Kommt! Ins Offene, Freunde! – zweiter Schritt

Die Banalität des Guten

Die Bedeutung der Vergangenheit

Die Pornographie des Horrors

Humanismus vs. Tribalismus

Ein furchtloser, acht-teiliger Austausch zwischen der deutschen linken Stimme Clara S. und dem ex-israelischen Jazz-Künstler Gilad Atzmon, bei dem sie tief in Themen wie Israel, Palästina, den Holocaust, Frieden und Wahnvorstellungen, links und rechts, die Bedeutung der Vergangenheit und unsere Zukunftsaussichten im Kontext der gegenwärtigen identiäteren Dystopie eintauchen.

 1. Erwachsenwerden

2. Ist das Opfer selber schuld?

3. Geschichtsschreibung als Prozess

4. Antisemitismus, Rassismus und kulturelle Identität

5. Prä-traumatisches Belastungssyndrom, Zionismus und Imperium

6. Jüdische Macht und Identitätspolitik

7. Globale Stammesverbände und nationaler Überschwang

8. Auf der Suche nach dem Weg nach Hause

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2. Ist das Opfer selber schuld?

Clara: Und plötzlich haben wir das Jahr 2014, ein anstrengendes Arbeits- und Familienleben liegt hinter mir, bei dem ich versucht habe, meinem moralischen Kompass treu zu bleiben – nicht als Aktivistin, nur mit dem Versuch, meinen Standards zu genügen – und auf einmal, hundert Jahre nach Ausbruch des ersten Weltkrieges, ist Russland wieder der Feind, Nord Afrika und der Nahe Osten liegen im Chaos und im Jahr 2015 ergießt sich auch noch eine riesige Flüchtlingswelle in unser Land. Und mitten im Propagandakrieg fühle ich mich zutiefst angegriffen, nicht nur in Bezug auf meine ethischen Grundsätze sondern auch in meinen Fähigkeiten als kohärent und logisch denkende Intellektuelle.

Und Israel bombardiert den Gazastreifen. Als ich sah wie am Strand spielende Kinder getötet wurden, war ich wieder schockiert. Aber man sagte mir, ich müsse akzeptieren, dass diese Menschen ihr Schicksal selbst herbeigerufen hätten, indem sie ihre Kinder als menschliche Schutzschilder einsetzten. Hatte ich das nicht schon einmal gehört? Hatten die Nazis nicht auch gesagt, dass die Juden den Tod verdient hätten, weil sie so viel Unglück über die Welt gebracht hatten?

Und Du hast mir gerade erzählt, dass die Überlebenden von ihren Mitbürgern ähnlich behandelt wurden.

Deswegen nun meine nächste Frage: Als ich Dein Buch las, konnte ich nicht anders als mich zu fragen ‚Will Gilad wirklich behaupten, dass die Juden für das was ihnen zugestoßen ist selbst verantwortlich sind?‘

In Kapitel 21 des ‚Wandering Who‘ schreibst Du wörtlich: „65 Jahre nach der Befreiung von Ausschwitz sollten wir uns fragen können – warum? Warum wurden die Juden gehasst? Warum wendeten sich die Europäer gegen ihre Nachbarn?“
Ist das nicht genauso als ob ich einem Vergewaltigungsopfer sagen würde, sie hätte sich ordentlicher anziehen sollen oder wäre am besten ganz daheim geblieben? Das ist doch unglaublich!

Gilad: Der Ausspruch ‚Beschuldige nicht das Opfer‘ ist beliebt aber trotzdem problematisch.

Er verlangt nach genauerer Betrachtung. Wir müssen dazu einige grundlegende Fragen stellen: Wer und was ist das Opfer? Worin besteht das Opfersein? Was sind die Umstände, in denen das Verbrechen stattgefunden hat? Wie Du Dir vorstellen kannst, habe ich tatsächlich viel über diese Frage nachgedacht. Die ethische Bewertung ist in diesem Fall weit von einem universellen Algorithmus entfernt. Im Gegenteil – es ist die Besonderheit der Beurteilung die als universelle Maxime zu gelten hat.

Lass uns z.B. den Fall einer jungen Frau X untersuchen, die mitten in der Nacht in einem Park vergewaltigt wurde. Sie wurde einem sexuellen Angriff ausgesetzt, einer Sache, der sie nicht zugestimmt hatte. Es ist eindeutig ein Fall von Vergewaltigung. X ist ein Opfer. Nun erfahren wir aber, dass X die bewusste Entscheidung getroffen hat, halbnackt durch den Park zu laufen, mitten in der Nacht, obwohl sie wusste, dass der Park als Schauplatz für sexuelle Übergriffe bekannt ist. Wirst Du mir zustimmen, dass sie, obwohl ein Vergewaltigungsopfer, den Angriff bis zu einem gewissen Grad selbst hervorgerufen hat? Sie ist ein unvernünftiges Risiko eingegangen. Und was würdest Du sagen, wenn Du nun hörtest, dass sie am selben Ort, seit mindestens zwei Jahrzehnten, regelmäßig fünfmal die Woche vergewaltigt wurde? X ist immer noch ein Opfer, diejenigen, die sie vergewaltigen sind immer noch Kriminelle, würdest Du aber nicht trotzdem über X geistigen Gesundheitszustand nachdenken?

Der Fall der Juden, des Judentums und der jüdischen Geschichte ist tatsächlich ganz anders. Zunächst einmal geht es um eine ethnische Gruppe (und nicht um eine einzelne Person). Weiterhin beschäftige ich mich nicht mit Menschen: Moshe, Yossef oder Yakov. Ich untersuche Ideologie, Kultur und Politik. Die Fragen ’Warum wurden die Juden gehasst?‘ Oder ‚Warum wendeten sich die Europäer gegen ihre Nachbarn?‘ führten mich dazu, die Kultur, Ideologie und Politik zu untersuchen, die die jüdische Identität formen. Ich frage ‚Was an der jüdischen Kultur, Identitätspolitik und Ideologie ruft an so vielen verschiedenen Orten und zu so vielen verschiedenen Zeiten in der Geschichte Feindschaft hervor‘? Ich bin davon überzeugt, und das ist für meine Arbeit grundlegend, dass Juden genauso wie alle anderen Menschen unschuldig geboren werden. Ich behaupte aber, dass es in der jüdischen Kultur einige Elemente, wie z.B. den Glauben an das Auserwähltsein als Stamm, gibt, die die Dinge für viel Juden im Verlauf ihrer langen Geschichte kompliziert gemacht haben.

Clara: Jetzt warte aber mal: natürlich verhält sich das Opfer nicht gerade vernünftig. Aber ich bestehe immer noch darauf, dass ich in einer Umgebung leben möchte, in der meine Sicherheit gewähreistet ist, und dass ich solches kriminelles Verhalten nicht zu erwarten habe, egal wie exzentrisch ich auch sein möge.

Gilad: Hier geht es um etwas viel Grundlegenderes als nur exzentrisches Verhalten. Ich behaupte, dass wir angesichts der Kette von Desastern, aus der die jüdische Geschichte besteht, ein-für-allemal verstehen müssen, was an der jüdischen Kultur, Politik und Ideologie die Juden als Volk gefährdet.

Nebenbei gesagt, diese Frage habe nicht ich erfunden. Es ist genau diese Frage, die die zionistische Bewegung in Gang setzte. Es waren Denker wie Bernhard Lazare, die sich zur Judenfrage äußerten, in dem Versuche ‚ein-für-allemal‘ zu verstehen: ‚Warum die Juden?‘.

Der Unterschied zwischen den frühen Zionisten (Herzl, Lazare, Borochov, Nordau etc.) und mir ist, dass die frühen Zionisten daran glaubten, dass die Juden kollektiv in etwas Anderes verwandelt werden könnten.

Ich bin nicht sicher, ob das der Fall ist. Ich bin nicht davon überzeugt, dass es eine kollektive Lösung für die Judenfrage gibt. Manche brechen, glaube ich, als Individuen aus. Ich hoffe, dass ich selbst es geschafft habe.

Clara: Es ist ja auch das was Kommunisten gerne glauben, dass sie eine neue und bessere Art Menschen schmieden können. Ich habe das auch früher gedacht. Heute habe ich meine Zweifel, ob das realistisch ist.

Aber noch einmal zurück zur der Frage ‚ Ist das Opfer selbst schuld‘? Es ist bekannt, dass Missbrauchsopfer dazu neigen, den Grund für das was ihnen geschehen ist, bei sich selbst zu suchen. Die Schuld, die sie empfinden, ist ein Weg, den entsetzlichen Dingen, die sie erleiden mussten, einen Sinn zu geben, das Unkontrollierbare unter die eigene Kontrolle zu bringen. Machst Du nicht genau das Gleiche?

Gilad: Selbstverständlich. Ich glaube daran, dass die Juden, weil die jüdische Geschichte eine Kette von Desastern war, sich mit den Mitteln der Selbst-Reflexion genau betrachten müssen und nicht die Goyim beschuldigen sollten. Wie Du ja weißt, bin ich ein Anhänger des österreichischen Philosophen Otto Weininger, der für uns enthüllt hat, dass die Wahrnehmung der Welt in der Kunst der Selbstwahrnehmung zu finden ist. Je mehr ich in mich hineinblicke, desto besser verstehe ich die Welt um mich herum.

Clara: Naja, ich weiß nicht. Viele Opfer geben sich selbst die Schuld für Dinge, die sie zu 100 Prozent nicht zu verantworten haben. Das ist jedenfalls keine gesunde Art mit traumatischen Erfahrungen fertig zu werden.

Gilad: Wer entscheidet das? Wie rechnen wir den genauen Prozentsatz der Verantwortlichkeit aus? Sollte uns dieser Prozentsatz überhaupt kümmern? Ich meine, es ist viel hilfreicher, die Realität in ihrer Bedeutung zu erfassen. Wenn wir z.B. noch einmal den Fall von X betrachten, könnten wir dabei vielleicht sogar herausfinden, dass es X’s Bedürfnisse befriedigt, ein Vergewaltigungsopfer zu sein. Vermutlich kannst Du diese Analogie immer weiter ausdehnen.

Clara: Wenn es so wäre, würden wir uns ganz sicher Gedanken über X’s Gemütsverfassung machen müssen. Aber für uns andere, die keine Befriedigung daraus ziehen, ein Opfer zu sein, geht es vielleicht am Ende um die Frage der Verantwortung. Um die Übernahme von Verantwortung für die Dinge, die ich ändern kann, und um das Akzeptieren, dass es viele Dinge gibt, die ich nicht ändern kann. Es ist für den Einzelnen schon schwer genug, das herauszufinden. Kann eine Gruppe einen solchen Prozess durchlaufen?

Nachdem sie zwei Weltkriege begonnen und verloren hatten, wurden die Deutschen als Kollektiv beschuldigt und gaben sich auch selbst die Schuld an all den schlimmen Dingen, die ihnen selbst in der Folge passiert sind. Dann haben einige Menschen angefangen zu fragen, ob die Taktik des Angst und Schreckens bei der Bombardierung von Dresden und anderen Städten wirklich nötig war, um den Krieg zu gewinnen (und, nicht zu vergessen, die Atombomben, die Hiroshima und Nagasaki zerstörten). Meine Mutter z.B. verlor alles was sie hatte, durch das Bombardement von Leipzig, zum Glück kam keiner in ihrer Familie ums Leben. Aber dieses Nachfragen wird von anderen wiederum als Versuch gewertet, sich für die von meinem Volk begangenen Grausamkeiten zu rechtfertigen.

Wie auch immer, wenn ein Individuum wie Du anfängt, die Verantwortung für eine ganze Gruppe zu beanspruchen, könnte es schon sein, dass die anderen Mitglieder darüber nicht gerade erfreut sind. Kein Wunder, dass einige Deiner Mit-Juden Dich Brunnenvergifter nennen!

Gilad: Ich sehe diese Leute nicht als meine ‚Mit-Juden‘ an. Denn ich bin schon viele Jahre lang kein Jude mehr, und sie sind auch nicht gerade meine Kumpel. Ich beschuldige auch die Juden nicht, sondern ich bitte Sie vielmehr, sich ihre Kultur, Ideologie und Politik genauer anzusehen und sich die Frage ‚Warum?‘ zu stellen. Warum die Pogrome, der Holocaust, Antisemitismus? Der Zionismus versprach, die Juden zu verwandeln, dafür zu sorgen, dass sie geliebt wurden, und ist kläglich gescheitert. Warum? Wenn Juden sich um eine Antwort bemühen, dann ist, wie ich schon vorher erwähnte, der frühe Zionismus ein guter Anfang. Ich empfehle nochmals die Werke von Lazare, Borochov, Ehad Ha’am und sogar Herzl. Verantwortung, wenn Du das so sehen willst, fängt mit Selbstreflexion an.

Clara: Wie würdest Du Dich denn dann beschreiben, wenn nicht als Jude?

Gilad: Erst einmal vermeide ich jede politische Zuordnung … Ich bin Jazz-Künstler, Ich bin Schriftsteller, Ich bin britischer Staatsbürger, Ich bin Ex-Jude, und Ex-Israeli, Ich folge der Botschaft Christi, gehöre aber keiner Religionsgemeinschaft an.

Morgen: 3. Geschichtsschreibung als Prozess

Erster Teil hier.

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Eine Antwort zu Kommt! Ins Offene, Freunde! – zweiter Schritt

  1. Theresa Bruckmann schreibt:

    So wie Sie beide uns an der Entwicklung ihres Denkens aufgrund
    Ihrer unterschiedlichen Erfahrungen teilhaben lassen, kann ich das
    natürlich viel eher verstehen, als wenn ein fernes Geschehen
    irgendwie begrifflich erfasst wird.
    Danke, und bitte fortsetzen!

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