Stalinismus und Umgebung (1): Der „Philosophendampfer“

Über den Stalinismus und ebenso über den Realsozialismus, zu dem der Stalinismus als ein wesentliches Moment gehörte, ist längst nicht alles gesagt. Im 100. Jahr der Oktoberrevolution und damit in Zeiten, die eine erneuerte sozialistische Perspektive brauchen, möchte ich kleine, konkrete Diskussionsbeiträge leisten. Ich bin nicht „vom Fach“, schreibe nicht als Historiker, sondern als interessierter Laie. Dabei bemühe ich mich Freidenker zu sein.

Weitere Beiträge der Folge „Stalinismus und Umgebung“ hier.

Der Begriff „Philosophendampfer“ bezieht sich auf die 1922/23 erfolgte Verhaftung und Ausweisung oder Verbannung von bis heute 272 namentlich ermittelten russischen Intellektuellen, unter ihnen viele „alte Philosophen“, deren Transport ins Exil per Schiff erfolgte. Die Aktionen fanden zwischen Juni 1922 und März 1923 statt, angeregt von Felix Dzierschinski, maßgeblich durchgeführt von Stalin, propagandistisch begleitet von Leo Trotzki, ideologisch-strategisch und politisch begründet von Lenin (u. a. in: „Über die Bedeutung des streitbaren Materialismus“, Werke Band 33, S 214). Wesentliche Aspekte des Vorgangs hat Wladislaw Hedeler in seiner Broschüre dargestellt „Säuberungen unter dem Banner des Marxismus“, Berlin 2014.

Ich halte es für notwendig, sich den historischen Moment zu vergegenwärtigen. Die Bolschewiki hatten in schier auswegloser Situation einen kühnen Befreiungsschlag geführt – den Übergang zur NÖP. Diesen Schritt konzipiert und durchgesetzt zu haben, ist eine der größten Leistungen Lenins (der im Jahr 1922 zwei Schlaganfälle erlitt). Lenin war sich grundsätzlich der Risiken des eingeschlagenen Weges bewusst. Und er wusste auch, dass die Bolschewiki nicht auf alle Kampffelder ausreichend vorbereitet sein konnten. Der Fortgang der Revolution musste unbedingt gesichert werden. Zur produktiven Auseinandersetzung mit den ideologischen Gegnern oder Feinden fehlten sowohl qualifizierte Kräfte, als auch die Zeit. Administrative und auch physische Gewalt stellten die unbefriedigende aber vorerst einzige Lösung dar.

Der „Philosophendampfer“ symbolisierte nicht eine prinzipielle Abkehr Lenins und der Bolschewiki von dem Prinzip des Überzeugens, der Freiheit der Wissenschaft und von der verstärkten Förderung der materialistisch-dialektischen im besonderen und jeder wissenschaftlichen Forschung und Bildung im allgemeinen. Das ist nachweisbar. Doch ebenso unstrittig sollte sein, dass ein objektives geschichtliches Ereignis geschaffen war – ein Präzedenzfall der Gewalt gegen Andersdenkende. Es gab die (zunächst abstrakte) Möglichkeit, den Fall aus seiner historischen Bedingtheit zu lösen und als Blaupause für Repression zu missbrauchen. Genau das hat Stalin zehn Jahre später in zehnfach brutalerer und schließlich in terroristischer Form getan.

Die weiteren Schicksale der Exilierten gestalteten sich unterschiedlich. Ein Teil von ihnen näherte sich wieder seinem geliebten Russland an, jetzt Sowjetunion. Manche von ihnen gerieten später in die Mühlen der Stalinschen Repression. Mancher, anscheinend nie geistig überwunden, kehrt heute wieder ins Rampenlicht zurück. Allen voran Iwan Alexandrowitsch Iljin (1883-1954), Denker der russischen Religiosität und des russischen monarchischen Patriotismus (ein Leseeindruck hier). In jüngerer Zeit hat sich Putin wiederholt auf Iljin berufen.

 

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3 Antworten zu Stalinismus und Umgebung (1): Der „Philosophendampfer“

  1. Man muss ja Stalin nicht lieben. Aber man sollte neuere Literatur über ihn und seine Situation, umringt von späteren „Erneuerern“ wie Nikita Chruschtchow, dem Krim-Verschenker und seinesgleichen berücksichtigen. Wer die Briefe Stalins an Molotow gelesen hat, in denen er ihn bittet, ihn aus der Isolation zu befreien, kann die Hetze gegen ihn nur noch zurückweisen. Es ist die gleiche hetze wie die gegen Hilde Benjamin. Salin stand in den End40ern und Anfangs50ern quasi unter Hausarrest im Kreml, der nur notdürftig mit seinem schlechten Gesundheitszustand und der entsprechend notwendigen ständigen ärztlichen Betreuung „begründet“ wurde. Diese Karrieristen und späteren Fastoligarchen wie Chruschtchow, Schnapsnase Jelzin oder Westliebling Gorbatschow, standen ab 1945 spätestens in den Startlöchern, um die Spitzenpositionen der Nomenklatura mit ihren Privilegien zu erklimmen. Das ist übrigens keine UdSSR-Spezialität. Die Umstellung von „Kriegskommunismus“ auf die anfänglich so vorbildlichen Ansätze der frühen Sowjet-Union war schwierig. Die KPdSU ist dabei gescheitert, so wie der Bund der Kommunisten in Jugoslawien nach Titos Tod auch an den Folgen des Rittes auf dem Tiger NÖP. Die gab es in modifizierter, verschärfter Form ja auch in Jugoslawien. Mit dieser so herangezüchteten neuen Bourgeoisie (die sich in Jugoslawien weigerte die Roation mitzumachen mit dem Hinweis auf ihre Unersätzlichkeit, ihre Kompetenz, usw..) .wird auch die KP Chinas zu kämpfen haben und möglicher Weise diesen Kampf verlieren. (Das widerum wird im Westen dann als Sieg der Menschenrechte gefeiert werden).

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    • kranich05 schreibt:

      Lieber Hartmut,
      ich meine, dass die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus/Realsozialismus unaufschiebbar ist. Und ebenso sehr meine ich, Niemandem seinen Stalin auszureden.
      Für Glaubenskämpfe habe ich keine Zeit.
      Daher versuche ich, klein, konkret Einzelaspekte zu betrachten (ohne dabei meine grundsätzliche Haltung zu verschweigen), ein Verfahren, dass hoffentlich der Rationalität zugänglich ist.
      „Neuere Literatur“ berücksichtige ich in dem mir möglichen Maße.
      Was Du über eine Art „Arrestsituation“ des späten Stalin schreibst, kann ich mir – ohne die erwähnten Dokumente zu kennen – lebhaft vorstellen. Völlig (psycho-)logisch, dass, wer als Gott Leben oder Tod verhängte, sich am Ende in der Hölle fand. Besonders Berija brauchte ja buchstäblich nur bis drei zu zählen, um für seinen Selbsterhalt aktiv zu werden.
      „Chruschtchow, Schnapsnase Jelzin oder Westliebling Gorbatschow“ (warum nicht auch Putin?), spätestens ab 1945 in den Startlöchern zu sehen, erscheint mir als etwas frappierender Rundumschlag.
      Beste Grüße
      Kranich05

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  2. Pingback: Stalinismus und Umgebung (2): Die letzten Arbeiten Lenins und der Umgang mit ihnen | opablog

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