Die recht breite und dabei erfreulicherweise beim Thema bleibende Diskussion im Anschluss an meine Wortmeldung ‚Jenseits von „Pest und Cholera“ (2)‘ bestätigt mir die außerordentliche Komplexität der Fragestellung. Fast möchte ich, statt höflich von „außerordentliche Komplexität“ zu sprechen, lieber „Dschungelhaftigkeit“ oder sogar pessimistisch „völlige Undurchdringlichkeit“ sagen.
Da versuche ich eine – in meinem Verständnis 😉 – „Schneise der Bewusstheit“ in den Dschungel zu schlagen und muss feststellen, dass die DiskutantInnenen ihre eigenen Schneisen zu schlagen wünschen. (Und wir hier sind nur wenige DiskutantInnen. Wir wissen, dass die 1000-fache Anzahl weiterer DiskutntInnen auf anderen Spielwiesen oder Kampfplätzen aktiv ist.) Ein Jeder, um im Bild zu bleiben, rackert mit seiner Machete an seinem Dschungelplatz, ohne dass bisher der erträumte Siedlungsraum entstünde; und brauchbare Pfade, die die Siedelnden verbinden würden; ganz zu Schweigen von einer „Transamazonica“ mit all ihren Für und Wider.
Wie wollen wir leben? Wie wollen wir nicht leben? – Sind das reale Fragen? Wer fragt so? Gibt es etwa Antworten, die dieses Fragen erledigen, ohne dass die Fragen jemals adäquat gestellt wurden? Was wäre überhaupt eine adäquate Fragestellung?
Ist „unser“ Ideal die lebendige, wechselseitig-förderliche Kooperation gleichwertiger und gleichberechtigter Menschen oder schließt es die Ausbeutung und Herrschaft der einen Menschen über die anderen Menschen ein? – So könnte ich meine Problemsicht in Form einer Alternative ausdrücken. Doch steckt in dieser Formulierung die Annahme, dass ein „Ideal“, eine „Utopie“, ein „Modell“ vorangestellt wird. Liegt in dieser Annahme bereits eine Täuschung?
Schon die kurze Diskussion des oben erwähnten Postings mit seinen drastischen Einleitungsbegriffen – „Sozialismus“, „kapitalistische Ausbeutung“, „Privateigentum an den Produktionsmitteln“, „Klassenkampf“, „Herrschaftsinstrument Staat“ – führte zu einer beeindruckenden Fülle von Reaktionen: Überlegungen zu Revolution und Evolution (in historischer Färbung) mit impliziten Fragen nach der Materialität von Gesellschaft, explizite Auffassungen zur Autonomie der Subjekte und der Rolle von Geschichte, Freiwirtschaft, Geldtheorie in der einen und in der anderen Form, BWL und VWL, eine Interpretation von DDR-Geschichte, die AfD-Gegenwart, Feminismus und Polemik dagegen, immer wieder: Rolle des Alltagshandelns, des dezentrales Handelns der Menschen. Positionen von Hörmann, Chomsky, Senf, Dörner, Flassbeck, Krüsemann, Marxforum von Wal Buchenberg, v. Werlhof und anderen, teils in langen Videosequenzen geäußert.
Ich weiss nicht, wie es anderen geht. Ich empfinde die Diskussion zwie- oder gar trispältig: Teils reden wir zum (Grund)-Thema aber aneinander vorbei. Teils reden wir miteinander, verlieren aber schnell das Grundthema. Und in jedem Fall reden wir nur über einen Bruchteil der in den Raum geworfenen Argumente und Inhalte.
Ich meine, dass da nicht nur ein methodisch-technisches Problem steckt a la: Debatte muss halt besser strukturiert werden! Und auch die Bibel, die mir immerhin einfällt, hilft uns wohl kaum weiter. Der Turmbau von Babel:
Das für den Anfang Nötige scheint mir wirklich in der Mitte zu liegen: Fragen wir doch erst einmal nach unserer Frage selbst „Wie wollen wir leben?“, ohne uns sogleich ins Antwortgetümmel zu stürzen. Fragen wir z. B. nach den Fragenden.
Gibt es nicht eine ganze Gruppe von Menschen, die (obwohl sie wie alle Menschen Lebensbedürfnisse, darunter auch das nach Orientierung haben) unfähig sind, die Frage „Wie will ich leben?“ überhaupt zu stellen?
Gibt es eine weitere Gruppe, die sich zwar fragt und für sich beantwortet: „Wie will ich leben?“, das aber auf Basis einer Fundamentalkonstante macht: Anpassung an’s mir Gegebene bzw. Überschaubare?
Gibt es eine weitere Gruppe, die sehr klare Vorstellungen vom Leben und dem darin zu erreichenden oder zu behauptenden Status hat und die ebenfalls eine Fundamentalkonstante befolgt: Rigorose Ausschöpfung all dessen für mich, was das System bieten kann? Ja, unbegrenzte Erweiterung der Systemmöglichkeiten!
Es gibt vielleicht eine weitere Gruppe, die sich zu unserer Frage gern äußert: Diejenigen, die eigentlich mit ihrem persönlichen Leben weithin zufrieden sind aber dank geistiger Regsamkeit, sowie ideologischer, ethischer, weltanschaulicher Antriebe der Frage: „Wie wollen wir leben?“ Gedankenarbeit und Beredsamkeit zuwenden.
Gibt es Menschen, denen die Frage: „Wie will ich/kann ich leben?“ ein harter Zwang ist, auf den sie für’s Überleben („für’s Verrecken“) eine Antwort finden müssen und wollen, die sie NICHT MEHR INNERHALB DES SYSTEMS erwarten?
Diese oder andere Gruppen können sicher soziologisch umrissen werden.
Ob die Idee entsteht, dass die Frage „Wie wollen wir leben?“ Materialität hat? Und das es problematisch ist, selbige zu ignorieren?
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