Fragwürdige „Historische Mission“

Ich denke, dass keinem Menschen und keiner Menschengruppe eine Mission oder Berufung vorgegeben ist. Allenfalls können sie selbst so etwas für sich formulieren.

Das übliche Reden von der „Historischen Mission des Proletariats“ hat nicht zur Wissenschaftlichkeit des Denkens über Sozialismus beigetragen. Eher dazu, dass es von einer Art weltlicher Religiosität durchsetzt oder zersetzt wurde.

Das Proletariat ist eine bedeutende Kraft in der bürgerlichen Gesellschaft. Und für die sozialistische Revolution oder auch nur für den Weg dahin ist es ein bedeutender (und differenziert wirkender) Faktor, nicht mehr und nicht weniger.

Die Große Sozialistische Oktoberrevolution in Russland brachte Gravierendes ans Licht:

  • Sie war siegreich, obwohl das Proletariat zahlenmäßig schwach war (wenn auch relativ gut organisiert).
  • Der Sieg war nur möglich Dank einer konkreten historisch-materialistischen Denkweise der Führer, die den Heroismus des Proletariats, der ausgebeuteten und entrechteten Volksmassen und aller aufgeklärten Elemente der Gesellschaft zutiefst verstanden und zu mobilisieren und zu lenken vermochten.
  • Die proletarische Perspektive der Revolution, d. h. die Möglichkeit des Sozialismus in Russland, blieb erhalten, auch dann noch, als das organisierte Proletariat durch Bürgerkrieg und internationale Konterrevolution fast aufgerieben war.
  • Subjektive und objektive Faktoren führten dazu, dass diese Möglichkeit zerstört wurde, ohne dass das sich in der Sowjetunion neu entwickelnde Proletariat dies verhindern konnte.
  • Die Besten des Proletariats in der Sowjetunion kämpften für den Bolschewismus und wurden vernichtet (das Beispiel Rjutin). Massen von sowjetischen Proletariern (und Bauern) wurden ausgebeutete und entrechte (passive, nicht kämpfende) Opfer des Stalinismus. Ebenfalls Massen von sowjetischen Proletariern (und anderen Schichten) wurden Träger und Nutznießer des Stalinismus.

Diese letztgenannte Drei-Differenzierung, die sich seit Anfang der 30er Jahre in der Sowjetunion herausgebildet hatte, erfolgte in ähnlicher Weise in den kapitalistischen Hauptländern. Man ersetze „Stalinismus“ durch „Kapitalismus“, „Imperialismus“ oder „Faschismus“.

Das Proletariat ist (nach heutigen Maßstäben, zugegeben, etwas überspitzt ausgedrückt) bei Marx und Engels mehr Vision als Realität, bei Lenin das klassische Industrieproletariat und heute eine so extrem ausdifferenzierte Klasse, dass ich fast von einer chamäleonartigen Erscheinungs- bzw. Existenzweise sprechen möchte. (Es verwandelt sich bis in sein Gegenteil – wird „Ich-Unternehmer“.)

Bei aller Wandlung und Differenzierung bleibt das Proletariat UNWANDELBAR ausgebeutet und entrechtet, bleibt, wie andere Schichten auch, in je spezifischer Weise der ÖKONOMISCHEN AUSBEUTUNG und der POLITISCHEN MACHTLOSIGKEIT unterworfen.

Der Kapitalismus unterliegt ununterbrochener TRANSFORMATION. Diese Aufgabe lösen die Kapitalisten selbst und zwar kontinuierlich unter jeweils zweckentsprechender Einbeziehung von Ausgebeuteten und Entrechteten.

Den Kapitalismus überwinden kann nur die TAT der GESAMTHEIT DER AUSGEBEUTETEN UND ENTRECHTEN, die sich sowohl gegenüber den Kapitalisten als auch ihrer eigenen kapitalistisch-geprägten Daseinsweise (also gegenüber beidem zugleich!) SELBST ERMÄCHTIGEN. Diese Selbstermächtigung wird nur Wirklichkeit, wenn Allmählichkeit (Das ist heutiges tagtägliches Tun!) UND ihr Abbruch (Das verlangt heutige geistige Arbeit!), evolutionärer Prozess UND revolutionäre Aktion zur Einheit werden.

Kein Proletariat führt diese Selbstermächtiger und keine „Kampfpartei“ mit einem geliebten Führer an der Spitze. Jeder Selbstermächtiger führt sich selbst, und der gemeinsame „Führer“ aller Selbstermächtiger heißt KONSENS.

Wie sie zu dem kommen, ist eine neue Frage. Auf jeden Fall nicht ohne Offenheit, Freiheit und Vertrauen.

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2 Antworten zu Fragwürdige „Historische Mission“

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