Gustl Mollath, der Einzelne

Ja, Gustl Mollath ist Einzelner. Ich kann ihn mir schlecht vorstellen als Aktivist einer Organisation mit Statut und Vorstand, Programme diskutierend, Mitgliedsbeiträge beschließend, eifrig die demokratisch gefassten Beschlüsse umsetzend. Er handelt „aus sich heraus“. Was ist „aus sich“?

Von Anfang an („hineingeboren“) lebt Gustl Mollath in bürgerlichem Wohlstand, vielleicht einem gewissen Luxus. Doch all zu früh erlebt er Krankheit und Tod der ihm am nächsten stehenden Menschen. Er erfährt Leid, gegenüber dem ein sorgenfreies Bürgerleben nicht viel zählt. Was zählt? Seine Aufmerksamkeit für Menschliches ist geweckt. Sein Blick dafür bleibt auch durch die Jahre wach.

Wie jeder Mensch, trägt Gustl Mollath Widersprüche in sich, vielleicht schroffe. Die Liebe zum grüblerisch Sorgfältigen, Kleinteiligen, Minutiösen, Zuverlässigen steht im Kontrast zum Hochfahrenden, zum über-die-Grenzen-Denken und -Gehen, auch zur Lust am Verblüffen des Gegenüber. Da ist für Spannung gesorgt. Solange die Balance mit Freunden und in der Zweisamkeit gelingt, ist es eine glückliche Zeit. Philemon und Baucis in der Ferrari-Öko-Szene?

Das wirkliche Leben nagt an der Gemütlichkeit. Es ist Schröder/Fischer-Zeit, Berliner Republik. Über Nacht ist Krieg wieder schick. Und die Millionen liegen auf der Straße. Gier ist geil. Grenzen sprengen! Rock the Casbah! Unbekannte Faktoren in der Beziehung des Paares kommen hinzu. Gustl hört nicht auf zu denken, oder er fängt wieder damit an. Ganz allein, zu zweit, immer alleiner, immer entschiedener. „Wenn am größten ist die Not, bringt der Mittelweg den Tod“ oder so. Ihr Gott ist die runde goldene Scheibe, das Abstraktum. Ihm geht es um Krieg, um die Kinder, um soziale Gerechtigkeit. Es geht ihm um gefährdete Liebe. So unterscheidet er sich vom trostlos vereinzelten Einzelnen – aber trotzdem, scheint ihm, muß er seinen Kampf ganz allein führen.

Gustl Mollath ist das Individuum, das sich empört, noch bevor Hessel dazu auffordert und andere den „Wutbürger“ kreieren. Aber die Äußerung folgenloser (gar noch anonymer) Empörung ist nicht das Ding eines deutschen Ingenieurs. Er hat einen klaren Kopf, eine Werkstatt, er hat Material, ordentliches Werkzeug. So einer macht was draus und wehrt sich. Und Mut hat er auch.

Der Einzelkämpfer wendet sich an Verantwortliche. Er wendet sich vertrauensvoll an die Bosse der Mißstände und an die Bosse der Bosse. Wieder und wieder. Und wird wieder und wieder enttäuscht, bis er bei den Spitzen des Systems landet. Ich, altgedienter Linker, geübt im marxistisch-leninistischem Denken, bin verwundert. Merkt er nicht, daß er gegen Windmühlen kämpft? Ist Gustl Mollath heillos gefangen in der bürgerlichen Spiegelwelt, in der formalen bürgerlichen Demokratie, die ihn zum Narren macht und zu Schlimmerem? So denke ich. Mir wären Hilferufe an die Spitzengangtser der Banken, an Beckstein oder Stoiber nicht im Traum eingefallen; höchstens offene Briefe, die dann auf den Flugblättern gestanden hätten, diesen bewährten Instrumenten zur „Mobilisierung der Massen“…. Die kritische Wertung dieses von mir traditionell bevorzugten Weges halte ich inzwischen durchaus für  zulässig ;-).

Gustl Mollath geht seinen bürgerlichen Einzelkämpferweg. Er bezahlt einen hohen Preis dafür. Doch die Bindung dieses Einzelnen (!) an seine humanistischen, also gemeinschaftlichen (!), menschheitlichen (!) Werte (an die ihm gesellschaftlich fernstehenden Menschen) ist stark genug, jedem Druck Stand zuhalten und jeden notwendigen Widerstand zu leisten. (Machen meine drei Ausrufezeichen deutlich genug, daß hier möglicherweise ein enormes (befreiungs)theoretisches Problem steckt? vielleicht sogar ein Stück Antwort?)

Ich stelle fest: Gustl Mollath führt vor aller Augen, was ein Einzelner kann. Er widerlegt nicht den alten Goethe: „Das alte Wort, das Wort erschallt: Gehorche willig der Gewalt! Und bist du kühn und hältst du Stich, So wage Haus und Hof und – dich.“

Und ich stelle weiter fest: Das Beispiel dieses Einzelnen hat eine ganze Unterstützer“szene“ ins Leben gerufen; lauter Einzelne, die sich in einem gemeinsamen Interesse, gemeinsamen Willen finden. Mir sind in diesen wenigen Monaten mehrere Menschen begegnet, die erzählten, sie hätten sich bis vor wenigen Monaten nicht um Politisches gekümmert. Aber sie hätten nun den dringenden Wunsch verspürt, etwas zu tun. Und noch mehr: Ich habe erlebt, daß zwischen nicht wenigen dieser mir „wildfremden“ Menschen und mir Vertrauen entstanden ist. In heutiger Zeit! Halleluja! 😉

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13 Antworten zu Gustl Mollath, der Einzelne

  1. Beate N. schreibt:

    Auch wenn ich erst kürzlich hier aufgetaucht bin, erkenne ich mich im letzten Absatz wieder.
    Schön geschrieben!

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  2. H. Heine schreibt:

    abo

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  3. Richard Albrecht schreibt:

    Ja, lieber Kranich05,

    Sie sagen Wichtiges. Als Althase (seit 1999 im Netz und 2002/07 Editor des weiland beachteten Magazins rechtskultur.de) bemerke ich in der pro-Mollath-Netzgemeinde, Ausnahme/n vor allem hier, im Ursula-Prem-Autoren- und auch im Männer-unter-sich-Blog, das neue „Juristenmonopol“ (Ralf Dahrendorf) und voraussage: wenn der Skandal-„Fall Mollath“, der, was ganzdeutschen Volljurist(inn)en nicht verstehn können/wollen, vor allem eins veranschaulicht:

    „Die Verletzung des Rechts eines einzigen ist die Verletzung des Rechts aller“ (Hannah Arendt)

    – wenn also dieser „Fall“ mit seinen ausgeprägt staatlich-regierungskriminellen Zügen weiter vor allem in dieser justiziellen Sonderwelt mit ihren Trixen und Traxen bleibt und wenn es nicht bald nachhaltig-bürgerrechtliche pro-Mollath-Schübe gibt – dann kommt nix Wesentliches mehr. In diesem Zusammenhang halte ich das von Ihnen dokumentierte Versagen offiziell-ganzdeutscher „Menschenrecht“sorganisationen für im negativen Sinn zentral und fürchte auch, daß die „Untersuchungsausschuß“-Initiative im bayrischen Landtag zu spät kommt. RA Dr. Strate hat m.E. große Aufklärungarbeit geleistet. Und immer auch die bürgerrechtliche Dimension mitberücksichtigt. (Auch deshalb interessiert mich schon, zu erfahren, was es denn bei der gestrigen öffentlichen „Debatte“ in Mayen/Eifel, an der u.a. Strate, Rückert als Teilnehmer angekündigt waren, rauskam.) Besten Gruß,

    Richard Albrecht, 220413
    http://wissenschaftsakademie.net

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  4. Menschenrechtler schreibt:

    Lieber Kranich,
    Die Frage „Wer ist der Mensch Gustl Mollath“ beschäftigt mich und sicherlich viele andere Menschen! Dies ist bei der bisherigen vorwiegend juristischen Auseinandersetzung viel zu kurz gekommen. Um eine Gegenöffentlichkeit herzustellen, halte ich es für notwendig und sinnvoll
    ein Gegenbild, eine Art Portrait über Herrn Gustl Mollath zumindest in Ansätzen zu verfassen!
    Zweifelsohne hält Herr Mollath durch sein konsequentes Auftreten und Eintreten für Wahrheit,
    Ehrlichkeit und Menschlichkeit der g e s a m t e n d e u t s c h e n Gesellschaft und hauptsächlich
    der angeblichen „politischen E l i t e ? “ einen S p i e g e l vor. Und was können mächtige Entscheidungsträger, wie Richter, Gutachter, Psychiater und Politiker darin wahrnehmen?
    Armseligkeit, wie in der aktuellen Stellungnahme im Auftrag! von Dr. Leipziger.
    Beschämend, wenn Herr Mollath noch immer nicht freigelassen wird, nachdem sich die Steuerhinterziehungen bestätigt haben, Razzien in der HVB, der Deutschen Bank durchgeführt
    wurden und die Schwarzgeldproblematik auch nunmehr auf der politischenen Ebene nicht mehr
    geleugnet werden kann.
    Ohne Herrn Mollath idealisieren zu wollen, ist für mich Herr Mollath ein H e l d ! Ein Held aufgrund
    seines Mutes, seiner Wahrheitsliebe und seines Gerechtigkeitssinnes. Sein Idealismus und Entschiedenheit hat ihm die Kraft gegeben, einer willkürlichen Justiz, elitären Gutachter-Professoren und einer ins Totalitäre gehenden Forensik Widerstand zu leisten und zu überleben.
    M.e. beispiellos in der (gesamten) neueren deutschen Geschichte, dass sich eine große bemerkenswerte Solidarität gebildet hat. Allerdings wäre nach soviel Blog-Reflektion ein gemeinsames H a n d e l n n o t w e n d i g und überfällig. Wie wäre es mit einem Treffen engagierter Blog-Kommentatoren in Nürnberg mit einer anschließenden D e m o ?
    Wer nicht handelt wird behandelt.
    Einigkeit und Recht und Freiheit. Wir versuchen für Herrn Mollath Recht und Freiheit durchzusetzen! Einigkeit, gemeinsames Handeln in einer „vereinzelnden Gesellschaft“ und einem
    anonymen Blog ist notwendig. Noc h ist Gustl Mollath noch nicht frei.

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  5. Joachim Bode schreibt:

    Ein paar große Worte großer Denker stecken die politische und gesellschaftliche Dimension des Falles Mollath trefflich ab:

    Ernst Bloch: „Das Auge des Gesetzes sitzt im Gesicht der herrschenden Klasse“
    (ich erlaube mir – bescheiden -, dies um ein Wort zu ergänzen:
    „… der jeweils herrschenden…“
    und um einen Gedanken weiter zu führen:
    „Dort blinzelt das Auge ganz nach Bedarf“)

    Hannah Arendt: „Die Verletzung des Rechts eines einzigen ist die Verletzung des Rechts aller“ – (das hat mein – gefühlt – „geistiger Nachbar“ Richard Albrecht bereits in seinem vorstehenden Beitrag erwähnt…)

    Bertolt Brecht: „Unrecht gewinnt oft Rechtscharakter einfach dadurch, daß es häufig vorkommt“
    (auch hier ein kleiner Ergänzungsvorschlag: „… und wird dann besonders gefährlich, wenn es in Staatskriminalität mündet“)

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  6. Apollon schreibt:

    Heute Abend wird Gustl Mollath mit seinem Anstaltmäntelchen in Dr.Leibzigers Terrorknast sitzen.
    Heute Abend ist Gustl Mollath, der gegen Steuerbetrug gekämpft hat immer noch nicht auf freiem Fuß.
    Heute Abend triumphiert ein korruptes und unfähiges Justizsystem immer noch über diesen Gustl Mollath.

    Heute Abend wird ein Mitglied der feinen Fußballgesellschaft, ein Präsident, einer der Steuern in Millionenhöhe hinterzogen hat, mit Wissen der Behörden in sein Fußballstadion schreiten und dort von Fans mit Spruchbändern gefeiert werden.

    Heute Abend wird diesem Land ein Bild von besonderer Farbe entstehen. Ein Bild das die Betrüger belohnt und die „Ehrlichen“ in die Psychatrie bringt.

    Die Aufsprengung eines moralisch-humanen Kontinuums, durch den „Bayern-Zeit-Raum“, wird gewissermaßen durch juristisch-moralische Lücken im Ablauf der Zeit, eine Pforte für das Hindurchtreten von „Gespenstern“ eröffnet.

    Dieser Tag macht traurig.

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  7. Renate Briede schreibt:

    Ich warte auf den Tag, wo Gustl Mollath wieder frei ist. Erst dann kann ich daran glauben, dass es in Deutschland eine Gleichheit und Gerechtigkeit für alle Menschen in Zukunft geben kann!!!!

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  8. blaubart schreibt:

    Zu Renate Briede:
    Auch dann gibt es in DEUTSCHLAND (Bayern) keine Gleichheit und keine Gerechtigkeit.
    Zuerst muss die gesamte CSU verschwinden. Nicht nur als Partei sondern auch mit Menschen. Das ist auch das Ziel von der Kanzlerin. Nur sagen tut sie das nicht.
    Mehr dazu: http://www.bayern-aktuelles.de/html/diebesgut_.html

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  9. Jamar Nunez schreibt:

    Und das ist schon komisch, wie sich Brixner aus dem echten Verhaftungsprotokoll vom 27.2.2006 das herauszieht, das den Angeklagten in seinen Augen zum Verrückten stempelt: daß er nämlich, weil ihm die Beamten am Rande der Montagsdemonstration, die ihn als friedlichen Demonstranten kannten, nicht glauben wollten, daß gegen ihn etwas vorliege, Rabatz machen und irgendwas von Polizeistaat schreien mußte, damit sie ihn überhaupt auf die Wache führten und dort tatsächlich das entsprechende Fahndungsersuchen vorfanden.

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