Obdachlosensiedlng Mühltal – Kein Märchen

Gastbeitrag von Prof. Dr. Mechthild Seithe

1973 noch nannte man im Jugendamt diese Siedlung das „Tal der langen Messer.“ Es waren dort doppelt so viele Menschen untergebracht, wie eigentlich vorgesehen war. Die Familien lebten in völliger Armut, es herrschte alltägliche Gewalt. Vernachlässigung der Kinder war an der Tagesordnung. Von den dort Untergebrachten konnte sich über Jahrzehnte hinweg niemand aus dem Milieu herausarbeiten – hierfür ein Beispiel als Indiz: sämtliche Kinder aus der Obdachlosensiedlung Mühltal wurden in den Jahren um 1970 herum sofort (ohne Überprüfung) direkt in die nahe gelegene Sonderschule eingeschult.

SozialarbeiterInnen gingen noch 1973 mit Polizeischutz in die Siedlung Mühltal. Sie wurden als Handlanger einer Sozialpolitik verstanden, die sich gegen die Menschen in der Siedlung richtete. Wer sich dennoch für diese Menschen einsetzen wollte, stand auf ziemlich verlorenem Posten.

Dann starb ein Kind beim Spielen in der unmittelbar daneben liegenden Kläranlage. Die Öffentlichkeit wurde wach und die Stadtväter waren sehr gerührt. Wir schrieben das Jahr 1974, es war 6 Jahre nach der inneren Reform der Sozialen Arbeit in Folge der 68er Bewegung. Im Mühltal engagierte sich in direkter Folge dieses Todesfalles ein neuer, sozialpädagogischer Projektverbund. Insgesamt arbeitete dieser Verbund 18 Jahre lang intensiv und kontinuierlich  in dieser Obdachlosensiedlung.

Im Mühltal entstanden im Verlaufe der nächsten ein, zwei Jahre eine Kindertagesstätte, ein Hort, ein Mittagstisch. Die SozialarbeiterInnen vom ASD hielten offene Sprechstunde, waren täglich präsent und machten eine Reihe niedrigschwelliger Angebote, die zunehmend angenommen wurden. Aber nicht nur die SozialarbeiterInnen waren aktiv und setzten sich solidarisch für ihre Klientel ein. Die Bewohner selbst lernten, sich zu wehren und für ihre Rechte zu kämpfen! Es entwickelte sich z.B. ein Bewohnerparlament, bei dem der betreuende Sozialarbeiter nur beratend teilnehmen durfte. Es fanden im Verlaufe der Zeit 11 „Sit-Ins“ in Stadtratsversammlungen statt, bei denen die Mütter der Siedlung ihren Forderungen nach menschenwürdigen Lebensbedingungen Nachdruck verliehen. Und sie hatten Erfolg. Einwohner renovierten ihre Häuser und wurden dafür nach Tarif entlohnt, sie erhielten Mietverträge. Die Überbelegung ging deutlich zurück, weil immer mehr Familien Wohnungen auf dem freien Markt fanden. Und auch kulturell entwickelte sich die Siedlung überraschend. Es entstand eine Künstlergruppe, die in der ganzen Stadt ihre Bilder ausstellte.

In einem von dieser Künstlergruppe gegen Ende des Projektver­laufes erstellten großen Wandbild wird auf der linken Seite des Gemäldes die Situation in der Siedlung vor Beginn des Projektes dargestellt. Hier ist deutlich zu sehen: es herrscht Gewalt, Depression und Zerstörung. Auf der rechten Seite des Bildes zeigt sich das Mühltal als das, was es nach 18 Jahren Projektarbeit war und heute noch ist: Eine kleine, schmucke, fast idyllische Siedlung mit stolzen Bewohnern, im Gespräch mit SozialarbeiterInnen und im Gespräch miteinander.

Ein kleines Indiz für die kolossale Veränderung der Lebensverhältnisse: 1992, 18 Jahre später, als das Projekt beendet wurde, besuchte nicht eins der Kinder aus dem Mühltal mehr eine Sonderschule, etliche hatten inzwischen Abitur und studierten.

Anmerkung:

Obdachlosensiedlungen gab es seit den 60er Jahren und zum Teil schon seit der Zeit nach dem 1. Weltkrieg in den meisten (west)deutschen Großstädten. Sie dienten vor allem der Unterbringung obdachloser Familien. Hier wurden diese in Billigstunterkünften ohne Mietvertrag untergebracht, meist in einer Stadtlage, die sicherstellte, dass der Normalbürger mit diesen Menschen nicht in Kontakt kommen konnte, z. B. neben der Kläranlage der Stadt. Die Wohnungen waren hoffnungslos immer mit mehreren Familien überbelegt und dem Verfall und dem herrschenden Vandalismus ausgeliefert. Es herrschte Streit und Gewalt. Die obdachlosen Bürger benahmen sich so, wie es von ihnen erwartet wurde. Kinder hatten in diesen Siedlungen keine Chance auf Bildung und in der Regel auch keine Chance auf eine fördernde Erziehung.

Die Schilderung des Projektes „Mühltal“ ist ein Dokument der Sozialen Arbeit, wie sie in den 70er Jahren möglich war und die uns heute wie eine Utopie vorkommt. Was hier in einem 18 Jahre währenden Prozess durch Soziale Arbeit zusammen mit den Betroffenen geleistet wurde, ist heute fast unglaublich. Das war im Kontext des damaligen „Sozialstaates“ Soziale Arbeit, wie sie sein sollte bzw. sein könnte – wenn man sie mit Zeit und Geld angemessen ausstatten würde und wenn unsere Regierung und unsere Bevölkerung die obdachlosen Menschen wirklich mit Achtung, Respekt und dem Vertrauen in ihre Fähigkeiten und ihrem Willen zu einem normalen Leben behandeln würden.
Das freilich kostet Geld und das erfordert ein Menschenbild, das nicht von „Leistungseliten“ und der Entwertung bestimmter Menschengruppen geprägt ist.

Heute hat man üblicherweise weder das Geld (jedenfalls hierfür nicht) und Obdachlose stehen in unserer Gesellschaft in der Wertekategorie ziemlich weit unten. Und da ändern verbale Beteuerungen in Richtung Toleranz und Integration rein gar nichts.

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Prof. Dr. Seithe im Internet:

„Neue schöne Welt“ meinglashaus Blog von Mechthild Seithe

„Soziale Arbeit und Sozialpolitik in der Kritik“ (Zukunftswerkstatt Soziale Arbeit)

Poesie und Texte Literarische Webseite von Mechthild Seithe

Einige Fachbücher von Mechthild Seihe (ggf. MitverfasserInnen) bei Amazon.

Seithe, Mechthild; Heintz, Matthias
„Ambulante Hilfe zur Erziehung und Sozialraumorientierung. Plädoyer für
ein umstrittenes Konzept der Kinder- und Jugendhilfe in Zeiten der
Nützlichkeitsideologie“, 2014, kostenlos als pdf

Das „Schwarzbuch Soziale Arbeit“ kann eventuell über diesen Link (mit kostenlosen Test-Account) downgeladen werden.

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4 Antworten zu Obdachlosensiedlng Mühltal – Kein Märchen

  1. Fred schreibt:

    „Obdachlosensiedlungen gab es seit den 60er Jahren und zum Teil schon seit der Zeit nach dem 1. Weltkrieg in den meisten (west)deutschen Großstädten.“

    Was soll die Klammer bei den westdeutschen Großstädten? Nun erwarten wir die Nennung der ostdeutschen Großstädte mit Obdachlosen. Verlogener geht es nicht.

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    • kranich05 schreibt:

      Bitte, regen Sie sich nicht künstlich auf.
      Wenn es Obdachlosensiedlungen „zum Teil schon seit der Zeit nach dem 1. Weltkrieg“ gab, dann sicher auch in ostdeutschen Großstädten. Mit Bestehen der DDR dann nicht mehr in „deutschen Großstädten“, sondern nur noch in westdeutschen.
      Sie scheinen herauslesen zu wollen, Mechthild Seithe würde behaupten, dass es auch in der DDR Obdachlosensiedlungen gab.
      Wenn sie Seithes Texte zur Kenntnis nehmen, werden Sie die Abwegigkeit Ihrer Vermutung erkennen.

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  2. Detlev Matthias Daniel schreibt:

    Ich kann mich noch gut erinnern: 1967 zog unsere Familie in ein Neubaugebiet in der Stadtrandlage Kiels. In der Umgebung gab es zwei solcher „Siedlungen“ mit in etwa den beschriebenen Charakteristika, dort „Barackenlager“ oder einfach nur „Lager“ genannt. Die begriffliche Nähe zu Arbeits- und Konzentrationslagern ist sicher nicht ganz zufällig. Deren Bewohner galten als „Asoziale“. Da waren z.B. Flüchtlinge, die es nicht geschafft hatten, zwischenzeitlich in der Gesellschaft Fuß zu fassen, aber natürlich auch Schon-Immer-Ausgegrenzte wie Sinti o.ä.. Mit deren Kindern mochte oder sollte man nichts zu tun haben. Die Sonderschule war allerdings der normalen Grundschule angegliedert und es gab auch Kinder von dort, die in den normalen Schulklassen die Rolle der schwarzen Schafe einnahmen, so 100%ig funktionierte die Trennung nicht.

    In Kiel hat es allerdings keine 18 Jahre intensiver Sozialarbeit „gebraucht“, um die Verhältnisse zu ändern. Wenige Jahre später gab es diese Lager nicht mehr. Da sie den städtebaulichen Entwicklungsplänen im Weg waren, wurden sie einfach aufgelöst. Sie wurden meines Wissens nicht verlegt. Dadurch, daß die (nicht so wenigen) Bewohner einzeln anderweitig untergebracht wurden, war das Problem entschärft, wenn auch nicht vollkommen aufgelöst. Die im Zuge dieser Stadtentwicklung massenhaft gebauten Sozialwohnungsblöcke haben zwar vielen Menschen eine Unterkunft gegeben, aber ein sicheres und gepflegtes Wohnen und eine Integration dieser Menschen war das damit noch lange nicht.

    Natürlich waren damals auch die Wirtschaftlichen Rahmenverhältnisse günstiger, solche Menschen in geregelte Erwerbsverhältnisse zu bringen, aber abgesehen davon sollte man auch diese Erfahrungen bedenken, wenn heute wieder nach „preisgünstigem“ Massenwohnungsbau gerufen wird. In welchem Maße diese Rahmenbedingungen der Zeit die Entwicklungen in Mühltal mitprägten oder zumindest begünstigten, wird aus dem Beitrag leider nicht ersichtlich. Aber genau der Unterschied zwischen der hier geschilderten Entwicklung und der in Kiel und auch anderswo zu beobachtenden zeigt den Wert sozialer Arbeit.

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