Lenin-/Stalinfragen

Lieber Kranich, das Thema Lenin, aber auch die Frage nach der Vermeidbarkeit oder Unvermeidbarkeit der Übergabe der Macht an Stalin und der möglichen Unzulänglichkeiten der Organisationsstruktur der bolschewistischen Partei, interessieren mich…“

Ich antworte gerne als jemand, der im Laufe der Zeit viel von und über Lenin gelesen und sich so sein persönliches Verständnis erarbeitet hat. Historiker bin ich nicht und „Experte“ schon gar nicht.

Ich fange mal an: Du schreibst: „Lenins (praktizierter) Grundsatz des Nichtausschlusses von Gegenmeinungen unter Bolschewisten wurde im Verlauf weniger Jahre restlos aufgegeben. (Dabei kann ich nicht genau einschätzen, ob Lenin diesen Grundsatz praktizierte, einfach weil ihn die Verhältnisse dazu zwangen oder ob bzw. wie weit es eine bewusst gepflegte „Kultur“ des produktiven Umgangs mit Gegenmeinungen gab.)

Die heißesten Fragen der Revolution – Lenins Aprilthesen, der Beschluss die Macht zu ergreifen, der Abschluss des Brester Friedensvertrages, später der Übergang zur NÖP, um nur diese zu nennen – führten ALLE zu heftigsten Auseinandersetzungen in der Partei bis hin zu faktischen (mehr oder weniger dauerhaften) Spaltungen. Bei all diesen Auseinandersetzungen befand sich Lenin anfangs in der Minderheitsposition. Er errang jedes mal Mehrheiten in zähen bis erbitterten Diskussionen (parallel zum Fortgang der politischen Massenkämpfe). Mehrmals drohte er selbst mit dem Rücktritt von allen Funktionen. Fakt ist, dass Lenin mit ALLEN, die Gegenpositionen vertreten hatte, nachdem sie diese aufgegeben hatten, weiter zusammenarbeitete.

Bemerkenswert ist auch ein absolut fairer Nachruf Lenins auf den Linken Sozialrevolutionär Proschjan, der zum Kampf gegen die Bolschewiki übergegangen war (Siehe opablog hier). Andererseits gibt es bei Rogowin die Bemerkung, dass es zu Lenins Zeit üblich gewesen sei, dass GenossInnen hartnäckig abweichender Position zumindest zeitweilig in weniger wichtige Provinzfunktionen geschickt wurden. NIEMALS wurden zu Lenins Zeit abweichende Parteimeinungen kriminalisiert/juristisch verfolgt. Das copy right auf diese „Form der Parteiarbeit“ gebührt einzig und allein Stalin, erstmals angewandt übrigens gegen einen muslimischen Bolschewisten und Lenin-Vertrauten (Genaueres müsste ich bei Rogowin nachlesen.).

Es wird behauptet, dass Stalin nicht nur als gelehriger Schüler Lenins galt und auftrat, sondern dass Lenin ihn zumindest eine gewisse Zeit lang auch besonders anerkannt und sogar gefördert habe, ihn sogar in besondere Ämter gehoben habe.

Lenin schätzte Stalin als „prächtigen jungen Georgier“, der prinzipienfest und entschlossen auftrat und zwar in bleierner Zeit, 1912/13. Lenin übertrug Stalin. 1913 eine Ausarbeitung zur Nationalen Frage, die dieser (mit viel Hilfe von Lenin, wie Kosing schreibt) in ausreichender Qualität bewältigte. Mir sind keine weiteren Beispiele einer theoretischen Zusammenarbeit Lenin-Stalin bekannt. Eine rel. selbständige Rolle spielte Stalin ab Februar 2017 in Petrograd (wohin er aus der Verbannung geeilt war) als Prawda-Redakteur mit einer halbmenschewistischen Position. Er gehörte anfangs, wie viele andere auch, zu den Gegnern von Lenins Aprilthesen.

In den späteren Auseinandersetzungen – soweit ich sehen kann in ALLEN – stand Stalin zuverlässig an der Seite Lenins (auch wenn sie in der Minderheit waren). Ich denke, dass L. diese treue Gefolgschaft geschätzt hat. Ich kann nicht erkennen, dass Stalin in diesen Auseinandersetzungen eine besonders aktive, wortführende Rolle gespielt hätte. Vermutlich mangelte es ihm diesbezüglich an der geistig-ideologischen Bildung und Flexibilität bis hin zu den sprachlichen Fähigkeiten. In den beiden Rabinowitch-Bänden, in denen eine Vielzahl von Funktionären zu Wort kommt, wird Stalin fast nie erwähnt. Im Bürgerkrieg bekleidete Stalin bedeutende politisch-militärisch Funktionen, in denen er sich als durchsetzungsfähig erwies, wobei es aber auch zu anhaltenden Kontroversen mit Trotzki und Tuchatschewski kam. Ab Mitte 1922 bekleidete Stalin die Funktion des Generalsekretärs der Partei, von Lenin, dessen medizinischer Leidensweg um diese Zeit begann, nicht gefördert aber toleriert. Ich schätze, dass diese „Innendienst“-Funktion von den „echten Bolschewiki-Kämpfern“, die nach wie vor von ihrem Revolutionspathos durchdrungen waren, eher gering geschätzt wurde. Ein wenig vergleiche ich diese Funktion mit der des Spießes bei der Armee, der „Mutter der Kompanie“. Aber Stalin war jetzt nicht nur sozusagen „Chef der Küche“, sondern auch „Chef der Kader“. Der Bürgerkrieg war zu Ende, die Verwaltung Russlands rückte ins Zentrum aller Arbeit (Stalin setzte in kurzer Zeit tausende Kader ein) und Lenins Platz war unbesetzt – so sah sich Stalin Im zweiten Halbjahr 1922 an die aussichtsreiche Startposition für eine bzw. DIE Führerkarriere gestellt. An Ehrgeiz, Machtinstinkt und taktischer Umsicht mangelte es ihm nicht.

Ab 2. Halbjahr 1922 bis März 1923 entwickelte sich zwei gegenläufige Prozesse:

– die Beeinträchtigung, zunehmend Zerstörung, von Lenins Arbeits- und Führungskraft (von Phasen der Hoffnung unterbrochen)

– die Formierung der winzigen (fünf Personen) Führungsgruppe für den absehbaren Machtkampf.

Beide Prozesse wurden überlagert vom schrittweisen Sichbewusstwerden Lenins der Gefahren die der Partei und der Revolution drohten und seinen Anstrengungen diesem „Schicksal“ gegenzusteuern. Und dieses Sichbewusstwerden wiederum wurde vor allem gespeist aus der kritischen Beobachtung des ZEITGLEICH sich herausbildenden und deutlicher erkennbar werdenden speziellen Stalinschen Führungsstils.

Mit Lenins endgültigem Zusammenbruch Anfang März 1923 war entschieden, dass es keine Lösung im Sinne der direkten (im Inhalt eindeutigen, in der Form vorsichtigen) Empfehlungen Lenins geben würde. (Zu alldem vergl. hier)

Dass Lenin Stalin nicht hat verhindern können – kurz vor seinem Tode soll er ja vor ihm gewarnt haben – deutet für mich auf zwei einander nicht ausschließende Möglichkeiten hin: 1. Seine Einschätzung des Charakters anderer (Mitstreiter oder Gegner; vielleicht nur Mitstreiter) entsprach nicht ganz dem Niveau seiner sonstigen intellektuellen Fähigkeiten. Ein psychologischer Mangel sozusagen. Oder: 2. Die Strukturen einer Kaderpartei ließen sich dem Anforderungswechsel vom Kampf um die Macht zum Ausbau, der Sicherung und Handhabung der Macht nicht oder nur unzureichend entsprechend anpassen und umstellen.

Was Du Möglichkeit 1 nennst, möchte ich rundheraus (spontan) bestreiten. Mein Bild Lenins ist eher, dass er seine Mitkämpfer sehr differenziert einzuschätzen wusste und generell die Wechselwirkungen von Psychologischem und Politischem/Nichtpsychologischem im Blick hatte. Wie gesagt, eine spontane Antwort. Ob ich sie nach längerem Nachdenken vielleicht relativieren würde, weiss ich nicht.

Die Möglichkeit 2 ist sehr ernst zu nehmen. Den Anforderungswechsel hat Lenin frühzeitig grundsätzlich klar benannt. Das gehört zu seinen größten theoretisch-praktischen Leistungen. Ich spreche von seiner im März/April 1918 geschriebenen und veröffentlichten Arbeit „Die nächsten Aufgaben der Sowjetmacht“ (Lenin Werke Band 27, S. 225-268).

Randbemerkung zu Lenin-Quellen: Die komplette Werkausgabe Lenins (wie auch die von Marx/Engels) ist online verfügbar. Man kann sich hier oder hier mühelos die entsprechenden pdf.-Dateien herunterladen und per Volltextsuche schnell jede angegebene Stelle finden.

Eine andere Frage ist, ob die Orientierungen auf die neuen Anforderungen zielstrebig und in vollem Umfang umgesetzt wurden. Wurden sie nicht. Das verhinderte der Existenzkampf – Bürgerkrieg, Interventionskriege – der durchgestanden werden musste. Nach dem Bürgerkrieg ging das Ringen – wieder eine Existenzfrage! – um die NÖP, eine tiefgreifende Umorientierung. (Mir kommt die interessante Frage, ob Lenin nach dem Bürgerkrieg explizit auf seine Arbeit von März/April 1918 zurück gekommen ist. Diese Frage habe ich mir bisher noch nicht gestellt und kann sie derzeit nicht beantworten.)

Kurz: Der Anforderungswechsel stand auf der Tagesordnung. Er wurde nicht umfassend bewältigt, wahrscheinlich (ohne Lenins Mitwirkung) auch nicht im vollen Umfang begriffen.

Inwieweit für diese unentschiedene Situation, die sich ja bis etwa 1928/29 hinzog und mit dem Übergang zu Stalins Diktatur beendet wurde, „die Strukturen der Kaderpartei“ verantwortlich waren, möchte ich momentan nicht beantworten.

Damals wie heute ist die Parteifrage eine der Kernfragen.

Ich bin z. Z. der Auffassung, dass

– der völlige Verzicht auf die Partei zugleich den Verzicht auf die Zentralisierung und Konzentration der systemüberwindenden Kraft bedeutet (Anarchismus). Das halte ich für keinen gangbaren Weg.

– ALLE gegenwärtig existierenden Parteien systemstabilisierende Funktion haben und daher Teil des Problems und nicht der Lösung sind und dass

– Lenins Parteikonzept (Grundlegung in „Ein Schritt vorwärts,…“, 1904, Werke Band 7 aber auch „Was tun?“, 1902, Werke Band 5) ohne Lenins Persönlichkeit ebenfalls gescheitert ist.

In dieser Situation stelle ich mir die Aufgabe, Lenins Parteikonzept noch einmal auf das Sorgfältigste zu studieren in der Hoffnung Ansatzpunkte für eine Weiterentwicklung zu finden, die unter heutigen (und künftigen) Bedingungen funktionieren kann. Übrigens ist in diesem Zusammenhang der kleine Artikel der DDR-Historikerin Ulla Plener lesenswert: „Lenin über Parteidisziplin“, zu finden hier.

Standen Demokratie und Meinungsfreiheit nachweisbar in irgendeiner Form auf seinem „Zieleplan“ und wenn ja an welcher Stelle und eventuell wie weit zeitlich in die Zukunft verschoben?

Auf diese Frage ein eindeutiges „Ja“. Eine Teilantwort habe ich mit dem Verweis auf „Die nächsten Aufgaben…“ gegeben. Beim Lesen sollte man die Diktion der Zeit berücksichtigen. Ein übertriebenes Beschwören des Begriffs „Meinungsfreiheit“ etwa, wird man bei Lenin nicht finden. Ich verweise auf eine weitere knappe Arbeit von Ulla Plener „Lenins demokratische Strategie“ und auch auf meinen kleinen Vortrag bei den Freidenkern zu diesem Thema.

Welche Rolle spielte neben der Idee der „Rätedemokratie“ ihre Praxis?

Hier geht es nicht zuletzt um die Rolle der Sowjets. Die Sowjets=Räte waren in der Revolution Machtorgane, nicht bloße Befehlsempfänger. Bei Rabinowitch kann man nachlesen, wie zeitweilig die Sowjets die einzigen funktionierenden Machtorgane waren und die Partei ein Schattendasein führte, weil alle verfügbaren Parteikräfte konkrete Arbeit in den Sowjets, der Armee, bei der Getreidebeschaffung usw. leisteten.

Grundsätzlich meine ich, dass man bei der „Rätefrage“ immer das Problem mitbedenken muss, dass die Räte als Ausdruck der BREITESTEN Volksinteressen auch für rückständige oder zurückbleibende Positionen offen sind. Das traurige Schicksal der Selbstentmachtung der Räte in der deutschen Novemberrevolution sollte uns bewusst sein.

Stimmt es, dass die Anhängerschaft der Bolschewisten überwiegend in den Städten und Großstädten konzentrierten (ca. 20% der Bevölkerung), während die Bauern und die Landbevölkerung kaum oder fast gar nicht oder sogar entschieden gegen die Bolschewiken eingestellt waren.

Es ist richtig, dass sich die Bolschewiki hauptsächlich auf das Industrieproletariat, die Fabrikarbeiter und in diesem Sinne auf die Städte stützten, ohne aber die Interessen der Bauernschaft zu ignorieren. Großen Einfluss erlangten sie im Verlauf des Krieges auf die Armee und Flotte und das bedeutete indirekt (über die Millionen Soldaten) auch auf die Bauernschaft. Nicht zu vernachlässigen ist ihre Verwurzelung in der radikalen Intelligenz.

Die theoretischen Grundlagen der Politik der Bolschewiki gegenüber den Klassen und Schichten der russischen Gesellschaft hatte Lenin rechtzeitig und gründlich ausgearbeitet in einem seiner klassischen Werke: „Zwei Taktiken der Sozialdemokratie…“ Das war im Juni/Juli 1905, zu finden in Werke Band 9.

Ja, die Russen waren die Einzigen, die frühzeitig anfingen, ernsthaft die „Algebra der Revolution“ zu studieren.

Was an der Zwangskollektivierung war bei Lenin schon angedacht? Gar nichts, nur ein geringer Teil oder hat er sie in groben Zügen mit zu verantworten?

Die Zwangskollektivierung war das erste Große Verbrechen Stalins (Verbrechen hier mehr politisch, weniger juristisch gemeint) und erfolgte in absolutem Widerspruch zu allem, was Lenin diesbezüglich vertreten hatte.

Bei diesem Antwortsatz möchte ich es belassen und jetzt Lenin selbst das Wort geben, der meiner Meinung nach Deine Frage erschöpfend beantwortet. Er sagte auf dem VIII. Parteitag der KPR(B), 18.-23. März 1919, wo er zu Punkt 6, die Arbeit auf dem Lande, referierte (nachzulesen in Werke Band 29, S196-198, Hervorhebungen von Lenin):

Als wir die Macht ergriffen, stützten wir uns auf die gesamte Bauernschaft als Ganzes. Damals hatten alle Bauern eine Aufgabe: den Kampf gegen die Gutsbesitzer. Aber bis heute halten sie an dem Vorurteil gegen den Großbetrieb fest. Der Bauer denkt: „Gibt es Großbetriebe, bin ich

wieder Knecht.“ Das ist natürlich falsch. Aber bei dem Bauern ist mit der Vorstellung vom Großbetrieb der Haß verbunden, die Erinnerung, wie die Gutsbesitzer das Volk unterdrückt haben. Dieses Gefühl bleibt, es ist noch nicht abgestorben.

Vor allem müssen wir von der Wahrheit ausgehen, daß man hier derNatur der Sache nach mit Gewaltmethoden nichts erreichen kann. Hier ist die ökonomische Aufgabe ganz anders gestellt. Hier gibt es keine Spitze, die man abtragen kann, ohne das ganze Fundament, das ganze

Gebäude in Mitleidenschaft zu ziehen. Die Spitze, die in der Stadt die Kapitalisten bildeten, gibt es hier nicht. Hier mit Gewalt vorgehen hieße die ganze Sache zugrunde richten. Hier -bedarf es einer lang dauernden Erziehungsarbeit. Wir müssen dem Bauern, der nicht nur bei uns, sondern

in der ganzen Welt Praktiker und Realist ist, konkrete Beispiele als Beweis dafür liefern, daß die „Kommune“ das beste ist. Natürlich wird nichts Vernünftiges dabei herauskommen, wenn im Dorf übereilige Leute erscheinen, die aus der Stadt aufs Land gespritzt kommen, den Leuten

etwas vorschwatzen, einige gelehrte, mitunter auch nicht gelehrte Zänkereien anzetteln und schimpfend wieder davonfahren. Das kommt vor. Anstatt sie zu achten, wird man sie verspotten, und das mit vollem Recht. Zu dieser Frage müssen wir sagen, daß wir die Kommunen fördern,

aber sie müssen so eingerichtet sein, daß sie das Vertrauen der Bauern gewinnen. Bis dahin aber sind wir Schüler der Bauern und nicht ihre Lehrer. Nichts ist dümmer, als wenn Leute, die die Landwirtschaft und ihre Besonderheiten nicht kennen, Leute, die nur deshalb ins Dorf stürzten,

weil sie etwas vom Nutzen der Gemeinwirtschaft gehört haben, des Stadtlebens müde sind und auf dem Lande arbeiten wollen – wenn solche Leute sich in allen Dingen als Lehrer der Bauern betrachten. Es gibt nichts Dümmeres, als an Gewalt auf dem Gebiet der wirtschaftlichen Beziehungen des Mittelbauern auch nur zu denken.

Die Aufgabe läuft hier nicht darauf hinaus, den Mittelbauern zu expropriieren, sondern darauf, den besonderen Lebensbedingungen des Bauern Rechnung zu tragen, darauf, von den Bauern zu lernen, wie man zu einer besseren Ordnung übergeht, aber wagt nicht zu kommandieren!

Das ist die Richtschnur, die wir uns gegeben haben. ( B e i f a l l des g a n z e n P a r t e i t a g s . ) Das ist die Richtschnur, die wir in unserem Resolutionsentwurf darzulegen versucht haben, denn in dieser Hinsicht, Genossen, haben wir wirklich nicht wenig gesündigt. Das einzugestehen

ist keineswegs beschämend. Wir hatten keine Erfahrung. Den Kampf gegen die Ausbeuter haben wir auf Grund unserer Erfahrung geführt.

Wenn man uns seinetwegen manchmal verdammt hat, so können wir sagen: „Ihr seid daran schuld, ihr Herren Kapitalisten. Hättet ihr nicht einen so wütenden, sinnlosen, frechen, erbitterten Widerstand geleistet, hättet ihr nicht ein Bündnis mit der Bourgeoisie der ganzen Welt geschlossen,

dann hätte der Umsturz friedlichere Formen angenommen.“

Jetzt, nachdem wir diesen wütenden Ansturm von allen Seiten abgeschlagen haben, können wir zu anderen Methoden übergehen, denn wir handeln nicht als ein kleiner Zirkel, sondern als eine Partei, die Millionen führt. Millionen können nicht sofort eine Änderung des Kurses verstehen, und deshalb treffen die Hiebe, die den Kulaken zugedacht sind, vielfach den Mittelbauern. Das ist nicht erstaunlich. Man muß nur begreifen, daß das durch historische Umstände bedingt ist, die überlebt sind, und daß die neuen Bedingungen und neuen Aufgaben in bezug auf diese Klasse eine

neue Denkweise erfordern.

Unsere Dekrete über die Bauernwirtschaft sind in den Grundzügen richtig. Wir haben keinerlei Ursache, uns auch nur von einem dieser Dekrete loszusagen, auch nur eines von ihnen zu bedauern. Aber wenn auch die Dekrete richtig sind, so ist es nicht richtig, sie den Bauern mit Gewalt aufzuzwingen.“

Lenin Politik der NÖP war auf viele Jahre, ja Jahrzehnte, angelegt. In China hat Deng, nachdem man die Mao-Wirren überstanden hatte, mit seinen Reformen wesentliche Züge von Lenins NÖP realisiert. In der Sowjetunion hat nach Stalin niemand den Weg Lenins wiedergefunden. In der DDR wurden manche Gedanken der NÖP durchaus aufgegriffen.

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36 Antworten zu Lenin-/Stalinfragen

  1. fidelpoludo schreibt:

    Lieber Kranich,
    ich bin beeindruckt. Eine sehr ausführliche Stellungnahme zu den gestellten Fragen. Nach dem ersten Durchlesen steigt Lenin in meiner Achtung in erster Linie, was seine wirklich klugen Einschätzungen zum Umgang mit den Bauern betrifft, die ich so nicht erwartet hatte.
    Habe leider heute noch andere Verpflichtungen zu erfüllen, und werde deshalb wahrscheinlich erst morgen dazu kommen, davon zu berichten, wie die gleichen Fehler, die Lenin hier scharfsinnig und empathisch zugleich erkennt und vor ihnen warnt („Nichts ist dümmer, als wenn Leute, die die Landwirtschaft und ihre Besonderheiten nicht kennen, Leute, die nur deshalb ins Dorf stürzten, weil sie etwas vom Nutzen der Gemeinwirtschaft gehört haben, des Stadtlebens müde sind und auf dem Lande arbeiten wollen – wenn solche Leute sich in allen Dingen als Lehrer der Bauern betrachten.“)
    in der Portugiesischen Revolution von der (stalinistischen) PC in der „Reforma Agraria“, an der ich mit meiner damaligen portugiesischen Frau indirekt, aber nicht nur als Augenzeuge (durchaus nicht als „Revolutionstourist oder -aktivist“), beteiligt war, sich wiederholten. Dabei waren die Chancen einer Kommunistischen Partei wohl damals in Europa nirgendwo so groß wie in den südlichen, von Latifundien dominierten Regionen Portugals, weil sie sich großes Ansehen in der dort ansässigen Bevölkerung wegen ihres subversiv organisierten Widerstands gegen den Faschismus Salazars verdient hatte. Auch hier scheint mir ein notwendiger Übergang von einer Kaderpartei zu einer rätedemokratischen Organisation nach Lenin („den besonderen Lebensbedingungen des Bauern Rechnung zu tragen“, „von den Bauern zu lernen, wie man zu einer besseren Ordnung übergeht, aber wagt nicht zu kommandieren!“) nicht gelungen, nicht einmal angestrebt (weil als Problem nicht wahrgenommen) worden zu sein. Sie kommandierten ungerührt, glaubten, alles besser zu wissen, und verscherzten sich viele mögliche Sympathien, die sie schon deshalb hatten, weil viele ihrer Aktivisten bekanntermaßen von der Geheimpolizei der PIDE gefoltert oder ermordet wurden. Auch sie haben sich eher an Stalin als an Lenin orientiert und letztlich einer weiteren Version sozialdemokratischen Verrats in die Hände gearbeitet. Denn auf diese Weise haben sie ja nicht nur den von „Schupposen“ (Gegenbegriff von Kolchose) durchsetzten Norden Portugals abgeschreckt, sondern zur Ermächtigung der (sozialdemokratischen) Partido Socialista (die mit einer geballten Faust in ihrem Emblem und dem Versprechen eines „demokratischen Sozialismus“ in ihrem Parteiprogramm warben) und deren Programm einer Aufnahme in ein kapitalistisches Europa zugearbeitet.
    Erst einmal vielen Dank. Und morgen mehr.
    (wieder nicht doppelt, deshalb diese Klammer, weil WP sie als Veränderung des Verdoppelten registriert. Nur so ist WP auszutricksen.)

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    • willi uebelherr schreibt:

      Lieber Fidelpoludo

      „Sie kommandierten ungerührt, glaubten, alles besser zu wissen, und verscherzten sich viele mögliche Sympathien, …“. Das ist das generelle problem aufgesetzter propagandismen, dessen ursache die soziale konditionierung der akteure ist. Neben ihrer abwertung von realer arbeit, die sie als persoenliche zumutung fuer sich selbst empfinden und ihr heil in der substanzlosen welt von theoretischen propagandismsen suchen, ist es primaer der mangel an verstaendnis von oekonomie, das dann notwendig in die mutatiossphaeren der „Makro-Oekonomie“ abdriftet. Dort fuehlen sie sich zu hause und koennen kommandieren, ohne die resultate ausbaden zu muessen. Das klassische problem der Makro-Oekonomie.

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  2. willi uebelherr schreibt:

    Lieber Klaus-Peter, auch ich danke dir fuer deine arbeit. Den kern-konflikt, Partei/Apparat versus kooperierender freund, uebergehst du leider auch bei Lenin, obwohl es ja ueberall auftaucht in deinem text. Dieser konflikt ruht nicht in den personen, sondern in den strukturen, die alltaeglich erlebt werden und die einzelnen personen konditionieren.

    Hier noch zu einer person, die du vielleicht meinst:
    Mirsäyet Xäydär ulı Soltanğäliev (Sultan Galiev)
    https://de.wikipedia.org/wiki/Mirs%C3%A4yet_X%C3%A4yd%C3%A4r_ul%C4%B1_Soltan%C4%9F%C3%A4liev

    „Ich bin z. Z. der Auffassung, dass
    – der völlige Verzicht auf die Partei zugleich den Verzicht auf die
    Zentralisierung und Konzentration der systemüberwindenden Kraft bedeutet
    (Anarchismus). Das halte ich für keinen gangbaren Weg.
    – ALLE gegenwärtig existierenden Parteien systemstabilisierende Funktion haben
    und daher Teil des Problems und nicht der Lösung sind und dass
    – Lenins Parteikonzept (…) ohne Lenins Persönlichkeit ebenfalls gescheitert ist.“

    Erstmal zu 2). Das gilt fuer Parteien allgemein und nicht nur heute. Parteien ruhen auf gruppen-egoismen, verhindern ein freies suchen nach den besten wegen, lassen gruppen konkurrenzen entstehen, befoerdern substanzlose gruppen-identitaeten. Das konzept der parteien kommt aus den standesstrukturen, wo die einzelnen sich verbinden gegen den rest.

    Zu 3). Kann ich eigentlich weglassen, weil es wohl kein offenes, fuer alle erreichbaren „Partei-Konzepte“ war.

    Zu 1). Der wichtigste punkt. Ich kenne keine einzige tragbare theoretische reflektion, die deine aussage unterstuetzt. Ich kenne (oder kannte) aber viele, die auf das gegenteil verweisen. Ich sage auch, dass ueberall dort, wo eine wirkliche transformation im interesse der allgemeinheit begann und sich formte, parteien keine rolle spielten und die transformation nur verhindern wollten.

    Parteien ruhen auf gruppen-egoismen und standesduenkel, reproduzieren elitaer pyramidale strukturen, weil sie anders nicht existieren keonnen, orientieren sich am ausschluss und abgrenzung, sind marktorientiert, wodurch sie das marketing, die werbung, aktivieren, folgen partikularinteressen und treiben diese partikularisierung voran, tendieren zur vulgaer propaganda, weil sie sich anbiedern wollen, verhindern die vielfalt und zuechten die monotonie.

    Wenn ihre akteure diesem alltaeglich von ihnen gefordertem marktgeschrei ueberdruessig sind, setzen sie immer auf staatliche zwangskonstruktionen und mafiose (heimliche) apparate, was letztlich in seiner offenen form dem faschismus seinen freien lauf gibt.

    Parteien ohne Staat gibt es nicht. Staat ohne Partei sehr wohl. Parteien sind immer staatsorientiert. Er ist ihr bezugssystem und reproduktionsfeld. Schon daraus sehen wir, dass der faschismus immanent in den parteien enthalten ist.

    Soziale transormationen, oft auch Revolutionen genannt, benoetigen keinen politischen ueberbau, weil sie ihre politischen prozesse aus den transformationsprozessen heraus gestalten. Parteien sind statische konstrukte aus dem Alten und sollen die kontinuitaet ins Neue(?) sicherstellen. Es sind grundsaetzlich und immer instrumente der verhinderung, der blockade, der aufloesung radikaler transformationen.

    Wenn ich nun das, was ich hier so einfach schreibe, in bezug setze zum „revolutionaeren theaterspektakel“ wie franzoesische Revolution, russische Revolution, bayerische Revolution (Raete Republik 1918), dann liegt fuer mich deren scheitern in den organierten gruppen-Egoismen begruendet. Und weil die akteure zumeist aus dem milieu der parasitaeren Mittelklasse, oft auch Intelligenzia genannt, sich rekrutieren, wird der soziale inhalt jeder transformation mit standesinteressen ersetzt. Aus den entstehenden und vorhandenen widerspruechen greift notwendig der zwang mit der gewalt um sich. Aus den geschichten der KPs/SPs koennen wir das gut nachvollziehen.

    Fidelpoludo hat es aus Portugal etwas nahe gebracht. Meinen grossen dank.

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    • kranich05 schreibt:

      Danke für den Link. Ja, ich meinte Sultan Galijew.

      Dass Du, Willi, meine Ablehnung des Anarchismus (Punkt 1) ablehnen würdest, war ja völlig klar.
      Diesbezüglich sind unsere Glaubenssätze grundverschieden und bleiben es.
      Ich bleibe schlichter Materialist, der Staat, Überbau, Politik und „Revolutionstheater“ nicht als Chimären betrachtet, die man sich „nur“ aus dem Kopf zu schlagen brauche (eine Deiner liebsten Empfehlungen), sondern die materielle Gewalten sind. So gut wie die Betonmnauer, vor Deiner Nase, die auch nicht verschwindet durch Wegwünschen.
      Die genannten Gewalten sind nicht gottgegeben und nicht ewig. Sie können überwunden werden aber nicht durch idealisches Hoffen oder Predigen.
      Ihre Überrwindung geschieht auf zwei Wegen – und nach aller Erfahrung IMMER ZUGLEICH auf diesen zwei Wegen: dem quantitativen, allmählichen und dem qualitativen, sprunghaften.
      Der quantitative, allmähliche Weg ist der der Erosion der Macht, ihr Brüchigwerden, im Idealfall bis dahin, dass sie „fast von selbst kippt“.
      Für die Erosion der Macht zu arbeiten, während sie noch stabil und ungefährdet ist, ist die Aufgabe unserer (nichtrevolutionären) Tage.
      In Wahrheit tut uns die erfahrene herrschende Klasse den Gefallen des (mehr oder weniger) Selbstumfallens nicht. Das behaupten Träumer, Scharlatane und Betrüger. Am Ende muss sie mit mehr oder weniger großer Energie/materieller Kraftentfaltung beseitigt werden.
      Die geistige Anforderung besteht darin, in nichtrevolutionärer Situation bei der nichtrevolutionären Aktivität (Genossenschaft, Tauschring, Konfliktverhütungsgruppe usw isf) die Notwendigkeit der revolutionären Kampfform, des unvermeidlichen Bruches mitzudenken.

      Das Du, Willi, es nicht nötig hast, irgend etwas zu Lenins Parteikonzept zu sagen (zu dem ich meine Position spezifisch formuliert habe) ist absolut folgerichtig.Sich auf Lenin einzulassen, verträgt sich absolut nicht mit Deinem Predigergestus.

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    • willi uebelherr schreibt:

      Jetzt eine antwort an Klaus-Peter direkt.

      In deinen texten sehe ich deutlich, dass fuer die die wirklichkeit nicht existiert. Erosionsprozesse werden irgendwie so angedeutet. Dabei scheint es wohl hauptsaechlich um die Erosion der Macht zu gehen. Und woraus nun entsteht die Macht?

      „Genossenschaft, Tauschring, Konfliktverhütungsgruppe usw“ werden zu nebenfeldern erklaert. Zu „nichtrevolutionären Aktivitäten“.

      Gegenstand der transformationen sind die materiellen lebensgrundlagen, die unsere basis unseres menschlichen Seins sind. Unsere „geistigen Anforderungen“ entstehen aus diesem feld. Das gilt nicht fuer den Ueberbau, weil er dafuer die Sklaverei kennt. Ihre akteure muessen sich darum nicht kuemmern. Hierfuer haben sie die privaten finanzkonstruktionen und den staat als gewaltinstrument zur sicherung privater aneignung gemeinschaftlicher ressourcen.

      Ich erinnere an meine definition revolutionaerer aktivitaeten. Sie dienen dazu, unsere evolutionaeren handlungsraeume zugaenglich zu machen. Wir entfernen die blockaden.

      Der parasitaere Ueberbau braucht aber diese blockaden. Er will ja die energetischen stroeme in seine gewuenschten bereiche lenken. Damit richten sich unsere „revolutionaeren Aktivitaeten“ notwendig gegen den Ueberbau, weil wir seine blockaden und umleitungen entfernen.

      Du erklaerst nun den Ueberbau zur realen Machtinstanz. Wenn deren akteure nichts zum essen haben, weil wir ihr wertloses geld nicht annehmen, dann wars das. Wir kennen ja den beruehmten satz: „Alle Raeder stehen still, wenn dein starker Arm es will“. Nur, wir wollen nicht alle raeder zum stehen bringen, sondern nur jene, die wir nicht brauchen.

      Die akteure des ueberbaus verstehen das sehr gut. So entstehen dann solche philistren begriffe wie „Industrie 4.0“. Sie traeumen davon, endlich unabhaengig von menschlicher wirksamkeit zu werden. Die alten traeume der eliten.

      Sie brauchen uns. Wir brauchen sie nicht.

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      • kranich05 schreibt:

        Ach Willi, Du wirfst mir vor, ich würde die Wirklichkeit nicht zur Kenntnis nehmen. Die wirkliche Wahrheit sei doch der starke Satz: „Alle Räder stehen still, …“
        Du halluziniert, dass die „Akteure des Überbaus“ nichts zu essen haben… „Wir“ brauchen uns nur zu entschließen, ihr wertloses Geld nicht anzunehmen.
        Wenn ich recht informiert bin, verhungern täglich rund 25.000 Menschen. Du kannst gewiss sagen, wie viel davon „Akteure des Überbaus“ sind.

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  3. fidelpoludo schreibt:

    Auch auf die „Gefahr“ (?) hin, zunächst uns auf der Ebene des – im Unterschied zum späteren Stalin – human-dialektisch denkenden Lenin etwas „nostalgisch-wehmütig“ uns gemütlich einzurichten und darauf zu beschränken, halte ich es dennoch für angebracht, noch einmal auf Lenins Würdigung eines Gegners hinzuweisen, die von Dir hier (leider muß ich noch lernen, wie man Links abgekürzt in den Text einbringt) https://opablog.net/2017/08/02/nachdenken-mit-lenin-gen-proschjan-zum-gedenken/ als „Gen. Peoschjan zu Gedenken“ nachzulesen ist.

    „Auf seine Art, nicht durch den Marxismus, nicht von der Idee des proletarischen Klassenkampfes aus ist dieser Mensch Sozialist geworden, und im Rat der Volkskommissare konnte ich bei der gemeinsamen Arbeit wiederholt beobachten, wie Gen. Proschjan sich entschlossen auf die Seite der Bolschewiki, der Kommunisten stellte, und nicht auf die seiner Kollegen, der linken Sozialrevolutionäre, wenn diese den Standpunkt der Kleineigentümer vertraten und sich zu den kommunistischen Maßnahmen auf dem Gebiet der Landwirtschaft ablehnend verhielten.“

    Wie diese Rede meinen früher geäußerten Verdacht einer gewissen psychologischen Naivität völlig auflöst, so zeigt sie mit dem Hinweis auf die „linken Sozialrevolutionäre“ auch wohl einen Ausschnitt des Mehrfrontenkampfes, den es ins Auge zu fassen und zu bestehen galt.
    „Der Subjektivismus der Volkstümler führte zu einem verhängnisvollen Fehler selbst der besten unter ihnen, die sich von dem Phantom einer ungeheuerlichen Macht, nämlich der des deutschen Imperialismus, blenden ließen. Ein anderer Kampf gegen diesen Imperialismus als durch Aufstände, und noch dazu unbedingt augenblicklich, ohne die objektiven Verhältnisse unserer und der internationalen Lage irgendwie zu berücksichtigen, erschien vom Standpunkt der Pflicht eines Revolutionärs als direkt unzulässig. Hier zeigte sich derselbe Fehler, der die Sozialrevolutionäre im Jahre 1907 zu unbedingten „Boykottisten“ der Stolypinschen Duma machte. Nur hat sich unter den Bedingungen heißer revolutionärer Schlachten der Fehler grausamer gerächt und Proschjan auf den Weg des bewaffneten Kampfes gegen die Sowjetmacht getrieben.“
    Lass uns bitte an Deinem Wissen teilhaben, indem Du etwas ausführst, was wir uns unter den „linken Sozialrevolutionären“ vorzustellen haben und warum Lenin „Aufstände – augenblickliche“ (gemeint sind wohl spontane) ablehnte. Höchstwahrscheinlich weil er sie integriert haben wollte in einen größeren strategisch-revolutionären Plan.
    Etwas irritiert bin ich außerdem durch Lenins Vorwurf des Nationalismus, dem er sich selbst ja vielleicht – ohne Absicht, aber nicht nur vom weiteren (stalinistischen) Schicksal der Revolution her betrachtet ausgesetzt sehen sollte, wenn er – um diesen „sozialistischen Gemeinplatz“ noch einmal aufs Tablett zu bringen – 1. die Revolution in einem „industriell zurückgebliebenen Land“ (zwei Revolutionen in einem Streich) durchzuführen, 2. diese Revolution dann gegen den Angriff des sie einzingelnden Imperialismus – „con­t­re cœur“ (gegen den eigenen Willen) – als letztens nationalistisch (man könnte es zuspitzen auf die These: „vorerst nationaler Sozialismus“ in Erwartung seines Umschlags in „universalen Sozialismus“: die Weltrevolution) zu verteidigen gezwungen sah. Das unter 1. gefaßte Risiko eingegangen zu sein, die Gelegenheit erkannt und sie beim Schopfe ergriffen zu haben – um da keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen -, halte ich für alternativlos (nicht zuletzt deswegen, weil wir uns heute darüber beugen und Lehren daraus ziehen können). Doch auch das erzwungene Beschränktbleiben auf eine gewisse „nationale Borniertheit“ des sozialistischen Projekts gehörte zum Risiko.
    Ich hoffe, dass Dir dazu einiges einfällt.
    P.S. (1): „Solypin“ – eine interessante Figur. Mich würde interessieren, ob sie von Lenin irgendwo in einer vergleichbaren Dialektik betrachtet wird wie Peoschjan.
    P.S. (2): Standpunkt der „linken Sozialrevolutionäre, wenn diese den Standpunkt der Kleineigentümer vertraten und sich zu den kommunistischen Maßnahmen auf dem Gebiet der Landwirtschaft ablehnend verhielten.“
    Mir scheint sich hier anzudeuten (wie bei Betrachtung der Politik Solypins), dass die Frage der Kleinbauern und des Primats der Besitzverhältnisse in der Landwirtschaft als eines, wenn nicht das zentrale Problem russischer Verhältnisse betrachtet werden müssen.

    Um WP zum Posten zu zwingen, kündige ich einen kleinen Zusatzkommentar zu Willi an.

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    • kranich05 schreibt:

      Keinesfalls sollten wir uns Lenins „nostalgisch-wehmütig“ erinnern. Er hat es genial beherrscht, Klassenverhältnisse bis ins Feinste zu differenzieren. Hat jemand ’nen sehr zwiespältigen Klassencharakter (nicht aus subjektivem Mangel, sondern aus objektiver Interessenlage), wie z. B. die Mittelbauern als kleine Warenproduzenten, dann konnte L. je nach konkreter Fragestellung sehr gegensätzliche Einschätzungen geben und politische Maßnahmen durchziehen.
      Dafür liefern die Getreidebeschaffungskampagnen der Jahre 18/19 schlagende Beispiele.
      Zu den linken Sozialrevolutionären später etwas mehr.

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  4. fidelpoludo schreibt:

    An Willi:
    Dass Lenin kein Staatsfetischist war, läßt sich belegen, alledings nur, wenn man antizipiert und akzeptiert, dass der Staat in veränderter Form (und zwar in wesentlich veränderter Form) weiterbesteht.
    “Jede Köchin muss lernen, den Staat zu regieren.” (Lenin)
    „Lenin erblickte die wichtigste Aufgabe der Partei in der Demokratisierung der Verwaltung: ‚Jede Köchin muss lernen, den Staat zu verwalten.‘ Es vollzieht sich ein anderer Prozess: Die Zahl der Verwaltenden hat sich nicht bis zu „jeder Köchin“ erweitert, sondern eingeschränkt auf einen Koch, und dazu noch einen Spezialisten in scharfen Gerichten. Das politische Regime wurde für die Massen unerträglich, ebenso wie der Name seines Trägers ihnen immer verhasster wird.“ (Trotzki)
    Das lese ich so: Eine „demokratisierte Verwaltung“ ist eine Variante der „demokratisierten Arbeit (Wirtschaft)“ und entspricht einer „Horizontalisierung“ aller Lebensbereiche, eigentlich der Tendenz nach eines Abbaus des Gegensatzes von Basis und Überbau.

    In der ZEIT hat Mathias Greffrath einen lesenswerten Kurzartikel verfaßt (http://www.zeit.de/1988/04/jede-koechin), der darauf hinweist, dass „das Wissen der Köchin“ (der Laien, des „Common Sense“) im Grunde gerade heute sich in entscheidenden Punkten dem detailversessenen Expertenwissen als überlegen erweist, aber nicht über die Macht und Durchsetzungskraft verfügt, Allgemeingültigkeit und allgemeine öffentliche Anerkennung zu finden:
    „Jede Köchin!“
    (22. Januar 1988, 7:00 Uhr Aktualisiert am 22. November 2012, 4:48 Uhr)
    (Hervorhebungen und nichtkursive Einfügungen sind von mir)
    „Es stimmt: Protestierende Laien erreichen nicht immer das Niveau von Experten. Ihre Kritik ist zudem oft pauschal: Ob es sich nun um Energielücken, Hunger in der Dritten Welt oder um Naturzerstörung handelt – immer behaupten sie, daß es sich um Probleme der Gesellschaft insgesamt handele. (…) Immer noch aber ist selbst die „naive“ Kritik auf der Höhe der Zeit. Und der großen Theorie: Seit der Formulierung der Quantenphysik nämlich wissen wir, grob gesprochen, daß die Naturwissenschaft keine „objektiven Gesetze“ entdeckt, sondern beschreibt, wie Natur unter bestimmten bekannten Bedingungen funktioniert. Wie diese gesellschaftliche Veranstaltung mit der Natur außerhalb des Laboratoriums wirkt, im unendlichen Weltall, darüber weiß die Wissenschaft oft wenig. Am Vorabend des ersten Tests in der amerikanischen Wüste bot Enrico Fermi, einer der Väter der Atombombe, Wetten an, ob die Explosion in einer ungeheuren Kettenreaktion die Atmosphäre in Brand setzt oder nicht. Er wußte es nicht.

    An diesem Abend spätestens starb das Expertentum. Seither gibt der common sense oft eine genauere Vorstellung von hochkomplexen Systemen als der unorganisch versammelte Sachverstand von Experten. (…) Menschen sind einfacher als ihre Apparate (vgl. Günter Anders zwei Bände über die „Antiquiertheit des Menschen“); es gibt Murphy’s Gesetz: die Natur ist unergründbar, und unsere Wirkungen auf sie sind, streng genommen, unkalkulierbar. Deshalb sollte man ganz generell vorsichtig sein. Das alles weiß der Laienverstand oft besser als die Sicherheitsausschüsse. Jede Köchin sollte den Staat regieren können, forderte einmal ein Politiker in längst vergessnen Zeiten. Lenins Köchin ist heute keine Utopie mehr. Die Lebenserfahrung und das Urteil der Köchinnen – unser aller Urteil also – ist zur letzten Hoffnung geworden. Viele kleine Quanten an Common Sense sind erforderlich, damit vielleicht der qualitative Sprung gelingt, der uns noch rechtzeitig auf die Höhe unserer Apparate bringt: kognitiv, moralisch und politisch.“
    Was Greffrath vergessen hat zu erwähnen, ist die „Kleinigkeit“, dass der wissende Laienverstand permanent angegriffen, unterminiert und verunsichert wird durch die Propaganda der elitehörigen Massenmedien. Da versagt sich der Common Sense den Durch- und Einblick in den möglichen Eingang zum „Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“.

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    • fidelpoludo schreibt:

      Wie sich herausstellt, sind doch neben den fetten die kursiven Einschübe von mir:
      „Erstens kommt es anders – und zweitens als man denkt!“

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    • willi uebelherr schreibt:

      Lieber Fidelpoludo

      „.. dass der wissende Laienverstand permanent angegriffen, unterminiert und verunsichert wird durch die Propaganda der elitehörigen Massenmedien.“

      Wir sollten uns nicht immer zu opfern degradieren. Dass die „Meinungs-Macher-Monopole“ existieren, liegt auch an uns. Und solange wir da nur zuschauen, wird sich auch nichts aendern.

      Aber Vorsicht. Die delegierung dieser tat an den ueberbau mit der erwartung auf einen vollzug wird das erhoffte ergebnis nicht zeigen.

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  5. fidelpoludo schreibt:

    Hallo Kranich (auf den Spuren des russichen Ibykus, respekive seiner Ideen),
    ich folge der von Dir gelegten (historischen) und bin bei „Stalinismus und Umgebung (3): Das Jahr 1923“ (https://opablog.net/2016/12/27/stalinismus-und-umgebung-3-das-jahr-1923/) angelangt, die ich insgesamt für sehr aufschlußreich halte. Stalin könnte sich als Timotheus entpuppen. Wer allerdings wird sich gezwungen sehen, ihn beim Namen zu nennen und sich als Komplize zu erkennen zu geben; und wie läßt sich der Schwarm der Kraniche verdichten und der Einzug der Eumeniden beschleunigen? Um das „Drama“ zu einem Ende zu bringen.
    Du schreibst ganz am Anfang:

    „Der Kampf um Lenins „Testament“, um sein Vermächtnis, ist ein wirkliches Drama. Das zu Schreiben bin ich leider nicht geeignet. (Dass Volker Braun es bereits geschrieben hat, bezweifle ich.)“

    Die Gründe für Deinen Zweifel nennst Du nicht. Stattdessen verweist Du auf eine eher „dünne“ Rezension. Ich bin dem angegebenen Link zu dieser Rezension einer Aufführung des Stückes („Lenins Tod“ von Volker Braun am Berliner Ensemble, Uraufführung, Regie Christoph Schroth, 1988; http://www.berliner-schauspielschule.de/lenin.htm) nachgegangen und stelle fest: Es ist noch nicht alles verloren. Denn 1. ist die Rezension einer Aufführung, als eine mögliche Aufführungsweise selbst schon Interpretation, keine endgültige Bewertung der Qualität des Dramentextes und 2. stellt diese Rezension eine gewisse Diskrepanz zwischen Text und Aufführung, zwischen Regie und zugrundeliegendem Text, bzw. gewisser seiner Ausdrucksformen fest. Hast Du Dir den Text selbst einmal angesehen?
    Es könnte sich also lohnen. Zumal Du der Kunst einiges zutraust. Vielleicht aber wäre auch eher Peter Weiß als Meister des dokumentarischen Theaters besser dafür geeignet gewesen. I’m not so sure.

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  6. willi uebelherr schreibt:

    Ich fasse hier meine antwort etwas zusammen, weil beide, Klaus-Peter wie auch Fidelpoludo, den kern der debatte, aufgreifen. Fiedelpoludo deutlich positiv im vergleich zu Klaus-Peter.

    Lieber Klaus-Peter, mir geht es nicht um einzelpersonen. Mir geht es primaer um moeglichkeiten der transformation, die sich in den verschiedenen situationen eroeffnen. Allerdings gibt es immer eine gemeinsamkeit: Wer ist der eigentliche akteur?

    Fuer dich die Partei, der Apparat, Deswegen werden deren diskurs-theater zum gegenstand. Fuer mich ist das voellig bedeutungslos. Relevant ist fuer mich nur, wie diese apparate auf das draengen, auf das bestreben zur veraenderung reagieren. Sie koennen die kraefte zur veraenderung unterstuetzen, buerokratische blockaden entfernen. Sie koennen allerdings auch sich ihrer ermaechtigen, sich zu ihren leit-hammels erklaeren, um dann ihre blockaden zu installieren.

    Lieber Fidelpoludo, ich danke dir sehr fuer den verweis auf die Lenin’sche Koechin. Ich weiss jetzt nicht, aus welcher zeit dies stammt. Habe auch den Zeit-text nicht gelesen.

    Problematisch ueberall ist, wenn wir die transformationsprozesse der bevoelkerung auf „Proteste“ verkuerzen und zum eigentlichen akteur die „Garde“ machen. Das ist die alte krankheit aus den feudalen verhaeltnissen, wo immer die eliten gewissermassen die akteure waren, bis sie dann am strick hingen. Da wars dann vorbei.

    Wenn wir transformationen unterstuetzen wollen, dann heisst das immer, ihre akteure zu unterstuetzen. Und um zu verstehen, wie wichtig diese transformationen sind, muessen wir teil ihrer akteure sein.

    Das dilemma finden wir generell im Ueberbau, der ja auch aus dem Alten kommt. Das Neue hat diesen ueberbau nicht, weil es dafuer keine notwendigkeit gibt.

    Wir finden generell zwei polare aktionsgruppen. Menschen, die sich dem ueberbau zuwenden, teil von ihm sein wollen, weil es ja privilegien ermoeglicht. Da gelten dann „Lehrbuch-Rezepte“ von einzelpersonen. Und jene, die aus den sozialen anforderungen heraus auf transformationen draengen. Dieses feld zum ausgangspunkt erklaeren

    Die erste erklaere ich zum statischen „Revolutions-Theater-Spektakel“. Die zweite zu den „KoechInnen“..

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    • fidelpoludo schreibt:

      Hallo Willi,
      „Das ist die alte krankheit aus den feudalen verhaeltnissen, wo immer die eliten gewissermassen die akteure waren, bis sie dann am strick hingen. Da wars dann vorbei.“
      Immer wieder neu und überraschend, mit welchen groben Maschen – oder sind es die fehlenden Stricknadeln? – Du Dir die Geschichte zusammen(s)trickst!
      ’s war eben bisher – „dann“ – nie vorbei! „Dann“ war es entweder nur ein kleiner Teil der Elite, der am Strick hing, weil er zu dumm war, sich rechtzeitig in Sicherheit und sein Schäfchen ins Trockene zu bringen, möglicherweise wurde er auch vom schlaueren Teil der Elite der ausgehungerten „Meute“ nur zum Fraß hingeworfen, um in aller Ruhe in der Zeit an einem neuen Eliteprojekt zu basteln, oder aber jedem gehängten Kopf der Ungeheuer wuchsen gleich mehrere neue nach, die aus der Erfahrung gelernt hatten, sich bis auf weiteres unaufhängbar zu machen, also nur mit anderen Mitteln zu erledigen sein würden.
      Du verkennst auch die Genügsamkeit der „Meute“, die nach ausgeschlafenem Rausch und leerer werdendem Magen schließlich dann doch wieder sich drängelnd auf jeden Krümel stürzten, der vom „Neuen-Projekte-Tisch“ der Neuen Elite teils achtlos herunterfiel, teils mit Bedacht verteilt wurde und wird. Nach Mausfelds Ausführungen ist die „repräsentative Demokratie“ als so ein – mit viel Bedacht – fallen gelassener Krümel zu betrachten.

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  7. willi uebelherr schreibt:

    Liebe freunde, passend zu unserem thema:

    Angst vor Russland, warum? Der genauere Blick auf die Putinschelte
    Kai Ehlers, 8.4.2018
    http://kai-ehlers.de/2018/04/angst-vor-russland-warum-der-genauere-blick-auf-die-putinschelte/

    Weltmacht im Wartestand? Oder: Angst vor Russland, warum?
    Kai Ehlers, 29.2.2009
    http://kai-ehlers.de/2009/02/weltmacht-im-wartestand/

    Suchergebnisse für „Angst vor Russland, warum?“
    http://kai-ehlers.de/?s=Angst+vor+Russland%2C+warum%3F

    Kai Ehlers, den bestimmt manche/viele von euch kennen, schreibt in den beiden ersten texten ueber das potential zur Autarkie in Russland. Das taucht ja viel zu wenig auf in unserer debatte, obohl es doch die ausgangsbedingung darstellt.

    Die Schetenin Schule in Sued-Russland, eine der fuer mich besten schulen auf diesem planeten, folgt ebenso diesem prinzip. Nur eben auf die personen angewandt. Die Europa-Schule von Jean Piaget hatte die gleichen ziele und grundlagen.
    Schetinin-Schule
    https://de.wikipedia.org/wiki/Schetinin-Schule

    Vielleicht hilft das, so ein bisschen abstand zu nehmen von den abstrakten strategie-debatten und uns mehr dem wesen der sache zuzuwenden.

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    • willi uebelherr schreibt:

      Ich habe den verweis auf einen interessanten text im kommentar von Kai Ehlers vergessen.

      Vorstellungen über Russland. Ein Gastbeitrag von Soldat Schwejk
      F. Luebberding, 7. März 2014
      http://www.wiesaussieht.de/2014/03/07/vorstellungen-ueber-russland-ein-gastbeitrag-von-soldat-schwejk/

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    • fidelpoludo schreibt:

      Lieber Willi,
      gleich der erste Text von Ehlers: „Angst vor Russland, warum? Der genauere Blick auf die Putinschelte“ – nicht schlecht, sogar gut. Aber: Du scheinst folgende Passagen überlesen zu haben, denn sie passen ganz und gar nicht in Dein sonstiges Argumentationsschema:
      »bei allem unvermeidlichen Zentralismus«
      »Nach innen ist das die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht. Stichworte dazu sind: Eine bürokratische Zentralisierung, eine Ausrichtung der Medien am nationalen Interesse und eine Disziplinierung der Oligarchen. Dazu kommt eine – wenn auch durch den Ölpreis gestützte – soziale Befriedungspolitik gegenüber der werktätigen Bevölkerung.«
      »Wird Putins Politik unter diesen Gesichtspunkten sachlich überprüft, dann lässt sich erkennen, dass er der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, der Russland wieder auf den Weg zu sich selbst und als Großmacht wieder ins globale Spiel gebracht hat.«
      Kaum irgendetwas, das „von unten“ erkämpft wurde, eher wohl passiv ertragen bis herbeigewünscht wurde und per Wahlzettel begrüßt wurde.

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  8. Theresa Bruckmann schreibt:

    Ich habe volles Verständnis dafür, dass Menschen,
    die im Sozialismus aufgewachsen sind, heute wissen
    wollen, was hätte anders laufen müssen, dass dieser
    Real-Sozialismus ein Erfolgsmodell geworden wäre.
    Umgekehrt habe ich mir auch nicht träumen lassen,
    dass uns der Fall der Mauer eine Kanzlerin bescheren
    würde, der das Grundgesetz so wenig bedeutet und
    uns geradewegs in eine undemokratische EU führen
    würde.
    Für mich gilt es deshalb heute, zu sehen, wie wir
    demokratische Verhältnisse (zurück) bekommen.
    Der Name für solche menschlichen, lebenswerten
    Verhältnisse ist mir dabei egal.

    Wenn wir Ingeborg Maus folgen und sagen
    Weimar war noch ein Wertepluralismus.
    Damit meint sie: es bestand das Primat Politik oder
    auch anders gesagt. Es gab noch keine Filter, einen
    Vorhalt/Vorbehalt, einen Flaschenhals, der nur
    durchließ, was zu einem Vorhalt passte.

    Mit dem -ungefilterten_ Wertepluralismus haben
    wir eine 100%-Marke für demokratische Verhältnisse.
    Diesen können wir zum Maßstab für Demokratie machen
    und an JEDE Organisation, Regierungsform anlegen.

    Nun können wir verschiedene Filter einführen,
    und sehen, was übrig bleibt an Möglichkeiten
    der demokratischen Mitwirkung der einzelnen
    Menschen.

    Nehmen wir einmal den Filter ‚Gemeinschaftseigentum
    an den Produktionsmitteln‘ und durchdenken die
    Folgen dieses Vorhalts/Vorbehalts, dann können
    wir sehen, wie Demokratie unter dieser Voraussetzung
    nur noch aussehen kann.

    Oder nehmen wir den Filter ‚Verstaatlichung der
    Schlüsselindustrien‘ und schauen, was dieser Filter
    durchlässt, bzw. wie der unsere demokratisch
    gefundenen Ziele und Entscheidungen beeinflusst.

    Natürlich lassen sich verschiedene Filter gleichzeitig
    (bildlich gesprochen hinter einander schalten) einfügen,
    etwa: ‚Gemeinschaftseigentum an den Produktionsmitteln‘
    und eine bestimmte Form des Wohnens und Zusammenlebens,
    eine bestimmte Form der Landwirtschaft, eine bestimmte
    Form der Energiegewinnung, eine bestimmte Form der
    Mobilität usf.

    oder den Vorhalt ‚Demokratisierung der Wirtschaft‘,
    was geht dann, was geht dann nicht mehr usf.

    So gewinnen wir für jede Organisationsform einen
    Grad an Demokratisierung, ohne dass wir uns
    wegen Theorien und Begrifflichkeiten in die Haare
    geraten.

    Diese Demokratie muss natürlich auch angenommen
    und gelebt werden, am besten direkt durch jeden
    einzelnen am Arbeitsplatz z.B. (Richard Wolff /
    Bontrup.

    Sind Volksvertreter oder Räte die ‚Agenten des
    Volksouveräns‘ haben wir dann eine Verengung
    der demokratischen Möglichkeiten, wenn diese
    nicht das ganze Meinungs-/Willensspektrum der
    Menschen abbilden.(Wenn es also keine verschiedenen
    Parteien mehr gibt, sondern wenn alle dasselbe vorhaben.
    Dann müssten sich einzelne Meinungen und Möglichkeiten
    ’nicht vertreten‘ fühlen.

    Im Falle einer Einparteien-Regierung oder Einparteien-
    Organisation bleiben ja die Wünsche und Vorstellungen
    der Menschen dieselben. Die Meinungsvielfalt muss sich
    dann im Streit und Gegeneinander innerhalb dieser Ein-
    heitspartei entladen.
    So erkläre ich mir den Zoff bis hin zur gegenseitigen
    Diffamierung und Bekämpfung dadurch, dass zuviel
    unter ein einziges ‚Dach‘ gepackt wird.

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    • fidelpoludo schreibt:

      „Wenn wir Ingeborg Maus folgen und sagen
      Weimar war noch ein Wertepluralismus.
      Damit meint sie: es bestand das Primat Politik oder
      auch anders gesagt. Es gab noch keine Filter, einen
      Vorhalt/Vorbehalt, einen Flaschenhals, der nur
      durchließ, was zu einem Vorhalt passte.

      Mit dem -ungefilterten_ Wertepluralismus haben
      wir eine 100%-Marke für demokratische Verhältnisse.
      Diesen können wir zum Maßstab für Demokratie machen
      und an JEDE Organisation, Regierungsform anlegen.“

      Mit dem „Wertepluralismus“ habe ich so meine Probleme, wenn er etwas anderes zu bedeuten hat als „Meinungsfreiheit“ oder „Meinungsvielfalt“. „Anything goes!“ kann er nicht meinen wollen, will er sich nicht selbst zur Disposition stellen. Wie kann so ein „Wischi-waschi-Begriff“ (‚tschuldigung!) verhindern, dass die wertige Parole „Schafft den Wertepluralismus ab!“ sich verbreitet. Oder „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen!“. Oder: „Jeder ist seines Glückes Schmied!“. Im Begriff des Wertepluralismus läßt sich eben alles unterbrigen – vom Besten bis zum Schlimmsten.
      Daraus ziehe ich den Schluß: Der „Wertepluralismus“ darf auf keinen Fall „ungefiltert“ sein, sondern fast im Gegenteil: Er muss nicht nur filtern, sondern dafür sorgen, dass z.B. die Interessen der Ärmsten, der Obdachlosen und Arbeitslosen – in gewissen Maßen auch der Straffälligen – auch dann Berücksichtigung finden, wenn sie diese selbst nicht mehr zu artikulieren fähig oder willens sind. Ich würde sogar noch weiter gehen und fordern: Sie stehen oben auf der Leiter eines Wertesystems, das wert hat und den Begriff „Werte“ ernst nimmt – nicht weil sie mehr wert wären als andere, sondern weil ihnen – immer und immer wieder – die Möglichkeit und die Gelegenheit gegeben werden muß, sich im Vergleich mit anderen (nur scheinbar wertvolleren) gleich viel wert zu sein und sich auch so (behandelt) zu fühlen. Jede Vernachlässigung dieser Priorität erweist sich für mich früher oder später als wertlos, unwert, politische Realität zu werden.
      Der oberste Wert ist nicht wertepluralistisch zu diskutieren, sondern er ist ein emphatischer Begriff von Menschenwürde – ohne jede Herablassung, Zugeständnis oder Abstufung. Er mag (radikal)christliche Wurzel haben. So sei es denn.

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      • Theresa Bruckmann schreibt:

        Wertepluralismus wäre ‚Wischi-Waschi‘, wenn alles gelten würde, es also kein demokratisches Verfahren gäbe, in welchem der Volkes-Wille gefunden würde.
        Wenn aber alle Wahlberechtigten die Möglichkeit haben, ihre Meinung und damit
        ihre Stimme für das abzugeben, was ihnen wichtig ist, dann würde sich doch aus
        dem Wertepluralismus heraus eine optimale – also der Mehrheit der Bürger entsprechende Politik ergeben.
        Der Wertepluralismus ist die ganze Fülle der Möglichkeiten. Das demokratische Verfahren schließt aus, und nicht etwa ein willkürlicher (Interessen geleiteter) Filter.
        Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?
        Ich meine aus allen Möglichkeiten ergibt sich eine für die ganze Gemeinschaft gefundene Zielsetzung, die natürlich keine Beliebigkeit ist, sondern aus allem wird das Beste gefunden.

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  9. fidelpoludo schreibt:

    Hallo Theresa,
    sehr interessanter Einwurf, das! Ich möchte ihn zum Anlass nehmen, unseren Kranich (Hallo Kranich!) – auf den wir in dieser Hinsicht alles abwälzen, da er ja (nicht seinen Mehrwert, sondern) sein Mehrwissen weniger „geoutet“ hat, als es nicht verhehlen konnte – nach einer Beschreibung des Leninschen Rätemodells zu befragen. Und nach seinem Überblick über die Forschung zur Idee der „Rätedemokratie“:
    — Gibt es Modifikationen/Varianten des Leninschen Modells?
    — Können weitere praktische Erfahrungen damit (Jugoslawien etc.) seriös beurteilt werden – in Anbetracht der Tatsache, dass sie sich bisher immer im Rahmen einer feindlich gesinnten kapitalistisch dominierten Umwelt zu behaupten hatten?
    — Ist eine Art von Minderheitenschutz in diesem Modell angedacht, bzw. als Problem thematisiert worden?
    — Ist eine Einparteienherrschaft unweigerlich damit verbunden?
    — Sind lateinamerikanische Experimente damit in einen aufschlußreichen Zusamenhang zu bringen (Hallo Willi!)?
    — Ist es nicht im Grunde eine „urkommunistische“ Idee – jahrhunderte lang schon praktiziert („Rat der Weisen!), die u.a. selbstverständlich ihrer feministischen Erweiterung bedarf?
    — Sind die zahlreichen Genossenschaftsformen, Kooperativen, Selbsverwaltungen, Mitbestimmungsinitiativen, „worker cooperatives“ (Richard Wolff) schon auf einem viertel bis halbem Weg dahin oder dort schon stecken geblieben – und wenn ja, aus welchen Gründen?

    Vielleicht hat jemand (Hallo Lutz!) Lust, den Fragebogen noch um wichtige Fragen zu erweitern, da es sich ja auch um rechtliche und Recht sichernde Fragen dabei handelt.

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  10. fidelpoludo schreibt:

    Hallo Kranich,
    was würdest Du zu dem folgenden spekulativen Versuch einer historischen Feststellung sagen, dass Lenin mindestens zweimal verraten wurde:
    1. durch die „kaiserlich deutsche Sozialdemokratie“ (der also nich nur Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg zum Opfer fielen) und
    2. eben durch Stalin (dessen Verrat sich entscheidend aus dem ersten begründen ließe).

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  11. fidelpoludo schreibt:

    Hallo Leute,
    vielleicht sollten wir unsere Perspektive ein Stückchen verschieben und nicht so sehr auf die Person Lenins uns konzentrieren, sondern auf das, für was er steht?
    Wäre „Rätedemokratie“ das Entscheidende? Hier brauchen wir wieder den Kranich.

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  12. fidelpoludo schreibt:

    Hallo Willi,
    ich nehme den größten Teil, nicht alle, meiner Einwände zurück, nachdem ich den äußerst erhellenden zweiten Essay von Kai Ehlers „Weltmacht im Wartestand – ? Oder: Angst vor Russland, warum? Eine Bestandaufnahme jenseits von Putin; http://kai-ehlers.de/2009/02/weltmacht-im-wartestand/ gelesen habe: Ich gebe zu, ihn in der Absicht gelesen zu haben, weitere Beispiele für russischen Bürokratismus und Zentralismus zu finden und sie Dir „um die Ohren zu hauen“. Die habe ich auch gefunden. Was ich dann aber fand: die Herausarbeitung des „russischen Sonderweges“ als Weiterverfolgung und Kontinuität eines uralten hybriden Gemisches, in dem „Autarkie und Autokratie“ „untrennbar miteinander verbunden“ sind, das sich „tief in die geo-soziologische Struktur des Landes und in die Mentalität seiner Bewohner/innen eingrub“, hat mich schwer beeindruckt:
    „Kapitalisierung des Gemeineigentums unter Führung der bolschewistisch erneuerten Bürokratie“,
    bei der sich „im Kern die Strukturen der Zarenzeit auf neuem Niveau wieder“ herstellten „: keine Selbstverwertungsdynamik privaten Kapitals, Herrschaft nicht durch Geld, sondern durch zentral vorgegebene Ziele – bei gleichzeitiger technischer Modernisierung der Gesellschaft“.

    Beim zurückhaltenden Lob Putins fehlt mir allerdings eine angemessene Kritik an dessen (ehrlichen oder rein taktischen) Orientierung an der Autorität der russisch-orthodoxe Kirche (und deren autoritärem Habitus), von dem selbst die russischen Think-Tanks sich kaum zu distanzieren wagen.
    Meine wohl zu umfangreich geratene Zitatensammlung setzt also erst ein mit den Zentralismus, Bürokratie und sonstige Bevormundung anzeigenden Stellen, um dann dazu überzugehen, die das mir Neue in einem Zusammenhang zu zitieren, wie es mir angemessen erschien:

    „Nach innen ist es die Konsolidierung einer neuen herrschenden Schicht; Stichworte dazu sind die bürokratische Zentralisierung, die sich in der Einrichtung einer zentralisierten Kommandostruktur unter Leitung des Präsidialamtes gleich nach Putins Amtsantritt zeigte. Es ist die Ausrichtung der Medien, insonderheit des TV am nationalen Interesse, die im Westen als Abschaffung der Medienfreiheit wahrgenommen wurde, und schließlich die Disziplinierung der Oligarchen. (…)

    Die Konsolidierung der neuen politischen Klasse ist noch nicht perfekt, reicht aber offensichtlich soweit, dass alte und neue, wie man in Russland sagt, Eliten sich darauf geeinigt haben, den Kampf aller gegen alle, der mit der Privatisierung Ende der 80er in den herrschenden Kreisen Russlands und zwischen Moskau und den Regionen Eurasiens ausgebrochen war, zugunsten der Verwaltung eines Rahmens einzuschränken, der die gemeinsame Ausbeutung des Landes ermöglicht. (…)

    Ungeachtet der Tatsache, dass das so Gewonnene durch Privatisierung kommunaler Leistungen und Inflation für die Mehrheit der Bevölkerung sogleich wieder zerrann (…)

    Neue Militärdoktrin seit 2002

    Putin in München: (…) der Herrschaftsanspruch der USA habe mit Demokratie nichts gemein (nun ja, seine auch nicht!)

    Diese Entwicklung gibt Grund genauer hinzuschauen, woraus die potentielle Autarkie hervorgeht, aus der Russland seine neue Kraft schöpft: Sie entsteht aus der außergewöhnlichen Kombination von extremem natürlichem Reichtum – Weite, Größe, Vielfalt – und ebenso extremen Härten, die aus denselben Bedingungen resultieren: 11 Klimazonen von extremer Hitze bis zu extremer Kälte, Weglosigkeit, Völkergemisch. Das sind Bedingungen, die nur im engen Zusammenwirken von Gemeinschaften bewältigt werden konnten, sie haben eine Kultur gemeineigentümlich wirtschaftender Dörfer unter einheitlicher zentralistischer Führung hervorgebracht. In dieser Kultur hat sich im Unterschied zur westlichen, in welcher die frühere Gemeinwirtschaft durch eine private Eigentumsordnung abgelöst wurde, kein Privateigentum an Produktionsmitteln herausgebildet.
    Sofern doch, waren es regionale Ausnahmen wie Sibirien, wie der Süden Russlands oder es waren vorübergehende Erscheinungen wie jene am Ende des 18. und im Verlauf des 19. Jahrhunderts, als aus den dörflichen Strukturen private Industrie entstand. Ihre privaten Rechtsformen wurden jedoch mit der Revolution von 1917 schon wieder beseitigt.
 Im Ergebnis hat man es im alten Russland mit einer Organisation des Lebens zu tun, die Karl Marx und Friedrich Engels seinerzeit im Gegensatz zur europäischen Entwicklung als „asiatische Produktionsweise“ bzw. auch als „agrarische Despotie“ charakterisierten. Autarkie und Autokratie sind darin untrennbar miteinander verbunden. Die Moskauer Zaren waren Beschützer und Ausbeuter der sich selbst versorgenden Dörfer, deren Selbstverwaltung zugleich Basis der Verwaltung des Zaren wurde. Es entstand die Struktur: Zar – Dorf, Schatzbildung in Moskau, autonome Versorgung im Lande, die sich tief in die geo-soziologische Struktur des Landes und in die Mentalität seiner Bewohner/innen eingrub. Es entstand kein Lehen, sondern ein jederzeit kündbarer Dienstadel, kein individuelles Eigentum, sondern Kollektivbesitz, keine vermögende, handlungsfähige Mittelschicht, keine Urbanität, kurz, was nicht oft genug wiederholt werden kann: keine Dynamik eines sich selbst verwertenden Kapitals. Marx und Engels kamen deswegen zu der Einschätzung, dass die russische Gesellschaft einen anderen Weg gehen werde als die europäische, sich aber nur im Zusammenhang mit einer Revolution in Europa weiter entwickeln könne.
 In der Tat: Krisen gingen über das Land ohne diese Grundbeziehung von Zentrum und Dorf in Frage zu stellen. Selbst wo versucht wurde die Grundstruktur der kollektiven Selbstversorgung anzutasten, wie unter Nikolaus II. Anfang des 20. Jahrhunderts, kam das Gegenteil zustande. Sein Ministerpräsident Stolypin scheiterte am bäuerlichen Widerstand; auch die Bolschewiki, die das Land danach gewaltsam industrialisierten, machten doch die gemeinschaftliche Selbstversorgung zugleich zur Grundeinheit des Staates, überwacht von einem wiederhergestellten Zentralismus. Unter Stalin steigerte sich der agrarische so zum industriellen Despotismus.
 Was zwischen 1905 und 1930 geschah, war aber dennoch kein Aufschließen zum Kapitalismus nach dem Etappenmodell von Marx und Engels – Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalismus, Kapitalismus, Sozialismus. Die sowjetische Gesellschaft übersprang nicht etwa den Kapitalismus, um gleich zum Sozialismus überzugehen, sie entwickelte vielmehr eine andere Art der Kapitalisierung, nämlich eine Kapitalisierung des Gemeineigentums unter Führung der bolschewistisch erneuerten Bürokratie. Das geschah als Kollektivierung der Landwirtschaft, als Organisation kollektiven Lebens rund um die Betriebe und Institute, als Erneuerung der Einheit von Selbstherrschaft und Dorf in der Form von Parteiführer und Volk, indem Gemeineigentum als Staatseigentum definiert wurde. Im Kern stellten sich die Strukturen der Zarenzeit auf neuem Niveau wieder her: keine Selbstverwertungsdynamik privaten Kapitals, Herrschaft nicht durch Geld, sondern durch zentral vorgegebene Ziele – bei gleichzeitiger technischer Modernisierung der Gesellschaft.
    
Für den Ablauf russischer Modernisierungsschübe heißt dies alles: Es gelten offensichtlich Regeln, die sich nach drei Phasen gliedern: Phase eins: eine lang andauernde Stabilität endet in Stagnation. Phase zwei: Chaos tritt ein, eine „verwirrte Zeit“, russisch: Smuta, Zerfall der herrschenden bürokratischen Schicht. Phase drei: Wiederherstellung des Konsenses dieser Schicht auf neuem technisch-zivilisatorischem Niveau. Die Grundstruktur: Zentrum – Peripherie bleibt erhalten.
 Vor dem Hintergrund dieser Regeln werden die heutigen Abläufe besser erkennbar:
    (Ich kürze, weil es sonst zu lang wird – ist ja schon lang genug)
    Die Restauration des Staates unter Putin war der konsequente nächste Schritt (…) Auch für ihn galt: Nicht Nachvollzug westlicher Produktions- und Lebensweise, sondern Effektivierung der russischen Gesellschaft mit Anleihen aus dem Westen, der gemeinwirtschaftlichen Ordnung mit Elementen des Privatwirtschaft. Was dabei herauskommen wird, ist selbstverständlich offen – auf keinen Fall aber eine einfache Übernahme des uns bekannten Kapitalismus. (…)
    Klar gesprochen: Russland wird sich nicht in eine von den USA und der EU-beherrschte Globalisierung eingliedern, es wird seine „Sonderrolle“ nach wie vor wahrnehmen, was nichts anderes bedeutet, als für die Länder, die wie es selbst von der asiatischen Produktionsweise herkommen, eine Impuls- und Führungsrolle gegen den unipolaren Herrschaftsanspruch der USA und für eine multipolare kooperative Weltordnung einzunehmen. Russland kann sich diese Rolle leisten, solange es die Quellen seiner doppelten Autarkie – natürliche Ressourcen und Fähigkeit zur Selbstversorgung – schützt und entwickelt. Jede „Liberalisierung“ des Welt-Ressourcenmarktes dagegen wie auch jede Verdrängung und Zerstörung der traditionellen Selbst- und Eigenversorgungsstrukturen durch forcierte Fremdversorgung und „Monetarisierung“ im Lande selbst schwächen und seine Identität tendenziell zerstören. Erfolg oder Misserfolg russischer Politik, innen- wie außenpolitisch, misst sich an diesen Vorgaben. (…)
 Wird Putins Politik daran überprüft, dann lässt sich erkennen, dass er der richtige Mann zur richtigen Zeit am richtigen Ort war. Die Restauration staatlicher Grundelemente, die er durch seine Reformen von oben einleitete, war unausweichlich.
    Putins Ansatz, das Land durch eine Reform von oben zu modernisieren, findet seine Grenzen in sich selbst, insofern die Gefahr besteht, dass die Entwicklung von Initiative aus der Bevölkerung durch die unter Putin entstandenen Formen der „gelenkten Demokratie“ nicht gefördert, sondern eher gebremst werden. Für die Wiederherstellung rudimentärer sozialer Funktionen des russischen Staates war die Phase der putinschen Restauration zweifellos unumgänglich, für die Zeit nach Putin stellt sich jedoch die Frage, wohin der von Putin beschworene innovative Entwicklungsweg führt, ob der in seiner Amtszeit geschaffene Rahmen die Entstehung neuer Initiativen von unten zulässt, die traditionelles Gemeinschaftsdenken und die Impulse neuer individualisierender Selbstbestimmung so miteinander verbinden, dass sie einer einseitigen, autoritären Ausrichtung der russischen Gesellschaft an den Interessen ausländischer und inländischer Investoren von unter her aktiv entgegentreten. Ansätze dazu hat es mit den massenhaften Protesten von 2005 gegeben, in denen Rentner, Studenten und andere die Absicht der russischen Regierung vereitelten, kommunale und soziale unentgeltliche Dienstleistungen und bestehende materielle Vergütungsstrukturen in Geldbeziehungen nach WTO-Vorgaben umzuwandeln. Neue Anläufe zur Monetarisierung sind aber bereits von der Regierung beschlossen. Ihre Umsetzung ist nach den Wahlen 2007/2008 geplant. In den zu erwartenden Auseinandersetzungen darum wird sich zeigen, ob Russland tatsächlich auf ein neues Niveau der Entwicklung kommt, das Sowjetismus und Kapitalismus gleichermaßen hinter sich lässt, anders gesagt, ob es eine Symbiose aus modernen Formen der Industriegesellschaft und Erhaltung, bzw. Weiterentwicklung der Selbstversorgung zu entwickeln imstande ist.“

    Selbstverständlich dürfte der Kranich diesen Artikel kennen und seine Meinung dazu haben, die mich wirklich interessieren würde.

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    • willi uebelherr schreibt:

      Ja, lieber Fidelpoludo, ich weiss, wenn wir von aussen ueber Russland denken, dann denken wir immer an verfaulte buerokratie, an feudale oligarchie. Das ist tief in unsere hirne eingepraegt. Und bei Kai Ehlers sehen wir es auch. Das hat damit zu tun, dass wir uns von der konkretheit trennen und in die wolken der abstraktion fluechten. So, wie wir es auch bei uns selbst taeglich tun.

      Die rede von Herrn Putin am 1.3.2018 in ihrem ersten 2/3-teil ist dafuer gut geeignet.
      Presidential Address to the Federal Assembly
      http://en.kremlin.ru/events/president/news/56957

      Dieser 2.text von Kai Ehlers, damals 2009, ist etwas anders, weil er das potential beschreibt, das in diesem grossen geografischen raum existiert. Und es zeigt uns etwas die inzwischen grossen differenzen zu West-Europa, wo die privatisierung des landes im 12. jahrhundert in England begann. 300 jahre auch die privatisierung des Wissens.

      Die europaeische kultur nennt sich ja auch christliche kultur. Aber das wesen ist hier der raub. die zerstoerung des wissens, die unterwerfung unter pyramidale strukturen, die vernichtung all dessen, was nicht hineinpasst. Wir koennen das heute bei der monotonisierung der informationsfluesse ueber schule, universitaeten und medien sehr gut sehen. Und Skripal und Douma sind doch ausgepraegte beispiele der verrottetheit in West-Europa.

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    • willi uebelherr schreibt:

      „Beim zurückhaltenden Lob Putins fehlt mir allerdings eine angemessene Kritik an dessen (ehrlichen oder rein taktischen) Orientierung an der Autorität der russisch-orthodoxe Kirche (und deren autoritärem Habitus), von dem selbst die russischen Think-Tanks sich kaum zu distanzieren wagen.“

      Mein lieber Fidelpoludo, du lebst doch nicht im luftleeren raum der beobachtung dessen, was andere irgendwo anders tun. Schau dich doch erstmal in deiner eigenen umgebung und in deinem eigenen tun um. Um diesen schwachsinn zu organisieren, da muesste sich aber Herr Putin maechtig anstrengen.

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    • willi uebelherr schreibt:

      Herr Putin mischt sich in die lokalen/regionalen entscheidungsraeume nicht ein. Er ueberlaesst es den menschen selbst, sich zu organisieren. Er schlaegt prinzipien und kriterien vor, die gewissermassen universal gelten.

      In den regionalen strukturen agiert der parasitaere buerokratische mittelbau, die gekaufte „Intelligenzia“, all die vielen Dollar-Junkies. Aber wenn die menschen dies zulassen, was soll er tun?

      Was konnte Hugo Chavez gegen diesen schwerfaelligen apparat in den regionen tun, wo nur der egoismus kultiviert wird? Und die bevoelkerung sich wie schafe durch die gegend treiben lassen.

      Hier geht es immer um tief verwurzelte prozesse der „freiwilligen Unmuendigkeit“, der autoritaetshoerigkeit. Das war auch in meiner jugendzeit so. Und wenn wir etwas tiefer graben, dann finden wir es auch bei uns. Der hinweis von Klaus-Peter zum Anarchismus, wobei ich nicht weiss, was er damit transportieren wollte, zeigt seine sklavische selbstunterwerfung unter das diktat des politischen ueberbaus. Es ist tief in seinem denken verwurzelt. Uber jahrzehnte konditioniert.

      Die „Ermaechtigung zur Selbst-Organisation“ klingt ja fuer manche wie Haeresie der christlichen inquisition. Das darf es nicht geben, egal, worum es da eigentlich geht.

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      • fidelpoludo schreibt:

        Es tut mir leid! Die Verweise auf Putin und Chavez zeigen doch nur immer und immer wieder: Eine „herausragende“ Führerfigur soll für die „Ermächtigung der Selbstorganisation“ stehen, steht am Ende aber davor, wenn nicht dagegen. Sie führen – wenn überhaupt – Ideale im Munde und handeln ganz anders: Ein im Westen sehr verbreitetes Propagandamuster.

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  13. willi uebelherr schreibt:

    Theresa bringt es auf den punkt. Sie stellt die frage, „Wie wollen wir leben“. So generiert sie fuer sich ein modell, wie sie ihre visionen und perspektiven mit der wirklichkeit in beziehung setzen kann. Allerdings verhadert sie sich sofort, wenn sie sich auf Parteien einlaesst.

    Zugrunde liegen ja Lebensinteressen. Und so weit auseinander sind sie ja nicht. Die trennung beginnt, wenn sich Egoismen durchsetzen. Wenn also kooperative lebensformen, die ja immer existieren, fuer einzelne individuelle interessen missbraucht werden.

    Ich habe natuerlich auch die schatten von Kai Ehlers erkannt und kenne sie schon lange. Aber in diesem text laesst er sein reaktionaeres, „westlich“ orientiertes denken, etwas zurueck. In anderen texten ueberschwemmt es alles.

    Wir sehen heute, wie die innere stabilisierung in Russland und der russischen foederation den raubkrieg gegen Russland geradezu hervortreibt. Die alten perspektiven um die kontrollierte uebernahme der „Pivot-Region“, der zentrale eurasische Raum, sind immer die treibenden kraefte.

    Diesen imperialen interessen stehen die lebensinteressen der menschen entgegen. Auf der grundlage globaler kooperation eigenstaendiger geografischer entitaeten kann sich die verwirklichung der lebensinteressen entfalten. Aber diese globale kooperation setzt frei handelnde entitaeten vorraus. Und an dieser stelle beginnen unsere eigenen probleme in West-Europa.

    Wir kommen also nicht daran vorbei, selbst erstmal erwachsen zu werden und den kindergarten des politischen ueberbaus zu beenden. Dein hinweis, lieber Fidelpoludo, erst mal die personen zu transzendieren und danach schauen, was dahinter sich verbirgt, ist ja wirklich richtig und draengend. Solange wir in den formalen kisten wuehlen, wie es Klaus-Peter tut, kommen wir nicht in den raum aktiver transformationen.

    Geschichte kann uns nur helfen, wenn wir ihre materiellen und ideellen prozesse in verbindung bringen. Wenn wir also danach fragen, welches Sein welche Ideen hat entstehen lassen, die dann das Sein transformieren und vor allem wohin.

    Viele hier kommen aus der DDR. Sie kennen die denkprinzipien und ihr wesen. Sie verstehen also Angela Merkel und ihren apparat wohl viel besser wie wir aus dem westlichen teil. Bei Heiko Mass sehen wir den norddeutschen elitaer buerokratischen apparat der SPD. Das sind die verschiedenen konditionierungsraeume.

    Nur, was nuetzt es uns, wenn wir dies besser verstehen im nach- oder rueckblick, wenn wir selbst heute dem gleichen, den tiefen mustern, unterworfen sind. In der debatte um Lenin und Stalin geht es nur noch um apparate und deren akteure. Und das meiste davon sind spekulative interpretationen.

    Oft und immer wieder wird festgestellt, dass menschen mit grossen zielen und formalisierten idealen in der wirklichkeit des politischen ueberbaus auf die anforderungen der kapitalverwertung gestutzt werden. Und ich bin sicher, dass es uns selbst genauso ergehen wuerde.

    Wir kommen aus diesem dilemma nur heraus, wenn wir den politischen ueberbau erstmal bewusst zur seite legen. Ob die menschen ihn dann brauchen und gestalten oder wir selbst ist erstmal nebensache.

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    • fidelpoludo schreibt:

      Hallo Willi! Du schreibst:

      „Ich habe natuerlich auch die schatten von Kai Ehlers erkannt und kenne sie schon lange.“

      Da brauchte ich noch Nachhilfe, weil ich von ihm nur die beiden Aufsätze kenne. „Schatten“ sind mir nicht aufgefallen, wahrscheinlich weil mir eine eingehende Kenntnis russischer Verhältnisse und Geschichte fehlt. Was Du vielleicht als meine bei ihm bemerkten Schatten interpretierst, waren nur seine realistischen Hinweise darauf, dass mit Putin und mit der Existenz von Oligarchen sich ein sehr spezieller Umgang mit den selbstverwaltenden, uralten wie sich am Leben erhaltenden und zu einer gewissen Veränderung gezwungenen Strukturen in Russland herausbildet, deren Überleben Putin einerseits zu respektieren scheint (wie damals auch die Bolschewiki), deren weiterer Durchsetzung er mit seiner Machtfülle – wie der der Oligarchen (auch wenn Putin die auf ein gewisses Maß beschneidet) – er jedoch im Wege steht. Und ich sehe kaum bei Putin, dass er seine Selbstabschaffung (bzw. der Struktur des Überbaus, für die er steht) ins Auge gefasst hat. Was ich allerdings für absehbare Zeit auch nicht nur nicht für wünschenswert, sondern sogar für selbstzerstörerisch halten würde, solange das Ende des Imperiums noch nicht in trockenen Tüchern ist.

      Auf jeden Fall haben Deine Hinweise auf Kai Ehlers meinen Blick auf Russland entscheidend erweitert und ich warte immer noch auf des Kranichs Stellungnahme dazu, dem ich eine weitreichende Kenntnis russischer Verhältnisse und Geschichte unterstelle.

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      • Theresa Bruckmann schreibt:

        Danke Fidelpoludo,
        da frage ich am besten mal ganz konkret:
        „Worauf genau müsste ich verzichten, wenn ich nach Russland auswandern wollte?“
        Ich denke nur so bekomme ich eine ausreichend genaue Beantwortung dieser Frage.
        Was die Sorge um die russischen Staatsbürger im Ausland angeht, sagt mir mein Bauchgefühl, würde mich die russische Staatsbürgerschaft mindestens so gut wie meine deutsche schützen.
        Aber welche Rechte und Pflichten hätte ich denn im heutigen Russland?

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        • fidelpoludo schreibt:

          Liebe Theresa, ich glaube, ich habe genügend zum Ausdruck gebracht, dass ich mich für „Russland-Fragen“ nicht für kompetent genug halte, um derartige Fragen zu beantworten.
          Nur eins: Von nicht wenigen der zahlreichen materiellen Privilegien, die uns durch die Ausbeutung der Dritten Welt quasi zufallen, dürften wir Abschied nehmen müssen, da Russland, wenn überhaupt, da weit weniger erfolgreich war als „wir“.

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  14. Lutz Lippke schreibt:

    Heute gab es bei scobel eine Sendung zu Karl Marx.
    https://www.3sat.de/page/?source=/scobel/196664/index.html

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    • fidelpoludo schreibt:

      Danke für den Hinweis. Habe schon weit schlechtere Sendungen über Marx gesehen. Der Lenin-Sekunden-Abschnitt war allerdings unter aller Sau. Der Begriff der Entfremdung wurde eindrucksvoll abgehandelt. Dagegen fehlte der Begriff der Ausbeutung ganz. So blöd wie ich den Scobel oft gefunden habe, so einigermaßen clever hat er sich doch dieses mal als Organisator und Moderator dieses Beitrags aus der Affaire gezogen.
      Übrigens war ich mit einem der Herren in meiner Studentenzeit eine Zeit lang befreundet. Mit Michael Quante. Lang, lang her.

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  15. fidelpoludo schreibt:

    Hallo Kranich!

    Was das mit „Lenin-/Stalinfragen“ zu tun haben soll? Sehr viel:
    Denn auch in dem heute gespielten Song „Joe Hill“ lebt Lenin weiter bzw. Lenin sang seine Lieder nach dessen Tod weiter – ohne ihn wahrscheinlich persönlich gekannt oder von ihm gehört zu haben.
    Und selbst in Stalin lebt Lenin weiter als unerlöster obzöner Geist, dem es nicht gestattet ist,
    würdig bestattet zu werden. Auch Trotzkis Träume von Lenin weisen in die gleiche Richtung.
    Lenin wartet auf seine würdige Beerdigung, für die wir verantwortlich zeichnen.

    Darüber später mehr.

    „to make your day“ – oder zumindest einen etwas größeren Teil als mit Bruce Speingstees Version –
    hier eine Version der Dubliners, die Deinem Geschmack besser entsprechen dürfte:

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