Als ich gestern von der Nützlichkeit alter Aufzeichnungen schrieb, habe ich eines nicht berücksichtigt: Sie ermöglichen es, wenn in ihnen Zukunftserwartungen formuliert sind, solide nachzuprüfen, wie es um die Treffsicherheit der Vorhersagen bestellt ist. Tatsächlich finden sich in meinem Eintrag vom 8. Februar 1990 meine politischen Zukunftsvorstellungen (und ich hätte das hier wohl nicht verlinkt, wenn ich nicht auf die Vorhersagegenauigkeit stolz wäre). Traue ich mir heute Zukunftsaussagen ähnlich hoher Treffsicherheit zu? Nein.
Nach großen politischen Schlachten (wie 1989/90), wenn fundamentale Fragen entschieden sind, ist Dank der Konzentriertheit der siegreichen Klassenkräfte und der Vereinfachung des politischen Kampffeldes die Perspektive eines oder zweier Jahrzehnte annähernd umrissen. Wer diese Konstellationen halbwegs richtig erkennt, hat eine gute Chance korrekte Zukunftsaussagen zu machen. Heute dagegen befinden wir uns am Anfang einer Systemkrise, manche (ich auch) sprechen bildlich sogar von einer Krisenkaskade. In einer solchen Situation sind Brüche, „jähe Wendungen“ (den Ausdruck liebte Honecker), Irritationen aller Art, einschließlich einer besonderen „Unzuverlässigkeit“ der politischen Akteure und ihrer Bündnisse an der Tagesordnung. Fast alles, selbst das schier Undenkbare, scheint möglich – da hat der Voraussager schlechte Karten (auf dennoch mögliche Voraussagen komme ich später einmal zurück).
Die Wulff-Affäre macht deutlich, daß nicht nur die Sicht auf die Zukunft ziemlich verstellt ist, sondern sogar die Gegenwart in dichtem Nebel liegt. Da uns die Steuermänner –und –frauen dieser anhaltenden Kampagne ihre Absichten nicht verraten, kommen wir nicht umhin, zu rätseln, zu spekulieren, oder sagen wir nüchterner: den Versuch einer politischen Einschätzung zu machen. Übrigens ist interessant (und nicht zufällig), daß von der in den bürgerlichen Politikbetrieb integrierten Partei die Linke, in letztgenannter Richtung rein gar nichts geleistet wird.
Offensichtlich stehen Fraktionen der herrschenden Klasse (einschließlich ihrer internationalen Verflechtung) in einem politischen Konkurrenzkampf. Um welche Alternativen bzw.Probleme geht es?
I. Deutschland, seit Jahrzehnten bedeutende imperialistische Regionalmacht, steht am Scheideweg: Eine deutsch-europäische Weltmacht könnte zum zwar weitgespannten aber dennoch verbindlich fixierten strategischen Ziel werden. Oder eben nicht, sondern dauerhafte Einordnung in den US amerikanischen Block und unter amerikanischer Führung den dort konzipierten Endkampf im Visier.
II. Die ökonomische Krise wird sich weiter vertiefen und auch Deutschland nicht verschonen. Das wird zu wachsender Unzufriedenheit im Innern und kann zu Militanz führen. Alles kann sich innerhalb kürzester Zeit zuspitzen und eskalieren bis hin zu schwersten politischen Erschütterungen.
III. Die kriegerischen Verwicklungen in der Welt wachsen. Auch diese Tendenzen können in kurzer Zeit massiv zunehmen und sogar außer Kontrolle geraten.
Was hier unter II. und III. steht, ist nicht Verschwörungstheorie, sondern empirische Praxis. Beide Felder will der deutsche Imperialismus aktiv (mit)gestalten. Ist er dazu bestmöglich gerüstet und strukturiert? Ich vermute, relevante Teile der Macht antworten darauf: Nein! Sind wir zum flüssigen Übergang in ein Ausnahmeregime in der Lage und können wir es problemlos zur langfristigen Normalität machen? Ich denke, auch in dieser Frage werden relevante Kräfte unzufrieden sein und Aktionsbedarf sehen. Vielleicht soll der bonapartistische Umbau (eventuell plebiszitär-demokratisch flankiert) auf die Tagesordnung.
Das Wühlen muß sich nicht vordergründig gegen Merkel richten. Sie hat fast alles richtig gemacht und manches sogar glänzend (Merkozy). Doch vielleicht sieht mancher Schwankungen (Nichtteilnahme Libyenkrieg, mangelnde Aggressivität gegen Iran), ein Zuviel an Elastizität (Atomausstieg, Mindestlohn) und wünscht sich eine härtere Hand. Oder meint man sogar der Gefahr einer Hybris der Merkel vorbauen zu müssen, dieser Ost-Frau, die so viele Paradepferde aus dem CDU/CSU-Stall kaltgestellt hat?