Zwangsbehandlung in der Psychiatrie – es geht auch anders!

Das Bundesverfassungsgericht hatte im April 2011 die Zwangsbehandlung verboten. (Positionen dazu siehe auch hier.) Am 17.1.2013 missachtete der Bundestag die Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts und stimmte einer erneuten Legalisierung der Zwangsbehandlung via Betreuungsrecht zu.

Natürlich lösen sich mit diesen oder jenen Beschlüssen von Institutionen – und seien es auch die höchsten deutschen juristischen und gesetzgebenden Institutionen – die wirklichen Probleme des wirklichen Lebens nicht in Wohlgefallen auf. Im Gegenteil, das Leben ist stärker. Aber falsche Beschlüsse erzeugen Leid lebendiger Menschen oder verlängern ihr Leid.

Dagegen gibt es Alternativen, wie ein Brief eindrucksvoll belegt.

Geschrieben wurde er am 12.11.2012, also VOR dem Beschluß des Bundestages. NACH diesem Beschluß ist die Aktualität und Gültigkeit dieses Briefes größer denn je.

zinkler

Hier der Brief von Chefarzt Dr. Zinkler im vollen Wortlaut:

„Sehr geehrte Fra Ministerin Leutheusser-Schnarrenberger,

wie ich der Bundestagsdebatte vom 17.10.2012 entnehme möchte Ihr Ministerium rasch einen Gesetzesvorschlag einbringen um die Zwangsbehandlung im Rahmen einer betreungsrechtlichen Unterbringung nach den BGH Beschlüssen (XII ZB 99/12 und XII ZB 130/12) ne z regeln. Sie haben dazu aus der psychiatrischen Fachwelt zahlreiche Stellungnahmen erhalten, die auf eine rasche Neuregelung drängen. Tenor dieser Stellungnahmen ist es, dass durch die derzeitige Situation manche Patienten die erforderliche psychopharmakologische Behandlung nicht erhalten, möglicherweise gesundheitlichen Schaden erleiden, mehr Patienten andere Zwangsmaßnahmen wie etwa Fixierungen (Festbinden am Bett) erdulden und darüber hinaus Mitarbeiter und Mitpatienten in den Kliniken vermehrt Opfer von aggressiven Übergriffen werden. 

Ich schreibe Ihnen um Ihnen mitzuteilen, dass ich als Chefarzt der Psychiatrischen Klinik am Klinikum Heidenheim diese Erfahrungen – auch für mich überraschend – nicht gemacht habe. Vielmehr haben sich durch die aktuelle Situation, nach der es in Baden-Württemberg keine rechtliche Grundlage für die Zwangsbehandlung mehr gibt, in der Behandlung neue Möglichkeiten zur vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Patienten und Behandlungsteam ergeben. Denn wir sagen unseren Patienten jetzt, dass eine medikamentöse Zwangsbehandlung nicht stattfinden wird, gerade auch solchen Patienten, die in der Vergangenheit zwangsbehandelt wurden. Das schafft Vertrauen und hat bisher – über inzwischen mehr als 12 Monate seit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zum UBG in BW (2 BvR 633/11) mit über 1200 stationären Aufnahmen – in unserer Klinik nicht zu einer Zunahme von Zwangsmaßnahmen oder Übergriffen auf Personal und Mitpatienten geführt.

Die Behandlungsfälle in diesem Zeitraum, bei denen früher ein Antrag auf Zwangsbehandlung gestellt worden wäre, konnten durch geduldiges Verhandeln, „Dabei sein“, im Gespräch bleiben, mit Patienten, Angehörigen und Betreuern ohne größere Zwischenfälle zu einer einvernehmlichen Behandlung gebracht werden. Allerdings konnten wir beobachten, dass diese Patienten länger stationär in Behandlung blieben, als das mit einer erzwungenen medikamentösen Behandlung der Fall gewesen wäre.

Was bedeutet diese erstaunliche Beobachtung für die Diskussion zur Zwangsbehandlung? Sicher wird es Kliniken geben, die andere Erfahrungen machen. In Heidenheim, einer Klinik, die für immerhin 135.000 Einwohner im Landkreis die Versorgungsverpflichtung übernimmt, also für freiwillige und zwangsweise in die Klinik gebrachte Patienten, mit 1200 Aufnahmen im Jahr hat sich durch die fehlende gesetzliche Grundlage zur Zwangsbehandlung keine nachteilige Situation ergeben – im Gegenteil: wir sagen unseren zwangsweise eingewiesenen Patienten, dass sie nicht gegen ihren Willen medikamentös behandelt werden, und das nimmt der Unterbringung schon einen Teil der Bedrohung. Wenn wir nach Abschluss der Untersuchungen zum Ergebnis kommen, dass eine medikamentöse Behandlung sinnvoll ist, dann sagen wir das den Patienten auch und fügen hinzu, dass damit auch eine raschere Entlassung aus der Behandlung erreicht werden kann.

Ich möchte Ihnen deshalb nahe legen, zu prüfen, ob nicht auf eine gesetzliche Grundlage zur medikamentösen Zwangsbehandlung grundsätzlich verzichtet werden kann. Um in
unkontrollierbaren Situationen als letzten Ausweg ein Beruhigungsmittel zu verabreichen gibt es immer noch den rechtfertigenden Notstand. Möglicherweise reicht das aus. Jedenfalls wäre es klug, die jetzige Situation genau zu beobachten, mit einem entsprechenden Forschungsprojekt zu begleiten und erst dann neue gesetzliche Regelungen zu schaffen. Darin liegt eine einmalige Chance die Menschenrechtssituation in der Psychiatrie nachhaltig zu verbessern, so wie das in der UN-BRK gefordert ist.

Ich darf schließlich eindringlich darauf hinweisen, dass sich in unserer Klinik aus der aktuellen Rechtslage längere Aufenthaltszeiten in der stationären Behandlung ergeben haben. Das ist bedeutsam im Hinblick auf das neue Entgeltsystem in der Psychiatrie. Ihr Kollege im Gesundheitsministerium, Herr Bahr, führt derzeit im Wege der Ersatzvornahme den neuen Entgeltkatalog PEPP ein, bei dem Kliniken mit kürzeren Aufenthaltsdauern finanziell bevorzugt werden. Es wäre im Hinblick auf die Menschenrechte von Personen mit psychischen Störungen fatal, wenn durch finanzielle Anreize im neuen Psych.- Entgeltsystem Anreize für eine rasche Zwangsbehandlung geschaffen würden, wo durch geduldiges Begleiten dieser Patienten Eingriffe in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit vermieden werden können. Wir dürfen nicht die Menschenrechte auf dem Altar einer scheinbar effizienten Medizin opfern!

Die Idee Ihnen zu schreiben ist bei der Tagung der Aktion Psychisch Kranke in Berlin im
November 2012 entstanden, wo ich die oben erwähnten Beobachtungen vorgetragen habe. Gerne lasse ich Ihnen detailliertere Erfahrungen zukommen.

Über eine Reaktion aus Ihrem Ministerium, dass Sie dieses Schreiben erhalten haben, würde ich mich sehr freuen.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Martin Zinkler
Chefarzt
Facharzt für Psychiatrie und
Psychotherapie“

Zu den Antworten, die Dr. Zinkler erhalten hat, geht es hier.

Im Portal klinikbewertungen.de hat die Psychiatrie Heidenheim (Baden Würtemberg) zwar nur wenige aber erfreulich positive Bewertungen. Der Unterschied zu Bewertungen des BKH Bayreuth und anderer bayrischer Psychiatrien sticht ins Auge.

Ich danke den Aktiven vom „Bündnis gegen Folter in der Psychiatrie“, die mich auf den Brief Dr. Zinklers aufmerksam gemacht haben.

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Update 10.4.:

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8 Antworten zu Zwangsbehandlung in der Psychiatrie – es geht auch anders!

  1. Nils schreibt:

    @ Opa Kranich
    Zu den Unterschieden im Massregelvollzug, siehe auch hier:

    Maßregelvollzug in Bayern

    ließe sich noch ergänzen, dass die Unterbringung über Landesrecht geregelt ist und und in verschiedenen Punkten Unterschiede aufweist:

    Unterbringunggesetz BW:
    http://www.landesrecht-bw.de/jportal/portal/t/l2l/page/bsbawueprod.psml;jsessionid=D1C6049EA657E6D231AFA0B9A84A206D.jpb4?doc.hl=1&doc.id=jlr-UbrgGBW1991pP1%3Ajuris-lr00&documentnumber=1&numberofresults=22&showdoccase=1&doc.part=X&paramfromHL=true#focuspoint

    Unterbringungsgesetz Bayern:
    http://www.gesetze-bayern.de/jportal/portal/page/bsbayprod.psml?showdoccase=1&doc.id=jlr-UbrgGBY1992rahmen&doc.part=X&st=lr

    Ich möchte da mal nur auf einen Punkt, z. Bsp. das Besuchsrecht hinweisen, welches in Bayern stärker reglementiert wird als in BW.

    Interessant, dass in Bayerns Unterbringungsgesetz von vorne herein geregelt ist, nicht so in BW:

    Art. 1 Voraussetzungen der Unterbringung:

    „(2) 1 Die Unterbringung kann nur vollzogen werden, wenn keine Maßnahmen nach §§ 81, 126a der Strafprozeßordnung (StPO) oder nach §§ 63, 64 und 67a des Strafgesetzbuchs (StGB) getroffen sind. „

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  2. annie b. schreibt:

    Der Brief von Dr. Zinkler wurde in einer Diskussionsrunde bei der Podiumsdiskussion der Grünen zum Thema “Entwicklungsperspektiven der Unterbringung und psychiatrischen Versorgung in Bayern“

    http://www.gruene-fraktion-bayern.de/termine/vom-regen-die-traufe-entwicklungsperspektiven-der-unterbringung-und-psychiatrischen-versorgu

    vorgelesen. In der sich daran anschließenden kurzen Diskussion zeigte sich, dass dieser Brief in Fachkreisen durchaus bekannt ist und dass die darin geschilderten Erfahrungen gut nachvollzogen werden können.

    Großes Interesse fand der Vortrag von Heiner Dehner, dem Psychiatrie-Koordinator der Stadt Nürnberg und Geschäftsführer des Krisendiensts Mittelfranken.
    Man habe schon sehr früh „Psychiatriegesetze in Bausteinen vorweggenommen“, Ziel sei es immer gewesen, eine psychiatrische Versorgung im Sinne der Menschenrechte zu erreichen. Weiterhin anzustreben seien die Stärkung der Beschwerderechte, Perspektiven für Kranke und „Psycho-Edukation“, um die eigene Motivation zu stärken. Der Krisendienst Mittelfranken (seit 1998) sei auch Ansprechpartner für die Polizei, für die auch Fortbildungen veranstaltet würden. Zahlreiche Zwangseinweisungen könnten so im Vorfeld abgefangen werden. In der Diskussion wurde auf die vergleichsweise schwierige Lage in München hingewiesen: es gebe zwar Interventionsmöglichkeiten, die aber viel zu wenig bekannt seien. Außerdem weigere sich die Polizei, den Krisendienst einzuschalten mit Hinweis auf datenschutzrechtliche Gründe und die fehlende Zeit. Der anwesende Vertreter der Polizei bestätigte, dass der Datenschutz ein schwieriges Thema sei. Man könne vor Ort allenfalls das Angebot machen, den Krisendienst einzuschalten und dann ggf. die Daten weitergeben.
    Hinsichtlich der psychiatrischen Erstversorgung kann Nürnberg als vorbildlich gelten.
    Dass gute Ideen auch umgesetzt werden konnten, habe, so Heiner Dehner, auch damit zu tun, dass ein hoher Polizeibeamter als Angehöriger persönlich betroffen gewesen sei. Da sei „eine andere Weichenstellung möglich“ gewesen, der persönliche Kontakt habe positiv gewirkt.

    Für weitere Informationen:
    http://www.krisendienst-mittelfranken.de/index.htm

    „Der Fall des Gustl Mollath bewegt seit Monaten die Öffentlichkeit“ – mit diesen Worten wird die Beschreibung der Veranstaltung auf der Homepage eingeleitet und insofern lag es auch nahe, dem Thema einen gewissen Raum zu gewähren, was auch geschah. Die Reaktionen im Plenum zeugten von weit verbreitetem Desinteresse in Fachkreisen an diesem speziellen Fall, was angesichts der eigentlichen Themenstellung teilweise verständlich war. Aber es gab auch sehr scharfe, verletzende Töne, was auch Christine Stahl bemerkte. Die Frage nach dem Untersuchungsausschuss wurde gestellt, eine Stellungnahme dazu gab es nicht.

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  3. Heine schreibt:

    Hallo, was ist das – „psychiatrische Versorgung im Sinne der Menschenrechte“?

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  4. Hans E. schreibt:

    Ein Resüme von Betroffenenverbänden am Tag Verabschiedung des grundgesetzwidrigen Zwangsbehandlungs-Gesetzes, das unter anderem auch von Zinkler zu verhindertn versucht wurde:

    „Nun offensichtlich: Psychiatrie ist nackte Gewalt!

    Berlin, 17.1.2013: Das Bundesverfassungsgericht hatte 2011 mit zwei Beschlüssen Rechtssicherheit geschaffen, mit denen es festgestellt hat, dass psychiatrische Zwangsbehandlung zwar überall praktiziert wurde, es aber in den 63 Jahren seit Bestehen dieser Republik noch nie ein grundgesetzkonformes Gesetz gab, das sie hätte legalisieren können.
    In der Reaktion darauf, dass alle diese Gesetze immer grund- und menschenrechtlich illegal waren, hat die Psychiatrie nun offen sichtbar gemacht, dass sie tatsächlich nur ein Vergewaltigungssystem ist, das sich zur Täuschung der Öffentlichkeit in einem Helfermäntelchen versteckt hatte und sich angeblich immer gerade wieder reformiert habe. Diese falsche Fassade des “Helfens” und eines “reformerischen Fortschritts” konnte sie nun nicht mehr aufrecht erhalten, sondern musste ihr wahres Gesicht zeigen: ihre verbrecherische Gewaltfratze. […]“
    Weiterlesen → :
    http://www.zwangspsychiatrie.de/2013/01/nun-offensichtlich-psychiatrie-ist-nackte-gewalt/

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  5. Pingback: Da wurde Dr. med. Zinkler – Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Heidenheim – ganz höflich weggeräumt! | opablog

  6. VielFalter schreibt:

    20.06.2013: In Baden-Württemberg hat der Landtag mit den Stimmen aller Fraktionen mit der Neufassung des § 8 UBG die Zwangsbehandlung re-legalisiert (siehe auch http://www.zwangspsychiatrie.de/2013/06/der-landtag-von-baden-wurttemberg-hat-nun-bewiesen-dass-er-eine-menschenrechts-verbrecherbande-ist/ ) – der Zwangsbehandlungsparagraph war im Oktober 2011 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig und für nichtig erklärt worden (http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20111012_2bvr063311.html). Besonders perfide ist die Propaganda, mit der der Öffentlichkeit weisgemacht werden soll, dass „eine Behandlung künftig nur mit Einwilligung des Patienten möglich“ sei. (http://www.staatsanzeiger.de/politik-und-verwaltung/nachricht/artikel/zwangsbehandlung-wird-neu-geregelt/) – Die Haus- und Hofpresse titelt somit brav: „In der Psychiatrie keine Medikamente unter Zwang mehr“ oder auch: „Gesetz verbietet Zwangstherapie in der Psychiatrie“. (Schwäbisches Tagblatt) – Zahlreiche Erfahrungsberichte aus psychiatrischen Anstalten in Baden-Württemberg belegen, dass auch ohne gesetzliche Grundlage weiter zwangsbehandelt wurde. Das zuständige Sozialministerium unter Katrin Altpeter (SPD) wurde zwar immer wieder über Gesetzesverstöße und Menschenrechtsverletzungen informiert, sah regelmäßig jedoch keinen Handlungsbedarf…

    Nun dürfen sie also auch offiziell wieder foltern – ein sachverständiges Gutachten ist schnell zu bekommen und ob ein Gericht wirklich Zeitaufwand und Mühe auf sich nehmen wird, jeden Einzelfall genau zu prüfen und im Sinne der Betroffenen zu handeln und sie vor den Folgen unerwünschter Medikation und vor der traumatisierenden Erfahrung des massiven Eingriffs in die Persönlichkeit schützen wird, bleibt abzuwarten

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    • VielFalter schreibt:

      „Bei psychiatrischen Zwangsbehandlungen werden persönlichkeitsverändernde, psychiatrische Drogen, vor allem sogenannte Neuroleptika, gewaltsam verabreicht. Dies geschieht nicht nur dann, wenn jemand ausrastet und randaliert, sondern auch, wenn er sich weigert, diese Drogen freiwillig einzunehmen. Für die Verweigerung psychiatrischer Drogen gibt es viele gute Gründe. Neuroleptika verursachen, vor allem bei Dauerkonsum, unheilbare psychische und körperliche Dauerschäden. Gefürchtet sind vor allem sogenannte Spätdyskinesien – unheilbare, entstellende Bewegungsstörungen. Laut verschiedenen wissenschaftlichen Studien verkürzt sich die Lebenserwartung von Neuroleptikakonsumenten um bis zu 32 Jahre. Einer Hochrechnung des Bundesverbands Psychiatrieerfahrener (BPE) zur Folge sterben jährlich alleine in Deutschland bis zu 10000 Menschen an den Folgen psychiatrischer Behandlung. Laut psychiatrischer Lehrmeinung sind sogenannte “psychische Krankheiten” auf neurodegenerative Prozesse zurückzuführen. Gleichzeitig verordnen Psychiater aber zur “Behandlung” sogenannter “psychischer Krankheiten” Substanzen, die erwiesener Maßen eben genau diese neurodegenerativen Prozesse hervorrufen.“
      Quelle: http://www.meinungsverbrechen.de/?p=408

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