In diesem Sinne wohl vor allem eine praktische Frage der Erreichung des kollektiven Willens mittels eines bestenfalls noch „bewundernswerteren“ Anlasses.

    5. Der Weg über die Machtergreifung durch eine revolutionäre Vorhut würde schon im Ansatz verhindert, siehe KPD-Verbot https://openjur.de/u/335396.html.
    Ob über die Machtergreifung einer Minderheit letztlich eine „freie Entscheidung“ des Volkes praktisch erreichbar ist, kann rechtlich gar nicht beantwortet werden. Wer die staatliche Gewalt effektiv ausüben kann, bestimmt zumindest in dieser Machtphase die Normen (neu) oder lässt die Alten nur deklaratorisch gelten.

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    • fidelpoludo schreibt:

      Auch wenn dabei etwas herausgekommen sein soll, was „bewundernswert“ ist, bleibt doch 1. die Tatsache, dass es (das Grundgesetz) uns oktroiert wurde und sich ganz und gar nicht der Äußerung von Volkssouveränität verdankt (die wir doch wohl kaum auf ewig – wegen des Nationalsozialismus – verspielt haben dürften, oder? Sie ist doch wohl kaum als „bewundernswerter“ Knebelvertrag konzipiert worden…)
      2. die permanente Erinnerung an diesen Mangel (seiner Entstehung) im Grundgesetz (wie lange noch, bis der Hinweis stillschweigend auf interessierte Einflüsterung hin) verankert ist
      3. die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass die Fremdauferlegung des Grundgesetzes dafür verantwortlich zeichnen könnte, dass – wie von vielen Kritikern – bemängelt wird, seinem Geist entsprechend in allzu vielen Fällen gar nicht Recht gefunden und gesprochen wird
      4. eine Neuverhandlung einer Verfassung – die ja keineswegs dem Geist des Grundgesetzes zu widersprechen hätte – die einmalige Chance böte, diesen „Geist“ im Volk bekannter zu machen und in und an diesem Geist Erweiterungen und Differenzierungen vorzunehmen, die sich aus dem Umgang mit und der Betroffenheit von ihm nach den Erfahrungen aus einem dreiviertel Jahrhundert angesammelt haben und sich anbieten.

      Eine riesiger Diskussionszusammenhang wäre z.B. in den Veröffentlichungen der KJ Kritische Justiz – Vierteljahresschrift für Recht und Politik
      https://www.nomos-elibrary.de/zeitschrift/0023-4834
      zu besichtigen, die über sich selbst schreibt:

      „Die Kritische Justiz analysiert das Recht und seine praktische Anwendung vor seinem gesellschaftlichen Hintergrund und durchbricht die übliche, von ihrem ökonomischen und politischen Kontext losgelöste Behandlung von Rechtsfragen.

      Die Zeitschrift Aufsätze, Berichte, Kommentare und Dokumentationen zu allen wichtigen juristischen Gebieten und druckt für soziale Auseinandersetzungen bedeutsame Entscheidungen ab.

      Sie wendet sich an Juristen, Jura-Studenten, Referendare, Rechts- und Sozialwissenschaftler, Gewerkschafter, Sozialarbeiter, Pädagogen, Ökonomen, Umweltwissenschaftler.“

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      • Lutz Lippke schreibt:

        Erstmal ist nichts Prinzipielles gegen eine echte Neuverfassungseuphorie zu sagen, genausowenig wie gegen einen Subbotnik am kommenen Samstag, um das Klima endgültig zu retten.

        Ob „uns oktroyiert“ (warum sagt man umgangssprachlich eigentlich „aufoktroyiert“ und nicht oktroyiert oder aufgezwungen?), sinngemäß: „gegen Volkes Stimme“ und „Knebelvertrag“ die richtigen Zuweisungen sind, kann ich nicht einschätzen. Heutige Überlieferungen von historischen Quellen scheinen mir sehr von einseitigen Ideologien und absichtsvollen Erzählungen durchdrungen zu sein. Hat man dem Volk überhaupt einmal aufs Maul geschaut, statt ihm die herrschaftlich gewünschten Worte hineinzulegen?
        Volkssouveränität ist das demokratietheoretische Konzept zur grundsätzlichen Legitimation einer Rechtsordnung, so dass eine Rechtsordnung ohne Volkssouverän nicht demokratisch sein kann. Aber zum Einen ist auch der schläfrige Volkssouverän existent, zum Zweiten die praktische Prozedur der Legitimierung nicht so klar fixiert und damit eine „bewundernswerte“ Duldung des Grundgesetzes durch den schlafenden Souverän als Geltung nicht ausgeschlossen. Ist doch zumindest diskussionswürdig?

        Den Mangel einer klaren Legitimation durch eine freie Entscheidung des Volkssouverän will ich nicht wegdiskutieren, aber ich denke nicht, dass das die wesentliche Ursache für Mängel im Rechtssystem ist. Wenn man Maus in ihrer historischen Analyse folgt, haben diese Mängel mehr mit einem langen deutschen Weg zu tun, als mit einer Fremdauferlegung durch Siegermächte. Dass wir als Souverän trotz rechtlichem Rückhalt im Grundgesetz und den Offenbarungen Snowdens vor Typen wie Steinmeier einknicken (Kurnaz, Geheimabsprachen, NSA-Skandal,…), so dass diese wiederum auf das Grundgesetz kotend beim Hegemon unterkriechen können, sollten wir nicht dem Grundgesetz anlasten. Per Definition der Souverän zu sein, heißt noch lange nicht tatsächlich souverän zu sein. Die Selbstermächtigung scheint derzeit am Ehesten der AfD-Gefolgschaft zu gelingen, die nach meiner Wahrnehmung auch politisch am wirksamsten mit dem Recht auf Einhaltung von Normen argumentiert. Ist das ein guter Zeitpunkt, um ohne reflektierte Erfahrung und Übung eine Verfassung vom Stapel zu lassen?

        Von kritischen Juristen hole ich mir immer wieder mal Input, wenn er frei verfügbar ist und mir tatsächlich Anregungen bietet. Ich verstehe, dass auch Kritiker ihren Aufwand finanzieren müssen, aber ich habs nicht und zu befürchten ist auch, dass ein Einsatz seltener lohnt als gedacht. Juristen, die sich dem Trend zur Auflösung des Rechts in Beliebiges, Moralisieren oder reiner Zweckorientierung entziehen, sind eher Exoten. Die Exoten sind zudem häufig eher grundständig ehrlich als gutmenschlich. Manches gilt wie im wahren Leben (wo ehrliche Egoisten oft leichter zu ertragen sind, als selbstüberzeugte Altruisten), sehe auch die Kritik kritisch. Sie könnte auch von den Kritikern wichtigerer Kritik kommen. Von kritischen Juristen erwarte ich vor allem eine Auseinandersetzung mit der eigenen Zunft, mit der Methodik, ihrer unkontrollierten Stellung in der Gesellschaft usw.. Eine der häufigsten Klagen kritischer Juristen ist nun gerade die Einschränkung der richterlichen Unabhängigkeit, weil der Aufstieg in der Standes-Hierarchie durch die Gerichtsverwaltung gesteuert wird. Auch die Besoldung sei zu niedrig und das Arbeitspensum zu hoch. Das sind sicher alles Probleme. Aber als Beteiligtem an Gerichtsverfahren wird Dir bei Beschwerden zu rechtsfehlerhaftem Verhalten oder Missachtung von Rechten durch Richter formelhaft die richterliche Unabhängigkeit entgegen gehalten, als ginge es dabei um die Unabhängigkeit vom Gesetz. Man kann jahrelang mit Richtern im Briefwechsel stehen, nur weil sie fast nie Fehler korrigieren wollen. So türmen sich Akten und Fälle zu monströsen Aktenstapeln und Fallsammlungen, die bei einfach gesetzlich handelnden Richtern gar nicht existieren würden. Der gesetzlose Richter und sein selbstreferenzielles Geschäft steht trotzdem auch bei vielen kritischen Juristen nicht auf der ToDo-Liste.

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    • kranich05 schreibt:

      Ich finde es von Belang und es könnte juristische Spitzfindigkeit bremsen, würden wir uns erinnern, dass der Art 146, wie er 40 Jahre gültig war, ohne einen ersten Halbsatz auskam. Damit vermittelte er eine ziemlich klare Botschaft, die 1990 einzulösen war. Stattdessen wurde am 23.9.1990 der vordere Halbsatz eingefügt, „Lösung“ des Betrügers Schäuble.
      „Sprache, die für uns denkt…“ Mit fällt auf, dass Kahni (und alle Nachfolgediskutierer) ohne jede Einschränkung und Bedenken von „Siegermächten des 2. Weltkriegs“ und „Deutschland“ sprechen. Mit diesem Vokabular sind wesentliche Momente/Funktionen des GG von vornherein ausgeblendet.
      Bauer (in teils nicht sehr präziser Sprache) weist darauf hin.

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  7. kranich05 schreibt:

    Die Krise der BRD-Demokratie bildet sich nur sehr langsam aus. Heute über eine Verfassung zu reden, die progressive oder auch nur brauchbare Elemente des GG bewahrt und aufhebt und voller neuem emanzipatorischem Geist ist, das muss wohl recht spekulativ und formal bleiben.
    Wir haben keine Verfassungsbewegung in Aussicht und dito keine Verfassung.
    Neu aber finde ich und recht erfreulich, fass sich sachte Interesse für Verfassungsfragen regt.
    Es gibt solche Funken.
    Maus, die doch tatsächlich von „Refeudalisierung“ spricht und uns derzeit noch mit Formulierungen, wie „dezentrale(n) Rechtsetzungsprozesse(n)“ an die Grenzen unserer politischen Vorstellungskraft bringt, steht davor, nicht nur von Spezialisten und Freaks tatsächlich angeeignet zu werden.
    Wolfgang Abendroth wird wieder entdeckt werden müssen.
    Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches der DDR von April 1990 könnte aus dem Tresor geholt werden.
    Doch als das Wichtigste erscheint mir eine akribische politische Bilanz von 70 Jahren Praxis des GG (ohne pflichtgemäß „Bewunderung“ abzusondern). Daran mitzuwirken, sollte jeder aufgeweckte Mensch in unserem Land Lust bekommen.
    Wir in unserer Oranienburger Aufstehen-AG „Frieden“ machen uns da in aller Bescheidenheit langsam an die Arbeit.

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    • fidelpoludo schreibt:

      „Der Verfassungsentwurf des Runden Tisches der DDR von April 1990 könnte aus dem Tresor geholt werden.“

      Das leuchtet mir ein. Nach einem ersten oberflächlichen Überfliegen dieses Verfassungsentwurfes ( http://www.documentarchiv.de/ddr/1990/ddr-verfassungsentwurf_runder-tisch.html ), will es mir vorkommen, als müßte er „aus dem Tresor geholt werden“, um im Vergleich Maßstäbe zu liefern, die „eine akribische politische Bilanz von 70 Jahren Praxis des GG“ ergiebig machen würden. Meiner Vermutung nach dürfte sich dieser Verfassungsentwurf als der fortgeschrittenste der jüngeren Rechtsgeschichte erweisen.

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    • Lutz Lippke schreibt:

      Etwas Pathos, also Bewundernswertes, benötigt eine Verfassung sicherlich und stellt neben der hohen Weihe durch des Volkes Anerkennung im besten Fall auch eine progressive Offenheit dar. Die Verfassung ist auch mehr als jedes gemeine Gesetz ein anzustrebendes SOLLEN und nicht die Manifestierung des SEIN. Pathetische Normen leiden allerdings aus dem gleichen Grund auch am Ungefähren, wie an echten Lücken, die durch Auslegung zum Spielball der Machtverhältnisse werden. Der Entwurf der DDR vom April 1990 geht sicher in einigen Sollens-Fragen progressiv über das Grundgesetz hinaus. Zu gegebener Zeit könnte man sich dort also Anregungen holen und die Wirkungen vergleichen.

      Ich halte es für eine wichtige Legitimationsfrage, ob das Grundgesetz formal-rechtlich Geltung hat. Dazu sollte man sorgsam argumentieren, denn das GG genießt zumindest allgemein noch ein hohes Ansehen im Volk und nötigt auch den Verfassungsauslegern komplizierte Manöver bei Einschränkungen der verfassungsmäßigen Rechte und Pflichten ab. Daher schenkte Ingeborg Maus wohl gerade der historischen Entwicklung und heutigen Wirkung dieser Manöver viel Aufmerksamkeit. Denn es reicht nicht das Grundgesetz zu mögen oder es pathetischer zu wollen. Um die Verfassung als ein praxistaugliches Werkzeug für die Entwicklung von Demokratie und Rechtssicherheit zu verstehen und auch zu nutzen, ist die Kenntnis von beschränkenden und erweiternden Auslegungspraktiken zwingend erforderlich. Ohne dieses Wissen, gelingt auch eine neue, bessere Verfassung im Sinne der Bürger nicht.

      Die Verfassung kann die realen Machtverhältnisse nicht von sich aus umkrempeln. Aber im üblichen Postulat von der praktischen Macht und Beherrschungsgewalt „Weniger über die Masse“ steckt schon auch ein Widerspruch. Wirtschaftliche, politische und militärische Gewaltpotentiale können von wenigen Mächtigen sicherlich trotz Grundrechte jederzeit gegen Einzelne und Gruppen direkt ausgespielt werden, aber insgesamt sind Herrschende in der absoluten Minderheit zum Machterhalt darauf angewiesen, der überwiegenden Masse ein beruhigendes und / oder ablenkendes Mittel zu verabreichen. Grundsätzlich nicht rechtlos zu sein, ist ein beruhigendes Gefühl und verpflichtet zugleich zur Rechtschaffenheit. Sich aus dieser einerseits sichernden, aber andererseits auch einschränkenden Rüstung des Rechteinhabers quasi auf gleicher Ebene und nach „Unten“ zu vergleichen, lenkt einerseits vom eklatanten Widerspruch des Minderheiten-Oben und Mehrheiten-Unten ab und absorbiert zugleich jeden Anflug von Übermut. Bloß weg mit dieser einengenden Rüstung?

      Es ist doch so, dass es (zumindest vorerst) keine physische Macht von Wenigen über die Masse gibt, sondern, dass die Masse die ihr innewohnende Kraft selbsttätig atomisiert. Wem ist z.B. tatsächlich bewusst, dass mit dem Grundgesetz nur die staatliche Gewalt an die Einhaltung der Grundrechte gebunden wird und nicht der einzelne Bürger? Ist es nicht gerade auch ein informeller „linker Verfassungsschutz“, der unter Berufung auf das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes dem mehr oder weniger hinterwäldlerischen Zeitgenossen politisch-rechtlich beikommen will? Ist das Grundgesetz etwa eine Bibel für Demokraten, die Grundrechte etwa die 10 Gebote?

      Worauf ich hinaus will: Moralische Werte in der Verfassung sind gut und schön für die Sonntagskanzel, es kommt aber praktisch mehr darauf an, wie effektiv die staatliche Gewalt an die Einhaltung der Verfassung und den Schutz der bürgerlichen Grundrechte gebunden wird und gerade nicht wie der Bürger selektiv auf Moralnormen verpflichtet werden kann. Die Verfassung soll im Ausgleich zum staatlichen Gewaltmonopol dessen Schutzpflichten in Bezug auf die Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers und der Zivilgesellschaft ganz praktisch sicherstellen. Wie steht es damit?

      Der Bürger und die Zivilgesellschaft hat das Recht auf Frieden. Die Landesverteidigung gehört demzufolge zur verfassungsgemäßen Schutzpflicht im Rahmen des staatlichen Gewaltmonopols, genauso wie das Verbot von Angriffskriegen. Da gibt es eigentlich nichts zu Deuteln. Aber lassen sich auf dieser Grundlage Auslandseinsätze der Bundeswehr doch legitimieren / legalisieren? Entscheidet darüber allein das BVerfG als staatliche Institution, die selbst auf die Einhaltung des Grundgesetzes verpflichtet ist? Was weiß der einzelne Bürger über Entscheidungen dazu und prüft er ob das Grundgesetz vom BVerfG eingehalten wird? Wenn ja,wie? Durch Glauben an die Moral der staatlichen Institutionen oder äußern einer politischen Haltung zu einer expliziten Rechtsfrage?
      Hier 2 Links mit den offiziellen Überlegungen zu Auslandseinsätzen vs. Grundgesetz

      Klicke, um auf wd-2-025-16-pdf-data.pdf zuzugreifen

      https://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik/269191/legitimitaet-von-auslandseinsaetzen

      Wie sieht es mit Folter und dem Verbot der Androhung von Folter aus? Prinzipiell ist das wohl jedem halbwegs Gesunden klar, aber steht es auch im Grundgesetz und ist eine Aufweichung des Verbots unter bestimmten Umständen doch verhandelbar? Der reale Fall Daschner hat jedenfalls offenbart, dass klare Antworten keine Selbstverständlichkeit sind. http://www.bpb.de/shop/lernen/themenblaetter/36683/folter-und-rechtsstaat

      Was der Fall besonders deutlich aufzeigt, ist die Notwendigkeit eines grundlegenden Prinzips im Rechtsstaat:
      Nicht der konkrete Fall bestimmt den Inhalt der allgemeinen Norm (Gesetze), sondern die allgemeine Norm bestimmt den rechtlich bindenden Umgang mit dem konkreten Fall.

      Das Ergebnis dieses Prinzips muss einem nicht (immer) gefallen, aber bevor das hehre moralische Gefühl die im konkreten Fall scheinbar unmoralische Norm aussticht, müsste das Allgemeine im Konkreten erst einmal verstanden werden. Das kann meist nur durch Abstand oder sogar erhebliche Ferne vom Konkreten geleistet werden. Zu konkreten Beispiel erkenne ich so ohne eigene Betroffenheit folgende Fragestellung und Antwort: Würde ich in der Hoffnung auf die Rettung eines unschuldigen Lebens notfalls auch eine Straftat begehen? In dieser Abwägung sich moralisch für die Bestrafung entschieden zu haben und damit gegen das innere Schuldgefühl, nicht auch das Letztmögliche zur Rettung getan zu haben, ist selbst nicht strafbar. Bestraft wird die Androhung der Folter, nicht die persönliche Gewissensentscheidung zwischen 2 unvereinbare Alternativen.

      Viel zu selten machen wir uns wohl klar, wie affektiv wir jeden Tag denken und moralisch bewerten und wie wichtig gerade deshalb die allgemeinen und abstrakten Normen sind, die uns gesellschaftlich zum genauerem Nachdenken, zum Abstand vom gerade Gefühlten und damit zu einem übergreifenden, rationalen und rechtlichen Konsens zwingen. Dieses genauere Nachdenken den affektierten Herrschenden als Aufgabe zu überlassen, ist die Aufgabe desselben. Wir kommen um die Anstrengung nicht herum, es selbst zu tun, solange uns Rechenmaschinen und künstliche Intelligenz nicht die grundsätzliche Fähigkeit und das Recht darauf entzogen haben.

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      • Theresa Bruckmann schreibt:

        28. Januar 2019 um 21:44
        Daher schenkte Ingeborg Maus wohl gerade der historischen Entwicklung und heutigen Wirkung dieser Manöver viel Aufmerksamkeit. Denn es reicht nicht das Grundgesetz zu mögen oder es pathetischer zu wollen. Um die Verfassung als ein praxistaugliches Werkzeug für die Entwicklung von Demokratie und Rechtssicherheit zu verstehen und auch zu nutzen, ist die Kenntnis von beschränkenden und erweiternden Auslegungspraktiken zwingend erforderlich. Ohne dieses Wissen, gelingt auch eine neue, bessere Verfassung im Sinne der Bürger nicht.
        Die Verfassung kann die realen Machtverhältnisse nicht von sich aus umkrempeln.
        Aber im üblichen Postulat von der praktischen Macht und Beherrschungsgewalt „Weniger über die Masse“ steckt schon auch ein Widerspruch.
        Wirtschaftliche, politische und militärische Gewaltpotentiale können von wenigen Mächtigen sicherlich trotz Grundrechte jederzeit gegen Einzelne und Gruppen direkt ausgespielt werden, aber insgesamt sind Herrschende in der absoluten Minderheit zum Machterhalt darauf angewiesen, der überwiegenden Masse ein beruhigendes und / oder ablenkendes Mittel zu verabreichen.
        Grundsätzlich nicht rechtlos zu sein, ist ein beruhigendes Gefühl und verpflichtet zugleich zur Rechtschaffenheit.
        Sich aus dieser einerseits sichernden, aber andererseits auch einschränkenden Rüstung des Rechteinhabers quasi auf gleicher Ebene und nach „Unten“ zu vergleichen, lenkt einerseits vom eklatanten Widerspruch des Minderheiten-Oben und Mehrheiten-Unten ab und absorbiert zugleich jeden Anflug von Übermut. Bloß weg mit dieser einengenden Rüstung?
        Es ist doch so, dass es (zumindest vorerst) keine physische Macht von Wenigen über die Masse gibt, sondern, dass die Masse die ihr innewohnende Kraft selbsttätig atomisiert.
        Mein Kommentar: Gemeint ist wohl, dass die Masse statt zu kooperieren, sich zänkisch atomisiert (Bsp. Friedens- u. andere Bewegungen)
        Weiter Lutz Lippke:
        Wem ist z.B. tatsächlich bewusst, dass mit dem Grundgesetz nur die staatliche Gewalt an die Einhaltung der Grundrechte gebunden wird und nicht der einzelne Bürger?
        Zitat Maus S. 139 Mitte: „Volkssouveränität bedeutete auch in der Konnotation der „Volkssouveränität“ eine legibus-solutus-Position, die die Aufklärungsphilosophie in der Forderung permanenter Verfassungsrevision durch das „Volk“ artikulierte und in der Formel erläuterte, dass in dieser Hinsicht nur die Regierung, nicht aber das Volk an die Verfassung gebunden sei.“
        Weiter Lutz Lippke:
        Ist es nicht gerade auch ein informeller „linker Verfassungsschutz“, der unter Berufung auf das Diskriminierungsverbot des Grundgesetzes dem mehr oder weniger hinterwäldlerischen Zeitgenossen politisch-rechtlich beikommen will? Ist das Grundgesetz etwa eine Bibel für Demokraten, die Grundrechte etwa die 10 Gebote?
        Worauf ich hinaus will: Moralische Werte in der Verfassung sind gut und schön für die Sonntagskanzel, es kommt aber praktisch mehr darauf an,

        wie effektiv die staatliche Gewalt an die Einhaltung der Verfassung
        und den Schutz der bürgerlichen Grundrechte gebunden wird und
        gerade nicht wie der Bürger selektiv auf Moralnormen verpflichtet werden kann.

        Die Verfassung soll im Ausgleich zum staatlichen Gewaltmonopol dessen Schutzpflichten in Bezug auf die Freiheitsrechte des einzelnen Bürgers und der Zivilgesellschaft ganz praktisch sicherstellen. Wie steht es damit?
        Der Bürger und die Zivilgesellschaft hat das Recht auf Frieden. Die Landesverteidigung gehört demzufolge zur verfassungsgemäßen Schutzpflicht im Rahmen des staatlichen Gewaltmonopols, genauso wie das Verbot von Angriffskriegen. Da gibt es eigentlich nichts zu Deuteln. Aber lassen sich auf dieser Grundlage Auslandseinsätze der Bundeswehr doch legitimieren / legalisieren? Entscheidet darüber allein das BVerfG als staatliche Institution, die selbst auf die Einhaltung des Grundgesetzes verpflichtet ist? Was weiß der einzelne Bürger über Entscheidungen dazu und prüft er ob das Grundgesetz vom BVerfG eingehalten wird? Wenn ja,wie? Durch Glauben an die Moral der staatlichen Institutionen oder äußern einer politischen Haltung zu einer expliziten Rechtsfrage?
        Mein Kommentar: Darauf muss man ja auch erstmal kommen, prüfen zu wollen, ob das Grundgesetz vom BVerfG eingehalten wird.

        Hier 2 Links mit den offiziellen Überlegungen zu Auslandseinsätzen vs. Grundgesetz
        Wie sieht es mit Folter und dem Verbot der Androhung von Folter aus? Prinzipiell ist das wohl jedem halbwegs Gesunden klar, aber steht es auch im Grundgesetz und ist eine Aufweichung des Verbots unter bestimmten Umständen doch verhandelbar? Der reale Fall Daschner hat jedenfalls offenbart, dass klare Antworten keine Selbstverständlichkeit sind. http://www.bpb.de/shop/lernen/themenblaetter/36683/folter-und-rechtsstaat
        Was der Fall besonders deutlich aufzeigt, ist die Notwendigkeit eines grundlegenden Prinzips im Rechtsstaat:
        Nicht der konkrete Fall bestimmt den Inhalt der allgemeinen Norm (Gesetze), sondern die allgemeine Norm bestimmt den rechtlich bindenden Umgang mit dem konkreten Fall.
        Kommentar: So ist es.
        Das Ergebnis dieses Prinzips muss einem nicht (immer) gefallen, aber bevor das hehre moralische Gefühl die im konkreten Fall scheinbar unmoralische Norm aussticht, müsste das Allgemeine im Konkreten erst einmal verstanden werden. Das kann meist nur durch Abstand oder sogar erhebliche Ferne vom Konkreten geleistet werden.
        Ja, gefällt mir.
        Zu konkreten Beispiel erkenne ich so ohne eigene Betroffenheit folgende Fragestellung und Antwort: Würde ich in der Hoffnung auf die Rettung eines unschuldigen Lebens notfalls auch eine Straftat begehen? In dieser Abwägung sich moralisch für die Bestrafung entschieden zu haben und damit gegen das innere Schuldgefühl, nicht auch das Letztmögliche zur Rettung getan zu haben, ist selbst nicht strafbar. Bestraft wird die Androhung der Folter, nicht die persönliche Gewissensentscheidung zwischen 2 unvereinbare Alternativen.
        Kommentar: Ich habe eine Problem mit dem Satz „In dieser Abwägung sich moralisch
        (nicht?) für die Bestrafung …. So wie er dasteht, ist er mir nicht klar.
        Viel zu selten machen wir uns wohl klar, wie affektiv wir jeden Tag denken und moralisch bewerten und wie wichtig gerade deshalb die allgemeinen und abstrakten Normen sind, die uns gesellschaftlich zum genauerem Nachdenken, zum Abstand vom gerade Gefühlten und damit zu einem übergreifenden, rationalen und rechtlichen Konsens zwingen. Dieses genauere Nachdenken den affektierten Herrschenden als Aufgabe zu überlassen, ist die Aufgabe desselben. Wir kommen um die Anstrengung nicht herum, es selbst zu tun, solange uns
        Frage: Ist die Aufgabe desselben Gemeint ist wohl: der Verzicht/das Aufgeben des
        Nachdenkens.
        Rechenmaschinen und künstliche Intelligenz nicht die grundsätzliche Fähigkeit und das Recht darauf entzogen haben.

        Dann macht mir noch die Abstraktion des Begriffs „Volk“ Schwierigkeiten.

        Das Volk im alltäglichen Sprachgebrauch (Volksfest, Folksong) meint eine Menschenansammlung, deren einzelne Namen und Gesichter nicht bekannt
        sein müssen.
        „Staatsvolk“ (Staatsvolk, Staatsgebiet,Verfassung, die 3 Dinge, die den Staat
        ausmachen), meint wohl alle diejenigen, die sich die Volkssouveränität gegeben
        haben. (in einem demokratischen Verfahren/Abstimmung)
        Lässt man die Unterschiede: Herkunft, Geschlecht, Rasse, Religion, Kultur weg,
        so Maus S. 150 „bleiben nur noch die abstraktesten citoyens als Substrat dieses Volksbegriffs zurück.“

        Frage: Habe ich das jetzt im Sinne von Prof. Maus verstanden?

        Diesen letzten Teil im Prof. Maus-Text, in dem sie die Umrisse einer Rekonstruktion von Volkssouveränität unter heutigen gesellschaftlichen Bedingungen vorstellt, zitiere ich hier ausführlich, denn ich bin mir auch hier nicht ganz sicher, ob ich die Darstellung dieser 3 Komponenten bei der Rechtsetzung komplett verstanden habe.
        S, 147 „Eine Rekonstruktion von Volkssouveränität in einer parzellierten Gesellschaft muss vielmehr eine Dezentralisierung der Gesetzgebung ins Auge fassen, während sie die generalisierenden Perspektiven der Rechtsform beibehält.
        Sie ist Rekonstruktion insofern als auch die klassische Demokratietheorie der Aufklärung Souveränität als Gesetzgebungskompetenz definierte und Volkssouveränität mit dem wie immer institutionell gesicherten Recht des Volkes gleichsetzte, nur solche Gesetze anerkennen, die es selbst gesetzt hatte. Der Vorschlag einer so bestimmten Anverwandlung des klassischen Konzepts wird also dessen DREI zentralen Komponenten höchst unterschiedlich behandeln:
        Während der Zentralismus der Rechtsetzung nicht mehr aufrechterhalten werden kann, bedarf Volksouveränität als „Selbstgesetzgebung des Volkes“ überhaupt erst der Verwirklichung.
        Das einzige Bleibende im Wechsel wäre die (freilich auch modifizierte) Generalität der
        Rechtsform.
        Letzterer haftet – um damit zu beginnen – hinsichtlich der Umweltpolitik tatsächlich ein nostalgisches Moment an, als sie unverändert ein zentrales Organisationsprinzip der Ökonomie in Rechnung stellt. Das liberale Demokratiemodell hatte sich bekanntlich mit der Forderung der Generalität des Gesetzes verbunden, um u.a. staatliche Eingriffe in die Wirtschaft für diese berechenbar zu halten und die Gleichheit der Wettbewerbsbedingungen zu sichern… S.148 ..Auf jeden Fall ist die generelle Rechtsform mit gesellschaftlicher Parzellierung kompatibel.
        Andererseits muss das generelle Verbot nicht notwendig zentralistisch erarbeitet worden sein. Gerade die politische Zentrale der Rechtsetzung ist gegenwärtig durch den privilegierten Zugang der stärksten Umweltschädiger okkupiert, deren Einfluss auf die Gesetzgebung sich weniger in der Durchsetzung bestimmter, sondern möglichst unbestimmter Regelungen bemerkbar macht. Das allseits beklagte Implementationsdefizit ist darum nicht einfach der Komplexität gegenwärtiger Umweltbedingungen anzulasten, sondern durch diese herrschende Tendenz zur Entregelung trotz steigender Verrechtlichung bedingt, die noch immer in dem Drohpotential von Investitionsentscheidungen, Standortwahl, kurz: ökonomischer Macht begründet ist. Die Informationsabhängigkeit der politischen Zentrale von mächtigen Subpolitiken kann darum nur durch dezentrale Informiertheit vor Ort unterbrochen werden.
        Insofern sind die in der Tat hoffnungsvollen Ansätze z.B. innerbetrieblicher Opposition beim Einsatz neuer Technologien und ihre informationsvermittelnde Kooperation mit basisdemokratischen Teilöffentlichkeiten und Protestbewegungen in einer Weise zu koordinieren und mit rechtlich gesicherten Einflusschancen auszustatten, dass sie nicht wirkungslos in der Einleitung von „Rechtswegen“ verpuffen, sondern Rechtsänderungen bewirken können
        Eine Rekonstruktion von Volkssouveränität, die die Möglichkeit einer „Selbstgesetzgebung des Volkes“ untersucht, wird sich dabei nicht mit eher zufälligen Ergebnissen äußeren gesellschaftlichen Drucks auf die „politische Zentrale“ zufriedengeben können. Sie vertraut nicht drauf, dass neue Formen der Koordination aus der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation „ohne Plan Abstimmung und Bewusstsein“ hervorgehen, sondern sucht nach neuen Möglichkeiten einer gesellschaftsadäquaten Institutionalisierung der Rechtsetzung, die die vorhandene parlamentarische ergänzt..

        Welche gesellschaftlichen Regelungsbereiche – das Umweltproblem steht hier nur als ein besonders wichtiger pars pro toto – durch die gesellschaftlich beeinflusste parlamentarische Zentrale entschieden und welche besser dezentralen Rechtsetzungsprozessen überlassen werden sollten, kann nicht im Detail vorgeschlagen werden und unterliegt kollektiven demokratischen Reflexions- und Entscheidungsprozessen. Angesichts der Tatsache, dass die Generalität des Rechts gegenwärtig vielfältigen Brechungen einer parzellierten Gesellschaft unterliegt, bietet sich aber eine Arbeitsteilung zwischen Zentrale und Peripherie nach dem Grad der Anwendungsallgemeinheit einer Rechtsregulierung an.
        Rechtsnormen, die sich nur an eine sehr begrenzte Zahl von Adressaten richten oder nur regionale Auswirkungen haben, können in Rechtsetzungsarrangements beraten und verabschiedet werden, in denen die betroffenen Konfliktparteien einander direkt konfrontiert und mit symmetrischen Verhandlungspositionen ausgestattet werden, die die Asymmetrien gesellschaftlicher Macht rechtlich kompensieren.
        Rechtsnormen, die nahezu oder tatsächlich „alle“ betreffen, könnten dezentral vorbereitet und zentral koordiniert und verabschiedet werden.
        Alles dies setzt voraus, dass die parlamentarische Zentrale für die allgemeinste Funktion zustandig bleibt: die Setzung von Verfahrensnormen, nach denen in dezentralen Rechtsetzungsprozessen die inhaltlichen Normen erst zustandekommen…“

        Ich möchte mir jetzt bildlich vorstellen, wer sich da gegenübersitzen soll in solchen
        Rechtsetzungsarrangements, die dezentral, also an der Peripherie stattfinden sollen.
        wie das dezentral ablaufen könnte und wie dabei ‚rechtlich gesicherte Einflusschancen‘
        herauskommen sollen.

        Prof. Maus spricht s.o. von hoffnungsvollen Ansätzen z.B. innerbetrieblicher Opposition beim Einsatz neuer Technologien und ihre informationsvermittelnde Kooperation mit basisdemokratischen Teilöffentlichkeiten und Protestbewegungen… und mit rechtlich gesicherten Einflusschancen auszustatten, dass sie … Rechtsänderungen bewirken können

        Wie könnte beispielsweise so ein Rechtsetzungsarrangement besetzt sein?
        Es geht mir um ein konkretes Beispiel mit der Zusammensetzung der
        Beteiligten und inwieweit dabei etwa schon ein Gesetzesentwurf oder Gesetzesvorschlag herauskommen soll.
        Etwa so: die von der neuen Technologie betroffenen Arbeitnehmer des Betriebes/der
        Betriebe, deren technische Vorgesetzte, Personalrat, Betriebsleiter,
        Teil einer Protestbewegung, und Fach-Juristen oder wie?

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        • Theresa Bruckmann schreibt:

          „Lieber Lutz Lippke, nach einer Woche Auseinandersetzung mit dem Text und
          verschiedenen Formen, damit umzugehen, versuche ich, mit möglichst nur
          Original-Zitaten zu hantieren und auf Ihre Argumentation einzugehen.“
          Diese Einleitung ist bei meinem Wiederholungsversuch, irgendwie weggefallen.

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        • Lutz Lippke schreibt:

          Hallo Theresa Bruckmann,
          ich hoffe, dass ich mit Folgendem nur ein wenig zur Klärung beitragen kann.

          „Würde ich in der Hoffnung auf die Rettung eines unschuldigen Lebens notfalls auch eine Straftat begehen? In dieser Abwägung sich moralisch für die Bestrafung entschieden zu haben …“

          Damit meinte ich, dass mir bei der Abwägung bewusst sein muss, dass meine persönliche moralische Vorstellung vom Richtigen im konkreten Moment (Drohung mit Folter) eine Straftat ist, die auch bestraft werden wird. Ich muss diese erwartbare Strafe also für mich ganz persönlich zur Alternative ins Verhältnis setzen, nämlich andernfalls nicht alles mir Mögliche zur Rettung getan zu haben. Dieses Realbeispiel zeigt sehr gut, dass die Regel: „allgemeine Norm bestimmt den rechtlich bindenden Umgang mit dem konkreten Fall“ nicht immer beglückend ist.

          „Dieses genauere Nachdenken den affektierten Herrschenden als Aufgabe zu überlassen, ist die Aufgabe desselben.“

          Aufgabe1 = Herausforderung, Aufgabe2 = Aufgeben (hab ich nicht gesetzestexttauglich formuliert) 😉

          „Dann macht mir noch die Abstraktion des Begriffs „Volk“ Schwierigkeiten.“

          Im Völkerrecht und Staatsrecht ist wohl klar, dass es sich bei der Zugehörigkeit zum Volk nicht per Definition um eine Selektion nach persönlichen Unterscheidungsmerkmalen der Individuen handelt (wie z.B. Blutsverwandtschaft, Glauben). Sondern Staatsvolk ist eine sich dadurch nach innen integrierende und nach außen abgrenzende Gruppe, weil sie sich unter einer realen staatlichen (Zentral-)Gewalt auf einem abgrenzbaren Staatsgebiet versammelt.

          Angesichts der Verwerfungen, Migrationsströme und ausdifferenzierten Interessenlagen ist das notwendige ideelle Konzept eines (einheitlichen) „Volkswillen“ nicht mehr mit dem Zentralismus-Konzept des Staates realisierbar. Nicht nur, aber auch deshalb wird „Volkssouveränität“ als untaugliches Hirngespinst gern verworfen und nur als rein formale Floskel der Verfassung verstanden. Die Analyse der Problematik und das daraus entwickelte Konzept einer dezentralen „Volkssouveränität“ ist genau deshalb das Hauptthema des Textes von Ingeborg Maus. Es geht aber nicht um eine vollkommen „neue Erfindung“. Maus verweist ja implizit auf ansatzweise bereits vorhandene Strukturen der Praxis. Bis zur Konkretisierung einer dezentralen Rechtsetzung und deren Verknüpfung mit der Zentrale geht Maus aber nicht. Sie stellt für diese „Rekonstruktion von Volkssouveränität“ aber ein paar grundlegende Merkmale zur Diskussion:

          – „dezentrale Informiertheit vor Ort […] zu koordinieren und mit rechtlich gesicherten Einflusschancen auszustatten, dass sie nicht wirkungslos in der Einleitung von „Rechtswegen“ verpuffen, sondern Rechtsänderungen bewirken können.

          – „nicht mit eher zufälligen Ergebnissen äußeren gesellschaftlichen Drucks auf die „politische Zentrale“ zufriedengeben“

          – „vertraut nicht drauf, dass neue Formen der Koordination aus der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation „ohne Plan Abstimmung und Bewusstsein“ hervorgehen“

          – „sucht nach neuen Möglichkeiten einer gesellschaftsadäquaten Institutionalisierung der Rechtsetzung, die die vorhandene parlamentarische ergänzt.“

          Wir hätten z.B. die Möglichkeit der Vertiefung, in dem wir real bereits vorhandene oder angedachte dezentrale Strukturen anhand dieser Merkmale analysieren.
          Im Bereich von Planfeststellungsverfahren gibt es z.B. durchaus wirksame Bürgerbeteiligung, die man von Oben am liebsten als Gestaltungsverhinderung abschaffen und manches Mal sogar kriminalisieren will. Tatsächlich korrespondiert das mit einer häufig verinnerlichten Haltung des Verhinderns der zentralisierten Gestaltung durch Widerstand und Ungehorsam. Diesen Negierungsansatz möglichst durch einen positiv-alternativen Gestaltungswillen von Unten zu ersetzen, ist auch eine Kopfsache und nicht nur eine Frage von sachlichen Kompetenzen. Das Volk ist ja nicht blöd, sondern nur daran gewöhnt, von allen Regierungen und Parteien als blödes Stimmvieh missbraucht zu werden. Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass die alte rot-rote Berliner Regierung vor der Privatisierung von Wohnbauunternehmen und Versorgungsbetrieben sich mit dem Volk offen abgestimmt hätte. Auch jetzt scheint die von der Berliner R2G beabsichtigte Rekommunalisierung eher ein teures Geschenk der Regierenden an Wähler zu sein, als etwa eine Anregung zur offenen Bürgerbeteiligung und Diskussion über Vor- und Nachteile.

          Ich habe schon Desöfteren zu „Migrationspfaden“ geschrieben, wie sie in der Technikentwicklung verstanden werden. Der Unterschied zur vermutlich artverwandten Transformation ist die Tatsache, dass Migration nicht auf „Bewusstseinsveränderung“ und/oder der Veränderung von ideell bestimmten Vorgehensweisen beschränkt ist. Ein Migrationsschritt kann das Wechseln einer Hardware sein, aber auch die Umstellung einer inneren Logik oder Einstellung. Wesentlich ist, dass jeweils temporär stabile Zwischenzustände erreicht werden, die zum geplanten Ziel hinführen, aber möglichst auch immer ein Umsteuern zulassen. Als einen solchen Migrationsprozess erkenne ich die Verfahrensweise, die zur Befassung des BVerfG mit den HartzIV-Sanktionen geführt hat. Da hat sich nicht einfach ein Kläger zum BVerfG durchgeklagt, sondern verschiedene Beteiligte in einer Region haben aus unterschiedlichen Interessenlagen heraus ein gemeinsames Ziel erkannt und planmäßig auf die Richtervorlage zum BVerfG hingearbeitet. Offenbar gelang dies auch nicht sofort im 1. Versuch, so dass man am Fehlschlag lernend die richtige Fallkonfiguration erstellt hat, der das BVerfG im günstigsten Fall nicht ausweichen kann. Dafür brauchte es nicht viele Beteiligte, sondern nur echten Willen, Lernfähigkeit und einen guten Migrationsplan. Dem sollte sich zur Verstärkung ein begleitender öffentlicher Diskurs zu Verfassungsrecht, Sozialpolitik und Menschenbild anschließen, der die verschiedenen Ebenen aber auch möglichst auseinanderhält. Das Ergebnis müsste nach meinem juristischen Grundrechte-Verständnis die Feststellung der Verfassungswidrigkeit und damit Nichtanwendbarkeit der konkreten Sanktionsgesetze des SGB sein. Ausnahmsweise wäre dies dann eine rechtsstaatskonforme (Außer-)Rechtsetzung durch das BVerfG, da dem Gesetzgeber nur die Verletzung der eigenen Gesetze unter die Nase gerieben wird und er natürlich nachbessern darf. Beim juristischen Wegfall einer schon haushaltspolitisch sehr fragwürdigen Idee mit angeblich max. 3% an allen Hartz IV-Fällen, fehlt dem Ziel der Neuauflage von Sanktionen jede gesellschaftliche und wirtschaftspolitischen Relevanz. Dieses Argument wäre z.B. nicht juristisch und eine andere Ebene als die Vorlage beim BVerfG.

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  8. Lutz Lippke schreibt:

    „Um die Verfassung als ein praxistaugliches Werkzeug für die Entwicklung von Demokratie und Rechtssicherheit zu verstehen und auch zu nutzen, ist die Kenntnis von beschränkenden und erweiternden Auslegungspraktiken zwingend erforderlich.“

    hatte ich oben geschrieben. Ich gebe zu, dass die heutige Auslegungspraxis in weiten Teilen der Justiz so unübersichtlich und diffus ist, dass man schnell den roten Faden und die Aufmerksamkeit verliert. Kann man mit „reiner Juristerei“ überhaupt widerständige Politik wirksam betreiben?

    Ich denke, dass der Anwalt Alexander Würdinger genau dafür ein gutes Beispiel ist. Am Anfang stand dessen Ärger über die Verfahrensweise des Gerichts in einer zivilrechtlichen Angelegenheit.
    Würdinger warf dem Gericht vor, die Akte offensichtlich gar nicht gelesen zu haben und erstattete Strafanzeige wegen gemeinschaftlicher Rechtsbeugung bei der Staatsanwaltschaft. Erwartbar passierte aber nichts, so dass Würdinger beim OLG ein Ermittlungserzwingungsverfahren begann und sich nach weiterer Untätigkeit bis zum Bayrischen Verfassungsgerichtshof vorarbeitete, was an dem Wortgeschiebe nichts änderte. Würdinger kniete sich wohl wie kein anderer Praktiker zuvor in die Tiefen des Klageerzwingungsrecht hinein und verbreitete seine Erkenntnisse und Sichtweise in vielen juristischen Fachartikeln. Das ändert am fehlenden öffentlichen Interesse so schnell nichts. Würdinger griff nun In einem verfahrensinternen Schriftsatz an das Gericht zur Provokation und schrieb:

    „Der Unterschied zwischen Ihnen und Roland Freisler liegt in Folgendem: Während Roland Freisler im Gerichtssaal schrie und tobte und überhaupt keinen Wert darauf legte, das von ihm begangene Unrecht in irgendeiner Weise zu verschleiern, gehen Sie den umgekehrten Weg: Sie haben sich ein Mäntelchen umgehängt, auf dem die Worte „Rechtsstaat“ und „Legitimität“ aufgenäht sind. Sie hüllen sich in einen Anschein von Pseudolegitimität, die Sie aber in Wahrheit in keiner Weise für sich beanspruchen können. Denn in Wahrheit begehen Sie – zumindest in diesem vorliegenden Justizskandal – genauso schlicht Unrecht, wie es auch Roland Freisler getan hat. So betrachtet ist das Unrecht, das Sie begehen noch viel perfider, noch viel abgründiger, noch viel hinterhältiger als das Unrecht, das ein Roland Freisler begangen hat: Bei Roland Freisler kommt das Unrecht sehr offen, sehr direkt, sehr unverblümt daher. Bei Ihnen hingegen kommt das Unrecht als unrechtmäßige Beanspruchung der Begriffe Rechtsstaatlichkeit und Demokratie daher: Sie berufen sich auf die Begriffe Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, handeln dem aber – zumindest in dem vorliegenden Justizskandal – zuwider.“​

    Würdinger ist, soweit ich weiß, ein passionierter Schachspieler.
    Auf diese Provokation folgte die öffentliche Strafverfolgung Würdingers wegen Ehrverletzung / Beleidigung der Richter, die Würdinger nach einer Reihe von Zwischenständen für sich entscheiden konnte. Denn der „Freisler-Vergleich“ war vom Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt, vor allem auch deshalb, weil die Äußerung nicht grundlos in der Öffentlichkeit verbreitet wurde, sondern nichtöffentlich als Argumentation eines Beteiligten in einem gerichtlichen Streitverfahren. Erst durch die Straafanzeigen der Richter wegen Beleidigung wurde der „Freisler-Vergleich“ öffentlich. Über diesen Umweg erreichte Würdinger nun auch erheblich mehr Aufmerksamkeit für seine Erkenntnisse zum Ermittlungserzwingungsverfahren. Und Würdinger lässt da nicht locker.

    Immer wieder wurde Würdinger von Kollegen vorgeworfen, er würde einen wirren Krieg nur in eigener Sache verfolgen, was der Berufsehre eines Juristen widerspräche. Nun könnte dem „nur in eigener Sache“ aber vielleicht jede Basis entzogen werden, wenn sich auch andere Juristen seiner Erkenntnisse bedienen und mit Klage- bzw. Ermittlungserzwingung mauernden Staatsanwaltschaften öffentlich Beine machen wollen. Dies bahnt sich im Fall Oury Jalloh an, der im Polizeigewahrsam verbrannte und Ermittlungen ergebnislos eingestellt wurden.
    Spätestens jetzt ist Würdinger auch für den Nichtjuristen Teil eines politischen Kampfes, obwohl dies schon mit der ersten Anzeige wegen Rechtsbeugung begann. Wer staatliche Institutionen der Exekutive und Judikative bei der illegitimen und illegalen Selbstermächtigung hindert, stärkt die politische Handlungsfähigkeit des Souveräns. Aus einer „eigenen Sache“ ist offensichtlich „unsere Sache“ geworden.

    Danke Alexander Würdinger

    Links zu Alexander Würdinger
    https://community.beck.de/user/profil/ra-wurdinger
    https://community.beck.de/2018/09/02/diskussionstipp-von-alexander-wuerdinger-das-bverfg-und-der-inhalt-des-klageerzwingungsantrags?page=15
    Link zur Initiative im Fall Jalloh
    https://initiativeouryjalloh.wordpress.com/

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  9. kranich05 schreibt:

    Mit scheint, dass die sehr ausführliche Beschäftigung mit juristischen oder besser rechtsphilosophischen Texten zur Volkssouveränität in eine ziemlich wichtige (für mich vordergründige) Aufgabe mündet: Meinem Gegenüber, dem Bürger A, B, C einen Zipfel/Artikel GG erläutern, ihn darauf aufmerksam machen, wie Andere das auslegen (Wer diese Anderen sind.) und ihn noch mehr darauf zu bringen, dass eine andere (seine eigene) Auslegung möglich ist UND ER SIE VORNEHMEN MUSS. (Keiner sonst wird es für ihn tun.)

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  10. Detlev Matthias Daniel schreibt:

    Zu dem kleinen Exkurs um Gemeinschaft, Gesellschaft und Staat – insbesondere von Theresa vorgetragen – möchte ich etwas beitragen: Niemand wird bestreiten wollen, daß Gemeinschaften sich nach außen hin abgrenzen müssen, d.h. sich von dem unterscheiden müssen, was nicht zu ihnen gehört. So wie ein Begriff von irgend einem Ding beinhalten muß, was dazu gehört und was nicht. Im Gegensatz dazu verstehen wir Gesellschaft als das, was sich aus dem funktionalen Zusammenleben der Menschen in einem definierten politischen Raum ergibt. Der Raum als solcher ist also begrenzt, ohne daß diese Grenzen die Gesellschaft definieren (im Begriffssinn). Diese definiert sich nicht durch äußere Grenzen sondern durch ihre innere Funktionalität. Je nachdem, welchen Bereich wir betrachten, ergeben sich sogar unterschiedliche äußere Grenzen gesellschaftlicher Subsysteme: Staatsgrenzen, Rechtsraum, Ökonomie, Kultur, Sprache etc.

    Es ergibt also keinen Sinn, Gesellschaft als die, die sie ist, von außen durch Grenzen, Attribute o.ä. definieren zu wollen. Die Gleichsetzung von Staat und Gesellschaft führt zu einer Verflachung des Verständnisses. Es gibt vielleicht eine empirische Kohärenz von Staat und Gesellschaft, aber nicht notwendigerweise eine innere, logische. Der Staat definiert sich über sein Rechts- und Verwaltungssystem (was das Gewaltmonopol und die territoriale Begrenzung mit beinhaltet). Gesellschaft ist das, was sich unter diesen Rahmenbedingungen – oder eben auch ohne sie – aus sich selbst heraus entwickelt.

    Vielleicht entspricht diese Beschreibung auch eher meiner Wunschvorstellung. Immerhin sind Begriffe wie „außerhalb der Gesellschaft stehen“ und „Parallelgesellschaften“ aus dieser Perspektive sinnlos. Sie entstammen wohl dem Wunsch oder dem Anspruch, dieses Ding kontrollieren und beherrschen zu können, was aber allenfalls teilweise funktioniert – aus meiner Sicht gleichwohl zu sehr, aus der entgegengesetzten Sicht sicherlich in unbefriedigendem Maße. Wenn ich einen solchen Gesellschaftsbegriff für hilfreich und konstruktiv halte, führt es vielleicht auch weiter, wenn ich den Gemeinschaftsbegriff in ähnlicher Weise systemisch fasse. Also statt von konkreten Attributen, Zielen, Werten etc. auszugehen (die eine Gemeinschaft von einer anderen unterscheidet), vom abstrakteren Gemeinsinn (der die Gemeinschaft zusammenhält), nicht gemeinsame Werte, die uns verbinden, sondern der Wille, uns auf gemeinsame Werte zu verständigen, nicht das, wofür wir gemeinsam einstehen, sondern daß wir gemeinsam füreinander einstehen usw. macht dann Gemeinschaft aus. So kann Gemeinschaft durchaus ein Moment sein, das die Gesellschaft von innen heraus bewegt, ohne damit eine Begrenztheit und einen Ausschluß anderer zu implementieren.

    Es gibt dann in dem Sinne keine Gemeinschaften, wie es keine Gesellschaften gibt, sondern nur Gemeinschaft und Gesellschaft. Kann es sein, daß die so sehnlich gesuchte Geborgenheit in der Gemeinschaft weniger eine Frage von Beziehung und Vertrauen ist (das ja in starkem Maße davon abhängt, ob ich es aufbaue), als vielmehr das Bedürfnis, die Verantwortung abgeben zu dürfen und den erwachsenen, mündigen Menschen, der ich (nicht wirklich) bin, im Bette liegen zu lassen und sei es nur für ein entspanntes Stündlein?

    Ich finde es immer wieder spannend, gesellschaftliche Fragen aus grundsätzlich verschiedenen Perspektiven zu betrachten: Der konventionellen, nach Sicherheit und Kontrollierbarkeit strebenden, von extrinsischen Motiven, Regeln, Normen und letztlich einem herrschaftsförmigen Konzept ausgehenden – und einer ganz anderen, noch utopischen, die auf intrinsische Motive, Selbstbestimmung und Eigenverantwortung projiziert.

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    • Theresa Bruckmann schreibt:

      Danke Detlev Matthias Daniel,
      Ihre Gedanken zu Gemeinschaft, Gesellschaft und Staat sind
      sehr hilfreich, weil sie in einfachen Sätzen verständlich machen,
      was Robert Fleischer und Dirk Pohlmann
      in dem Video-Abschnitt 1:24 Std. bis ca. 1:29 Std.
      thematisieren.
      Es geht darum, Ideen und eine Verständigung darüber zu finden,
      so dass eine möglichst breite Diskussion um Staatsform-Modelle
      der Zukunft möglich wird.
      https://opablog.net/2019/02/08/fundstueck-verspaetet-angezeigt-8-2-2019-fleischer-und-pohlmann/
      Nicht zu vergessen, dass Prof. Maus eine zeitgemäße Form der Volkssouveränität
      vorgestellt hat.

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  11. kranich05 schreibt:

    Wenn mir Manches im vorstehenden Text fragwürdig oder unklar erscheint, dann hängt das vielleicht mit dem benutzten, wohl zentralen aber undefinierten Begriff vom „funktionalen Zusammenleben der Menschen“ zusammen.
    Der sollte nicht nur Worthülse sein. Was ist sein Inhalt? Vereinfacht würde ich sagen: Das Zusammenwirken der Menschen in ihrem Stoffwechselprozess mit der Natur. (Sowohl mit der äußeren Natur, als auch mit der, die im Menschen selbst steckt.) Mit dem Natürlichen hat das Gesellschaftliche sehr wohl eine Grenze, überdies eine, die dauernd „passiert“ wird.
    Je nach der Art dieses Stoffwechsels lassen sich sogar ganz gut Typen von Gesellschaft unterscheiden.
    So entstand die Idee, dass es eine Gruppe von Gesellschaften gab/gibt, in der die Menschen am besten überlebten, wenn sie einander ausbeuteten (und von Zeit zu Zeit die Köpfe einschlugen). So entstand aber auch die Idee, dass unter bestimmten Voraussetzungen eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, Herrschaft oder „Idiotismus des Landlebens“ sein könnte.
    Dem „Idiotismus des Landlebens“, wie Theresa ihn schildert (Ich habe Jahre meiner Kindheit ebenfalls in einem 800-Einwohner-Dorf verbracht.) scheinen die jungen Leute heute weit weniger unterworfen zu sein.
    Geborgenheit brauchen sie aber wie eh und je.

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    • Detlev Matthias Daniel schreibt:

      Statt „funktionales Zusammenleben“ hätte ich auch schreiben können „vielfältiges wechselseitiges Aufeinandereinwirken“. Da die Menschen aber gewohnt sind, dieses funktional untergliedert zu betrachten (sozial, ökonomisch, politisch, kulturell etc.), habe ich diese Ausdrucksweise gewählt. Gemeint ist tatsächlich jede denkbare Funktion, weshalb ich auch nicht weiter differenziert oder definiert habe. Der Ausdruck ist also tatsächlich auf der konkreteren Ebene nicht definiert und auch so gemeint. Er ist gewissermaßen eine Unbekannte bzw. Variable. Warum soll das, was in der Mathematik als Lösung oder Aussage stehen kann, in der logischen Verknüpfung von Informationen ungenügend sein?

      Der Begriff „System“ übrigens kann genauso auf verschiedenen Abstraktionsebenen eine andere Bedeutung haben wie der Begriff „Gemeinschaft“. Beide Anwendungen haben im jeweiligen Kontext einen Sinn. Nur ist im Gegensatz zur Gemeinschaft beim System die abstraktere Bedeutung die gebräuchlichere. Und so plädiere ich jeweils, die weniger gebräuchliche Bedeutung mit zu bedenken, weil sie das Verständnis verbreitert.

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      • kranich05 schreibt:

        Hey,
        Du kannst das Operationsteam, das Dir eine neue Herzklappe einsetzt, als „funktionalen Zusammenhang“ beschreiben (oder als „vielseitig wechselwirkend“), ebenso wie die Bauernfamilie mit zwei Ochsen vorm Wagen, die die Ernte einfährt: In beiden Fällen wird Dir das Wissen über den „funktionalen Zusammenhang“ NICHT das Überleben sichern.
        Es gibt ein paar Aufgaben, deren Lösung NICHT die Mathematik liefert. 🙂
        Grüße

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        • Detlev Matthias Daniel schreibt:

          Mir scheint, ich verstehe nicht wirklich, was du sagen willst. Mathematik läßt sich beschreiben als das System der deduktiven Anwendung der Gesetze der Logik also des rationalen Denkens. Ohne sie gäbe es keine künstlichen Herzklappen, nicht einmal einen Ochsenwagen. Um sie in der Realität erfolgreich anwenden zu können, braucht es auch ein Verständnis der funktionalen Zusammenhänge. Je komplexer die zu lösende Aufgabe, desto komplexer sollte auch dieses Verständnis sein. Je komplexer das Verständnis, desto mehr bedarf es der Abstraktion. Die vollständige Lösungsmenge der Gleichung y = 2x + 3 übersteigt einfach unser Fassungsvermögen.

          Dennoch würde ich ausdrücklich zustimmen, daß wir nicht jede Frage mithilfe der Mathematik beantworten können, nur – von solchen Fragen und Antworten hatten wir es hier bislang nicht, oder?

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  12. Lutz Lippke schreibt:

    Ich plädiere bei Staat und Gesellschaft für eine mathematische Sichtweise. Staat eher streng formalistisch genau, Gesellschaft eher mit großen Variablen. Beide unterscheiden sich nach Definition gerade in den Freiheitsgraden. Der Staat muss nach Normen funktionieren, die Gesellschaft sollte welche haben, ohne durch diese stranguliert zu werden. In diesem Sinne kann der normgebundene Staat und die an Normen orientierte Gesellschaft gemeinsame Werte bilden, die in den umfassten Gemeinschaften eine verlässliche Orientierung bilden. Ich bin mir sicher, dass uns intrinsisch mehr Werte und Normen gemeinschaftlich verbinden als trennen. Als Ideal steht daher eine allumfassende Gemeinschaft des Miteinanderstraße hoch im Kurs. Es ist aber nicht so einfach. Auch beim besten Willen stoßen wir auf Defizite und Störungen, die zu Konflikten führen und sich verhärten. Vereinbarte Normen sollten diese Konflikte möglichst fair regeln und treten so in begrenzten Umfang an die Stelle gemeinsamer intrinsischer Motive. Erst durch die Anerkennung des Andersartigen, Andersdenkenden und Andersfühlenden sind wir bereit Normen in dieser Weise zu akzeptieren. Andernfalls werden Normen eher als Zugeständnis der Anderen, als Machtmittel zur Durchsetzung der eigenen Agenda verstanden. Aus diesen gegensätzlichen Sichtweisen erklärt sich für mich die auf Freiheiten orientierte soziale Gemeinschaft im Gegensatz zur auf Zwang orientierten Gemeinschaft. Der Freiheitlichen kann man sich anschließen oder sich selbst ausschließen, von der Zwanghaften wird man einverleibt oder ausgeschlossen. Im Zwanghaften bilden Gemeinschaft, Gesellschaft und Staat eine Zwangseinheit die Abweichungen ausschließt oder verleugnet. Im Freiheitlichen bilden Gemeinschaften, Gesellschaft und Staat mindestens normativ begründete Schnittmengen, ohne deswegen zur Einheit verpflichtet zu sein. Ich denke, dass wir die Ansprüche an das Gemeinsame nicht so hoch schrauben sollten, dafür aber mehr auf die Verbindlichkeit der Normen und Freiheiten achten sollten. Der Eine ist frei, solange er die Normen beachtet, die die Freiheiten der Anderen schützt. Man darf sich mehr Gemeinschaftliches wünschen, aber nicht zwingend verlangen.

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