Damals, 1944 / 45 – Hier: Im Ende

Kurt erzählt:

Wir zu Hause waren im bisher letzten Krieg in einer Kriegsoase. Die gab es tatsächlich. Es war wie im Auge eines Hurricane. Um uns herum, am Augenrand, raste, blitzte und donnerte es, brannten die Städte. Unser Städtchen brannte nicht. Die Bomber über uns ließen es wie eh unten liegen. Wir, das waren meine Mutter, mein großer Bruder, meine kleine Schwester, und ich, 13 Jahre alt, 6 und 10. Die Altersangaben sind ohne Fortschreibung. Papa war noch immer ein namenloser Held an der Ostfront, und noch immer mit Aufhaltebefehl. Mit Hunderttausenden namenloser Helden dieser Front ist der Ansturm der Steppe und deren motorisierter Roboterdivisionen nun-mehr!! zu stoppen!! Um je-den Preis!! So hatte dieser Goebbels voriges Jahr im Berliner Sportpalast über alle Sender getobt. Ihm wurde zurück getobt. Mutter und mein großer Bruder hatten dazu gelächelt: Merkten diese Schreier dieses Eingeständnis nicht? Es ging bis dahin nur zurück! Papas Erfolgsmeldungen an uns, enthalten in seinen Feldpostbriefen, bestätigten das: Sie waren immer dürftiger geworden, und immer seltener. Und das hielt an. Die können das nicht mehr leugnen, sagte Muttern eines Tages plötzlich zu uns, offen, leise, mit belegter Stimme. Mein Bruder und ich sahen uns an. Schwesterchen spielte. So kannten wir Muttern noch nicht. Aach ihr, sagte Muttern. Und, leise: Hoffentlich passiert Papa nicht noch was. Sie nahm uns Drei in die Arme. Wir Jungs schluckten. Schwesterchen sah fragend auf.

Unsere Oase war die bereits genannte Kleinstadt im Osten Thüringens. Wir gehörten zum Krieg, jedoch erstmal als Ausweichziel. Spektakuläre Ereignisse gab es bisher für uns nicht. Bis auf eines, diese Mittagsbombe. Darüber wurde schon berichtet.

Für uns, die Volksgenossen der Heimatfront, Kinder einbeschlossen, gab es Papierbogen im Format DIN A 4 mit aufgedruckten Markenabschnitten. Die Bogen wurden als Karten bezeichnet. Ihre Vielfalt zeugte vom formalen Beherrschen der Materie. Es gab Lebensmittelkarten, Raucherkarten, Reichskleiderkarten, Bestellscheine (für entrahmte Frischmilch ), Reisemarken, und Bezugsscheine für besondere Anschaffungen, wie z. B. für ein Verdunklungsrollo. Die Lebensmittelkarten wurden mit wechselnder Farbgebung immer nur für 1 Monat ausgegeben, für jedes Mitglied der Familie gab es 1 Karte. Die zugeordneten Mengen ermöglichten, zu hungern.

Ein Beispiel für die Zuteilungsperiode 8.2.- 7.3.1943, also für einen Monat: Pro Kopf gab es 9,7 kg Brot, 1,5 kg Fleisch, 250 g Ersatzkaffee, 154 g Fisch, 2,8 Eier, 15,8 kg Kartoffeln, 700 g Marmelade, 900 g Zucker, 250 g Käse und Quark, 7,5 l entrahmte Frischmilch, 158 g kondensierte Milch, 925 g Handelsfette, 600 g Nährmittel, 85 g Schokolade.

Mein Wunschberuf war deshalb völlig klar: Fleischer oder Bäcker. Diese Klarheit wurde im Verlaufe der Jahre löchrig. Die Reichskohlenkarten ermächtigten, zu frieren. Alle Karten waren unverbindlich. Es gab nur etwas, wenn es etwas gab. Das wurde zuweilen über den Rundfunk aufgerufen.

Muttern entwickelte eine Art Kriegskochen. Sie erfand eigene Rezepte. Etwa eine Suppe aus geriebenen Kartoffeln, die aufgekocht wurden. Na ja. Zusätzlich schwierig wurde es in der Vorweihnachtszeit. Da sparte Muttern Marken für Mehl, Butter und Zucker über Monate an, damit die Weihnachtsstollen die erforderliche thüringeneigene Qualität hatten und uns wieder vollmundig schmeckten. Da war Muttern eisern. Wie alle Mütter um uns.

Unsere Oase neigte zu Überforderungen, insbesondere Muttern gegenüber. Etwa: Arbeit im Wald. Die zugeteilten Kohlen entsprachen dauerhaftem kubanischen Sommer. Es musste Reisig und Holz herangekarrt werden, um das normale tägliche Kochen und Schaffen zu sichern und um Vorrat für die kalte Jahreszeit anzulegen. Kleine Bäume absägen. Baumwurzeln ausgraben und aushebeln. Der lange und bergige Transport: Das war Schwerstarbeit. Muttern nahm uns das meiste davon ab. Wir waren ständig unterwegs und über Land, um für das Nötigste zu sorgen. Wir sammelten Schoten im Feld, und Ähren, wir stoppelten Kartoffeln auf abgeernteten Feldern, die oft viele Kilometer entfernt freigegeben wurden, wie es sich vertraulich herumsprach, wir suchten Pilze, pflegten unser handtuchkleines Beet für paar Möhren, Kohlrabis, Kartoffeln und etwas Salat, und hielten uns 2 Hasen, die wir regelmäßig gegen 2 geschlachtete eintauschten, wenn es soweit war, da wir unsere unmöglich verspeisen konnten.

Etwas außerhalb der Legalität, jedoch mit mütterlichem Halbsegen, enterten wir nachts Kohlezüge, die auf dem nahen Bahnhof entladen wurden, gruben nachts nach Kartoffeln aus noch nicht freigegebenen Feldern, waren nachts mit Taschenlampen auf Lichtfischerei in den umgebenden Teichen, beobachteten tagsüber das Reifen der Früchte in fremder Leute Gärten, um nachts zu handeln. Wir, das waren hier nicht nur wir Brüder, sondern eine richtige kleine Gang, die sich gebildet hatte. Die Pfirsiche im Obstgarten einer Fabrik hatten es uns dabei besonders angetan. Da der Sohnemann des Gärtners auch Mitglied unsere Gang war, bekamen wir stets eine aktuelle Lageeinschätzung. Wir ernteten rechtzeitig.

Wir rechtfertigten unser Treiben a) vor unserem inneren Tribunal mit der verordneten Unterexistenz, die war nichts für uns, b) auch damit, dass wir von der Naturalwirtschaft, die das Zepter übernommen hatte, ausgeschlossen waren, und c) sonst nicht. Naturalwirtschaft in solchen Zeiten ist, wenn einer ein Nürnberger Ei in goldener Fassung gibt, und das Eiweiß eines gekochten halben Eies dafür bekommt. Wir hatten jedoch nichts mehr zu geben. Alles war schon raus. Da mussten wir zur Selbstbesorgerschaft übergehen. Das wurde auch in den Familien der Gang so gesehen.

Wie Schwesterlein spielten trotz aller Umstände natürlich auch wir Jungen, wenn auch in einer anderen Liga. Die Spiele der Pimpfe spielten wir jedoch nicht mehr. Deren Affigkeit war meinem Bruder zu blöd geworden, ihre betriebene Anbiederung an die HJ eine Gefahr. Ich folgte ihm vorfristig. Die HJ selbst konnte uns nicht. Ich war nur 10. Mein Bruder noch 13. Die Pflicht begann bei 14. Flakhelfer spielen erreichte deshalb selbst dieser Totalgoebbels bei uns nicht. Bei mir Jungbruder sowieso nicht. Aber auch nicht bei meinem älteren Bruder. Muttern hätte ihn sonst versteckt.

So etwa war das bei uns zu Hause, im Ende. Die aufgezeigten Feinheiten zur Erhaltung von Mensch wird es nicht mehr geben, sollte es einen III. geben. Wäre eigentlich schade. Um Mensch.

Krieg durch Menschen. Durch Menschen? Natürlich nicht durch Ameisen. Durch Menschen. Aber: Auch Kinder sind Menschen. Es hat noch niemand erlebt, dass Kinder von sich aus Krieg führen wie die Großen. Deren Vermögen dazu haben sie natürlich noch nicht. Was die nicht alles können, diese Großen: Lügen. Intrigieren. Versklaven. Umbringen. Ausbeuten. Unterdrücken. Geld machen wie Heu. Größtes anstreben und schaffen in allen Bereichen ihres Lebens. Und – – – 

es zurückdrängen, dem Vergessen ausliefern, vernichten. Die Natur unterminieren, sich über sie erheben und gefügig machen. Gewaltig alles, Egon, gewaltig. Das bringen die Kleinen noch nicht. Sie wollen nur miteinander spielen und toben, sich ausprobieren in allen nur denkbaren Möglichkeiten und Formen, auch gegeneinander: Ich bin der Stärkere / wir sind die Stärkeren! / ich habe wir haben gewonnen!, und malen und singen und helfen wollen sie auch. Aber niemals vernichten. Unterschiede zwischen ihnen, die schwarz, und weiß, und rot, und gelb und gemischt sein können, und die sich auch im Verhalten ausdrücken, sind für sie kein Problem. Im Gegenteil: Die machen alles nur noch spannender. Jedoch: Werden sie Mensch, werden sie gehäutet. Durch die Großen. Durch Mensch. Und durch alles andere um sie herum. Schwarz und Weiß und und sind da plötzlich Contras. Sie müssen zurückgedrängt, ausgeschlossen, gegebenenfalls vernichtet werden. Ebenso wie Schwarz und Weiß und und untereinander plötzlich Contras sind. Das leert Mensch. Und alles andere um sie herum. Nur: Was leert Mensch solche Verkrüppelung? Und was ist dieses Um sie herum? Woher ist dieser Sprung, der nur zu oft auch bereits dem Wollen der Kleinen aufgenötigt wird? Eine Übernahme von diesen Stürmen und Tornados?

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Siehe auch: „Die verdammten Erinnerungen…,“

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